Europa und sein Hinterhof auf dem Balkan
Eine Bilanz des großen europäischen Friedenswerks

Seitdem der Nato-Bombenkrieg den Tito-Staat auf dem Balkan beseitigt hat, ist die Staatenwelt um eine Handvoll Kleinststaaten reicher, die die wohlwollende europäische Erziehungsdiktatur der „Heranführungs“-Methoden genießen. Angesichts der Aussicht auf eine neuerliche Osterweiterung um die Staaten des Westbalkan, denen die EU in Gestalt von Juncker seit neuestem eine glaubwürdige Beitrittsperspektive, dieses Mal sogar mit Datum, verspricht, lohnt sich ein Blick darauf, was das bekanntermaßen werte-beflissene, gutartig-zivile europäische Bündnis dort zustande gebracht hat.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Europa und sein Hinterhof auf dem Balkan
Eine Bilanz des großen europäischen Friedenswerks

In den 90er Jahren gerät Jugoslawien in den Brennpunkt des europäischen Interesses, nachdem Willy Brandt persönlich den beginnenden Bürgerkrieg zur Bewährungsprobe für die anvisierte Großmacht Europa erklärt hat.[1] Eine Woge von Humanismus und Anteilnahme am Geschick der von Betonkommunisten tyrannisierten Völker überflutet daraufhin die Öffentlichkeit.

I. Sternstunden des aufsteigenden EU-Imperialismus: Die Befreiung der Völker aus dem jugoslawischen Joch

Über ca. zehn Jahre hinweg entrüstet man sich über hauptsächlich serbische Gräueltaten, zerreißt sich vor Mitleid mit den gequälten Volksgruppen und begrüßt die Selbstbeauftragung der NATO zur Exekution eines neu konstruierten humanitären Völkerrechts. Der grüne Außenminister Joschka Fischer führt mit seiner epochemachenden Srebrenica-Rede seine Partei weg vom lähmenden Pazifismus hin zum Gutmenschen-Imperialismus europäischer Machart: Bei den serbischen Gewaltexzessen „kann man nicht wegschauen“, ausgerechnet wegen Auschwitz muss dort bombardiert werden.[2] Von vorneherein ist klar, dass es für die unterdrückten Völker nur eine Perspektive gibt, nämlich die, in die Staatenfamilie aufgenommen zu werden, die ihnen so heroisch zur Seite steht und Partizipation an Freiheit und Wohlstand verheißt. Nachdem in mehreren Etappen Jugoslawien endgültig zerlegt worden ist, werden die Spaltprodukte von ihrer neuen Völkerfamilie freudig begrüßt:

„Die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstützt. Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union. Die derzeitige Erweiterung und die Unterzeichnung des Vertrags von Athen im April 2003 sind für die westlichen Balkanstaaten Ansporn und Ermutigung, denselben erfolgreichen Weg zu beschreiten. Sie stehen nun vor einer großen Herausforderung: Sie müssen sich auf die Integration in die europäischen Strukturen, an deren Ende der Beitritt zur Europäischen Union steht, vorbereiten, indem sie die europäischen Normen übernehmen.“ (Gipfeltreffen EU – westliche Balkanstaaten, Thessaloniki, 21.6.03)

Wobei die Rede von der „großen Herausforderung“, die die geplante Integration bedeutet, schon ankündigt, dass die neue Einbindung nicht ganz ohne Strapazen vonstattengehen wird.

Seitdem sind die lieben Völker dann aber ziemlich schnell von den vorderen Plätzen der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden. Eine gewisse Beachtung finden sie meist nur noch dann, wenn sie wählen, vor allem, weil sie des Öfteren verkehrt wählen oder zu wählen drohen. „Verkehrt“, weil dort Parteien oder Figuren im Spiel sind, an denen Indizien für mangelnde Linientreue gegenüber der EU-Politik entdeckt werden. Und zweitens kommt der Westbalkan wieder ins Gespräch, weil sich ungebetene Mächte – Russland, China, die Türkei, Saudi-Arabien und andere mehr – dort blicken lassen, sich Einfluss auf unsere Einflusszone zu verschaffen suchen, und das auch noch mit einem gewissen Erfolg. Großmacht- und Interessenpolitik auf seinem Balkan kann das europäische Bündnis genauso wenig leiden wie Eigenmächtigkeiten von Kleinstaatenführern – auch eine Art, den Maßstab anzugeben, unter dem die Region allein Beachtung findet: Es ist der einer durchgängigen politischen Kontrolle über sie. Jetzt wird sie ja schließlich nicht mehr durch die Zentrale in Belgrad geknechtet, sondern von Brüssel mit europäischer Zivilisation vertraut gemacht.

Ein Besitzstand der EU, der sehr zu wünschen übriglässt

Kein Zweifel: Diese Länder sind eingereiht in die europäische Peripherie, entweder als Mitglieder oder in der langen Warteschleife der Heranführungsprozeduren, sie stehen politisch unter Aufsicht, zum Teil unter Zwangsverwaltung; militärisch sind sie ohnmächtig, zum Teil sind noch NATO-Kräfte stationiert, zum Teil sind sie in der NATO untergebracht; ökonomisch sind sie fast vollständig abhängig. Aber – das ist dem besorgten Blick auf die periodischen Wahlen, den die Wahlen öfter umgebenden Aufruhr und die lokale Anfälligkeit für fremde Einflüsse zu entnehmen: Es handelt sich dabei um einen problematischen, in gewisser Weise gefährdeten Besitzstand. Die Sache, viele schlecht bis gar nicht funktionierende Staaten, nimmt sich vom Standpunkt der imperialistischen Ambitionen des Bündnisses aus betrachtet als eine Ansammlung von Risiken für die im Prinzip feststehende Zuständigkeit aus, vor allem eben als mangelnde Zuverlässigkeit der Regierungen und der Parteienlandschaft. Das ist der zentrale Gesichtspunkt, unter dem die Herrschaften immer wieder mal ins Gerede kommen: Für die von der EU verlangte Stabilität einer soliden Peripherie leisten sie entschieden zu wenig, und damit sind dann auch schon die Hauptschuldigen für die unbefriedigende Lage genannt, so dass der einschlägige öffentliche Diskurs ganz gut ohne Überlegungen zur Rolle imperialer Gewalt bei der Herstellung dieser Mängelwesen auskommt.

II. Die Heranführung der Balkanstaaten an Marktwirtschaft & Demokratie

Vorgeschrieben ist der Weg der Balkanstaaten nach Europa durch die Kopenhagener Kriterien, die der Europäische Rat Juni 1993 als Leitlinien für die Aufnahme ins Bündnis aufstellt und die von einem Beitrittsland folgende Kulturleistungen verlangen:

„Stabile Institutionen als Garantie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten; eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten; die Fähigkeit, alle Pflichten der Mitgliedschaft – das heißt das gesamte Recht der EU (den sogenannten ‚Acquis communautaire‘) – zu übernehmen, und das Einverständnis mit den Zielen der Politischen Union sowie mit denen der Wirtschafts- und Währungsunion als das ‚Acquis-Kriterium‘.“ (Wikipedia, EU-Erweiterung 2004)

Eine starke Wirtschaft und politische Stabilität wie in den europäischen Vorbildnationen gibt es natürlich nicht zum Nulltarif. Ohne die Bereitschaft, ihr Staatswesen komplett der politischen Herrschaft der EU – ihren politischen Zielen, Herrschaftsmethoden, Rechtsvorschriften – zu unterwerfen und die überkommene Wirtschaft den Marktkräften des mächtigsten Blocks der Weltwirtschaft auszusetzen, geht es nicht. Mit ihr aber schon, und der Lohn der Anstrengung, da sind sich die Fachleute für gutes Regieren & Wachstum sicher, kann in den befreiten post-jugoslawischen Republiken gar nicht ausbleiben.

Ausgangsbedingung und dauerhaftes Ergebnis: Staaten mit einer „weggebrochenen“ industriellen Basis

Die Bertelsmann Stiftung beschreibt 2003 den serbischen „Entwicklungsstand“ – als habe der sich neben dem NATO-Krieg und einem jahrelangen Sanktionsregime naturwüchsig herausgebildet:

„Der Entwicklungsstand ermöglicht nicht allen Bürgern eine hinreichende freedom of choice. In Serbien war das BIP im Jahre 2000 im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent gefallen und das Pro-Kopf-Einkommen um fast 60 Prozent. Ein Drittel der serbischen Bevölkerung lebt in relativer Armut (weniger als 60 Dollar pro Monat und Person), und fast ein Fünftel in absoluter Armut (weniger als 20 Dollar). Eine große Gruppe hält sich gerade oberhalb der Armutsgrenze. Somit ist in Serbien die Armut zwischen den Jahren 1990 und 2000 dramatisch gestiegen.“ (Alles hier Aufgeführte gilt pars pro toto für die Westbalkanstaaten.)

Und 2016, gerade mal 13 Jahre unter fortwährender EU-Betreuung später, melden die Länderinformationen des Auswärtigen Amtes über Montenegro:

„Von der früheren sozialistischen Großindustrie befinden sich insbesondere die Metallindustrie, die Werften, die Holzverarbeitung und der Bergbau in einer schwierigen Lage. Einige dieser Unternehmen haben die Produktion eingestellt oder sind stark defizitär. Mit der Insolvenz des in den 1970er Jahren errichteten Aluminiumkombinats Podgorica (KAP) ist die industrielle Basis des Landes weitgehend weggebrochen.“ [3]

Die von der EU verlangte Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften standzuhalten, ist bezogen auf die Verfassung der Westbalkan-Staaten eher ein zynischer Witz: Was da an Industrie die Kriege und die Zerschlagung der innerjugoslawischen Arbeitsteilung durch die Gründung feindseliger Staatsgewalten überlebt hat, scheitert spätestens an der Konkurrenztüchtigkeit der auf dem Weltmarkt etablierten Kapitale, vor allem solcher aus den EU-Führungsnationen, an der sich die verbliebenen Betriebe jetzt schließlich zu messen haben und die sie gründlich ihrer mangelnden Rentabilität überführt. Und wo die jeweiligen Regierungen ihre verbliebenen Devisenbringer mit Staatsgeld über Wasser halten möchten, sehen sich EU und IWF dazu gezwungen, eigenhändig den „Wettbewerbsdruck“ auszuüben, dem ein moderner Betrieb nun einmal gewachsen sein muss, und auf rücksichtsloser Privatisierung zu bestehen. Schließlich haben die Neuankömmlinge im modernen Kapitalismus effizientes Wirtschaften zu lernen und sich ihre marktwidrigen Unsitten abzugewöhnen, wobei sich ziemlich regelmäßig erweist, wie wenig erfolgstüchtig diese Betriebe ohne Subventionen sind, so dass kein Weg daran vorbeiführt, den Großteil der überkommenen industriellen Potenzen stillzulegen.

Mit der verbreiteten Redeweise, nach der die industrielle Basis des Landes weitgehend weggebrochen ist, wird ein eklatanter ökonomischer Zusammenbruch registriert – der Rückfall industrialisierter Länder auf agrarische und Subsistenzwirtschaft ist ja nicht so übermäßig normal –, ohne irgendwelche Gründe und zuständige Subjekte kennen zu wollen. Was zu diesem Zusammenbruch geführt hat, ist für die Begutachter unerheblich und uninteressant; das ist nun einmal ein Teil der Herausforderung, mit der sich mehr oder weniger alle ex-jugoslawischen Republiken auf ihrem Weg in die EU herumzuschlagen haben.[4] Immerhin erlaubt die industrielle Brachlegung ja auch Geschäftskalkulationen ganz neuer Art: Für den Handel mit Schrott ist viel Stoff vorhanden, beliebt ist auch die Demontage von allem Kupferhaltigen im Eisenbahnwesen, mit gewissen Folgen für den Fahrbetrieb.

Inzwischen finden sich die von der jugoslawischen Unterdrückung emanzipierten Staatswesen politökonomisch festgeschrieben auf den Status von Ländern, die gerade einmal mit einem nationalen Billiglohn als Angebot an etwaige Anleger aufwarten können – wobei sie sich in einer lebhaften Konkurrenz mit allen ehemaligen sozialistischen Staaten befinden, die zumeist noch über etwas mehr an intakter Infrastruktur verfügen, so dass die Auslandsinvestitionen auf dem Balkan insgesamt sehr überschaubar ausfallen. Sicher, ein paar Naturschönheiten gibt es schon zu vermarkten, und die Tourismusindustrie tut, was sie kann; dennoch wachsen auf dem Westbalkan vor allem die Haushaltsdefizite. Als sich zum notorischen Minus, das die Balkanstaaten im Handel mit den EU-Staaten einfahren,[5] noch die Schäden im Zuge der Finanzkrise gesellen, verhindert die EU mit einem schönen Akt der Solidarität den Staatsbankrott samt unliebsamen Folgen für die politische Stabilität in ihrer Einflusszone:

„Die Europäische Kommission sah sich Mitte 2009 gezwungen, den Haushalt Serbiens mit 100 Millionen Euro zu alimentieren und weitere 150 Millionen Euro als Hilfen an die anderen Westbalkanstaaten zu verteilen. Ziel war es, die wirtschaftliche Erholung in der Region zu fördern und die sozialen Folgen der Krise zu lindern.“ (Dušan Reljić, a.a.O., S. 14 f.)

Dass es solche Nothilfen und überhaupt eine kontinuierliche Kreditierung durch EU und IWF braucht, da ist man sich in Berlin und Brüssel einig, kommt daher, dass die Westbalkanländer ihre Haushalte nicht in Ordnung bringen und die seit Jahren angemahnten Reformen verschleppen:

„Ob in Serbien Lehrern, Ärzten, Rentnern und anderen Beziehern staatlicher Einkommen in den nächsten Monaten noch planmäßig Gelder ausgezahlt werden, ist derzeit ungewiss. Im laufenden Jahr fehlen im Haushalt nach Berechnung der Weltbank etwa 3,5 Milliarden Euro, wenn alle vorgesehenen Ausgaben getätigt werden sollen. Das Budgetdefizit dürfte 7 anstatt der geplanten 4,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichen. Die Wirtschaft stagniert – es wird nur ein Jahreswachstum von 0,1 Prozent erwartet –, die Arbeitslosenrate hat die Marke von 25 Prozent überschritten und die öffentliche Auslandsverschuldung liegt mit 15,3 Milliarden Euro über dem gesetzlich zulässigen Grenzwert von 45 Prozent des BIP.
Dessen ungeachtet [sic!] hat die neue Regierung den Bürgern versprochen, dass sie den Gürtel nicht noch enger schnallen müssen. Weitere Entlassungen solle es nicht geben, weder Renten noch Gehälter würden eingefroren. Von neuen massiven Privatisierungen in der Energie-, Fernmelde- und Verkehrsinfrastruktur soll Abstand genommen werden. In der Konsequenz führt kein Weg am Kreditschalter des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderer westlicher Geldgeber vorbei.“ [6]

Angesichts solcher Unvernunft führt kein Weg daran vorbei, die Verfügung über die Geldschalter für energische Erziehungsmaßnahmen zu nutzen; und keine vier Jahre später findet sich ein Serbenführer, der die Lektion verstanden hat:

„Serbien streicht 14.500 Stellen im Staatsdienst... Vereinbarte Sparmaßnahmen mit IWF... Laut früheren Ankündigungen sollen im kommenden Jahr weitere 35 000 Stellen im öffentlichen Dienst, wo nun rund 500 000 Personen tätig sind, abgebaut werden. Gemäß der Sparpläne, die Serbien Ende 2014 mit dem IWF vereinbart hatte, waren Ende 2014 auch die Einkommen im öffentlichen Dienst und Pensionen zwischen zehn und 22 Prozent gesenkt worden.“ (Der Standard, 17.6.16)[7]

Aufgrund des großflächigen ökonomischen Kahlschlags, der Abwicklung von Industrie und kollektivierter Landwirtschaft, sowie defizitärer Haushalte müssen die Staaten selbstverständlich auch die Pflege ihrer Bevölkerung am Maß des Möglichen ausrichten:

„Montenegro kann bedingt durch die schwierige wirtschaftliche Lage die soziale Sicherheit schwer finanzieren... Die staatliche Versorgung durch Sozialhilfe reicht ... nicht aus, um ein Überleben zu sichern. Ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht, wenn das durchschnittliche Monatseinkommen des vergangenen Quartals folgende Beträge unterschreitet: Alleinstehende: 63,50 Euro, Paar: 76,20 Euro, Familie mit drei Mitgliedern: 91,50 Euro, Familie mit vier Mitgliedern: 108 Euro, Familie mit fünf oder mehr Mitgliedern: 120,70 Euro. Der auszuzahlende Satz beträgt im Regelfall lediglich die Hälfte des Bemessungsbetrages. Bei der Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens spielen aber auch die Schattenwirtschaft und die Unterstützung durch die Diaspora eine große Rolle. Schätzungsweise 500 000 Menschen montenegrinischer Abstammung leben im Ausland und unterstützen ihre Familien in der Heimatregion durch Transferzahlungen.“ (Montenegro. Allgemeine Lage, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2015)

Ein gewisses Überleben gelingt den Völkern durch das Abtauchen in Subsistenzwirtschaft oder indem die arbeitsfähigen Teile die europäischen Arbeitsmärkte bereichern; Überweisungen der Gastarbeiter bilden eine wesentliche Einkommensquelle der Bevölkerung und machen einen prozentual beachtlichen Posten in den – bescheidenen – nationalen Zahlungsbilanzen aus.

Angesichts der unterbemittelten Staatsfinanzen ergeht von Seiten der beaufsichtigenden Instanzen der EU regelmäßig der Auftrag, die viel zu große „Schattenwirtschaft“ zu finanziellen Diensten zu zwingen – einerseits ein klarer Fall von imperialistischer Verblödung. Was in einer akkumulierenden Ökonomie den Ausnahmetatbestand von „Schwarzarbeit“ erfüllt, weil am Fiskus vorbei gewirtschaftet wird, kennzeichnet in den meisten Balkangebieten schließlich die gesellschaftliche Reproduktion insgesamt: Wo die ökonomische Basis finanzielle Beiträge gar nicht hergibt, weil größere Volksteile sich nur per Subsistenz über Wasser halten; wo das illegale Geschäftsleben gerade darauf basiert, dass es Umsätze und Einkommen am Staat vorbeischleust, würde dessen Zugriff per Steuern, Zöllen, Sozialabgaben das Geschäft nur lahmlegen, was im Übrigen die Staatsfiguren, unter deren privater Protektion es zumeist stattfindet, zu verhindern wissen. An dieser systemimmanenten Untauglichkeit der gesellschaftlichen Reproduktion für steuerliche Zugriffe laufen die Beschwerden der EU-Kontrolleure regelmäßig auf – ohne dass sie darauf verzichten würden, die Staaten auf den Standpunkt des Geldeintreibens zu verpflichten. Und das ist andererseits ja auch nur konsequent. Denn es ist ja die EU, die auch für die Balkanvölker die marktwirtschaftlich ordnungsgemäße Reihenfolge von kapitalistischem Wirtschaften, einem daraus zu speisenden obrigkeitlichen Haushalt und dem zum Abfallprodukt beider erklärten Lebensunterhalt des Volkes zum verbindlichen Prinzip erklärt. Also passt sie darauf auf, dass diese Prämisse auch dann eingehalten wird, wenn sie für die dort involvierten Instanzen und Subjekte unproduktiv bis ruinös ist.

Nicht nur das Steuerwesen auf dem Balkan stellt die berufenen Aufseher wenig zufrieden; auch in puncto Erwerbstätigkeit und Einkommen bleibt viel zu wünschen übrig. Fortschrittsbericht für Fortschrittsbericht wird die landesübliche Armut gründlich besichtigt und statistisch aufbereitet. Zwar könnte sogar ein EU-Kommissar bemerken, dass eine Arbeitslosenquote von 56 % keineswegs zum Ausdruck bringt, dass es hier (immer noch) an Erwerbsarbeit fehlt und für den Arbeitsminister noch viel zu tun ist, sondern dass Arbeitslosigkeit die Regel ist und das amtliche Zahlenwerk an der eigentümlichen Qualität dieser Sorte Armut komplett vorbeigeht – in dieser Gegend gibt es flächendeckend keine kapitalistisch lohnende Produktionssphäre, und die reichlichen Armen fungieren nicht einmal als Reservearmee, jedenfalls nicht in ihrer Heimat. Für die EU-Aufseher aber dient das wiederum nur als Beleg für die schlechte Wirtschaftspolitik des Staates.

Die Beschwerden der EU über die auf dem Balkan grassierenden Übel, Verbrechen und Korruption, bilden auf ihre Art eine Bilanz der Heranführung an Europa. Wo es kaum eine ökonomische Basis zum Leben gibt, bleiben im Wesentlichen nur die Alternativen, das Land zu verlassen oder sich mit kriminellen Gewerben durchzuschlagen.[8]

III. Das politische Ergebnis: Failed states, die aber nicht so genannt werden dürfen

Die innere Verfassung der Staaten ist zwar bestimmt durch unversöhnliche Gegensätze zwischen den zu ihrem Glück in einer Nation vereinten diversen nationalen Kollektiven – Serben, Kroaten, Bosniern, Albanern –, durch Regierungen mit besten Verbindungen zur organisierten Kriminalität und organisierte Kriminalität, die sich Regierungen kauft. Insofern sie aber in der EU untergebracht oder auf dem Weg dahin als europäische Peripherie eingemeindet sind, gilt für sie die offizielle, mittlerweile schon seit Jahren bewährte Lebenslüge der EU, dass all die misslichen Verhältnisse, die ja nicht unbekannt sind, unter die Kategorie „vorübergehende Anpassungsprobleme“ fallen, deren Bewältigung demnächst irgendwann gar nicht ausbleiben kann.

Die Eigenart der westlich betreuten Staatsgründungen: ethnisch sortierte oder durchmischte Kleinststaaten, in inniger Feindschaft verbunden

Erst Deutschland, dann die EU und das NATO-Militärbündnis haben ohne jeden Skrupel die völkischen Standpunkte der Slowenen und Kroaten gegen die serbische Dominanz und die Anhänger des Tito-Staats bekräftigt und aufgestachelt; die waren ja perfekt dazu geeignet, den für die europäischen Ambitionen viel zu gewichtigen und eigenwilligen Gesamtstaat Jugoslawien aufzulösen. Der soll in handliche, absolut abhängige und hörige Kleinstaaten zerlegt werden, denen zugleich der Bescheid erteilt wird, wie weit ihr Sezessionswille gehen darf – bis zur Gründung von völkischen Staaten nach ihrem Gusto auf keinen Fall. Da werden die einen zum Respekt vor den überkommenen Republiksgrenzen verdonnert und andere dazu, einen gemeinsamen Staat in den durch den NATO-Krieg gezogenen neuen Grenzen zu gründen und das friedliche Zusammenleben mit dem Kriegsgegner zu üben.

Die sogenannten „Fortschrittsberichte“ der EU registrieren periodisch unter dem Titel Aussöhnung, regionale Zusammenarbeit und bilaterale Fragen im westlichen Balkan ... bedeutende Fortschritte bei der Verbesserung der Stabilität und der regionalen Zusammenarbeit, um ebenso periodisch zu konstatieren:

„Eine Reihe von Fragen, die auf Konflikte in der Region zurückgehen, bleiben jedoch noch ungelöst und beeinträchtigen sowohl das Funktionieren der Staaten selbst als auch die Beziehungen der Staaten untereinander. Die EU arbeitet mit den verschiedenen Parteien in der Region zusammen, um diese Altlasten abzubauen... Fortschritte bei der Aussöhnung sind ein zentrales Element für die Stabilität im Kosovo... Die EU [ist] bereit, einen Prozess des Dialogs zwischen Pristina und Belgrad zu unterstützen, um die Zusammenarbeit voranzubringen, Fortschritte auf dem Weg in die EU zu erzielen und die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Fortschritte bei der Aussöhnung sind auch in Bosnien und Herzegowina unverzichtbar, nicht zuletzt für das reibungslose Funktionieren des Staates. Wichtig für die Aussöhnung sind die uneingeschränkte Umsetzung des Abkommens von Ohrid in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, die Achtung und der Schutz ethnischer Minderheiten in der gesamten Region, die Flüchtlingsrückkehr und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sowie die ordnungsgemäße Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen in Fällen inländischer Kriegsverbrechen.“ [9]

Was hier unter dem Stichwort „politische Altlasten“ an unversöhnlichen politischen Feindschaften und Ansprüchen ausgeräumt werden soll, stellt die Sache ziemlich auf den Kopf. Immerhin war ja die entschiedene Parteinahme für die missachteten nationalen Rechte der Slowenen und Kroaten und die politische Rückendeckung für völkischen Separatismus von außen vonnöten, bis aus den alten Konflikten in der Region veritable Bürgerkriege geworden sind. Und man muss schon vergessen, wer die völkischen Standpunkte erst angefeuert, dann gebremst und unter seine Diktate in Sachen Anerkennung der Grenzen, nationale Versöhnung und gute Nachbarschaft gebeugt hat, um dem Tito-Staat die Schuld an den aktuellen Zuständen auf dem Balkan in die Schuhe zu schieben, wo berufene ethnische Führer sich mit lauter Streitfragen in Sachen Territorium und Volk traktieren.[10]

Zum Zweck der sogenannten „Aussöhnung“ verlangt die EU die Auslieferung von „Kriegsverbrechern“, bei der sie – so viel ist sie ihrem Ethos als zivilisatorischer Erziehungshelfer schuldig – zugleich darauf besteht, dass sie „freiwillig“ erfolgt. Sie nimmt den Standpunkt des überlegenen Rechts ein, der dem Sieger zusteht, und definiert den kriegerischen Nationalismus, der ihr zur Zerstörung des jugoslawischen Zentralstaats recht war, aus der höheren Perspektive des nunmehr verlangten, europäisch regierten stabilen Zusammenlebens der Balkannationen zu einem nicht hinzunehmenden Unrecht um. Qua Kriminalisierung der Helden – in erster Linie natürlich der serbischen, aber auch prominente Exemplare der anderen Völker werden nach Den Haag bestellt – soll die Unter- und Einordnung der nationalen Räson unter die EU-Friedensordnung für den Westbalkan vonstattengehen. Deswegen müssen die Schauprozesse in Den Haag unbedingt sein. Dass das zugleich verordnete friedliche Zusammenleben der Ethnien durch die Anklagen und Urteile immer wieder heftig strapaziert wird, darf da nicht zählen. Die Völker müssen lernen, die weltöffentliche Verurteilung ihrer nationalen Helden als Menschheitsverbrecher hinzunehmen.[11]

Unter dem Titel soziale Inklusion begutachtet die EU die härtesten Gewaltfragen vor Ort, die sich als Resultat des Kriegs auf dem Balkan bleibend eingestellt haben. Unversöhnlich einander gegenüberstehende nationale Vereine – der Fischer Weltalmanach listet fein säuberlich die prozentualen Anteile der verfeindeten Ethnien als wichtige nationale Kennziffer für jeden Balkan-Staat auf – samt Minderheiten wie den Roma, die nur noch als unverstaute Armut existieren und den Pogromen der neuen Nationalisten ausgesetzt sind, sollen zu braven Staatsvölkern vereint werden. Zu den „Inklusionsaufgaben“ gehören auch die Kriegsflüchtlinge, deren Rückkehr die EU betreibt, sowie die daraus neu entstehenden ungeklärten Rechts- und Eigentumsfragen. Kroaten müssen zum Zusammenleben mit anderen Ethnien gezwungen werden, denen ihre herzliche Verachtung gilt, und natürlich auch zur friedlichen nationalen Koexistenz mit den Serben, die man gestern noch mit aller Gewalt als Fremdkörper in einem ethnisch reinen kroatischen Staat bekämpft hat: Wiederansiedlung der Vertriebenen muss sein und verläuft so harmonisch, wie es nach Lage der Dinge zu erwarten ist.

Serbien, um etliche Provinzen und eng verbundene Republiken kleiner gemacht, wird bis heute mit Forderungen zur Anerkennung des Kosovo traktiert; nach jahrelanger Isolation als ehemaliger Feindstaat wird ihm eine solche nachgereichte Kapitulationserklärung als besondere Vorbedingung zur Erlangung von EU-Reife abverlangt. Von den Schutzmächten geduldet wird zwar eine Grauzone, in der der serbische Staat seine Zuständigkeit für die Volksgenossen im Kosovo aufrechterhält und materiell unterfüttert; gleichzeitig aber verlangt man von der serbischen Regierung, im Zuge der konstruktiven Bewältigung der lebenspraktischen Fragen, an der sie im Namen ihrer serbischen Brüder unter kosovarischer Herrschaft interessiert sein soll, von ihrer völkerrechtlichen Position abzurücken. Sicherheitshalber steht die Kosovo Force der NATO (Kfor) bis heute im Nordkosovo und hindert Kosovaren und Serben daran, sich totzuschlagen, bzw. die jeweiligen Staatsgewalten daran, wieder zu Militäraktionen überzugehen. Pläne zur Verminderung der Truppe werden angesichts aufflackernder Gewalttätigkeiten immer wieder zurückgestellt.

Im Fall Mazedonien haben der Bombenkrieg der NATO gegen Serbien und die umfassenden Sanktionen den eigentlich sezessionsunwilligen Präsidenten von der Notwendigkeit überzeugt, sich besser von Miloševićs Rest-Jugoslawien zu verabschieden, um nicht zusammen mit der Belgrader Führung unterzugehen. Daraufhin entdeckt die albanische Minderheit, ermuntert durch die Protektion der westlichen Schutzmächte, die die kosovarischen Albaner genießen, die Gelegenheit, sich für ihre Rechte bzw. die Gründung eines Großalbanien aufzustellen, was ihr zwar von der NATO verboten wird, aber immerhin zu einem politischen Status in Mazedonien verhilft, der für laufende Machtkämpfe taugt. Bzw. zum Hebel für den Aufstieg Albaniens zur Schutzmacht in den innermazedonischen Machtkämpfen, immerhin ein kleiner Schritt Tiranas zur Verwirklichung des Wunschtraums von der Gründung eines größeren Albanien.

Bosnien und Herzegowina (BiH) stellt gewissermaßen das größte Kunststück in der Reihe der NATO-Staatsgründungen dar, eine aus durch und durch negativen Gründen erfolgte Staatsgründung: Es besteht staatsrechtlich aus der Einheit von zwei Ethnien, die sich nicht mit ihrer Titularnation zusammenschließen dürfen, und einer dritten, der größten Ethnie, die wiederum die Macht in ihrem Staat mit den beiden andern teilen soll. Dem zunächst – gegen Serbien – ins Recht gesetzten kroatischen Nationalismus wird untersagt, sich auf Kosten von Bosnien zu vergrößern, den bosnischen Serben, sich an ihre Brüder anzuschließen; [12] die Rechte der moslemischen Bosniaken enden an den Rechten der beiden anderen Parteien. Die nationalen Vertreter mussten immerhin drei Wochen lang in der martialischen Kulisse einer amerikanischen Luftwaffenbasis bei Dayton zusammengesperrt werden, bis sie mürbe genug waren, um das Konstrukt zu unterschreiben. Dem Staatsgründungsprinzip, den Nationalismus nicht zu saturieren, sondern zu bremsen und in das in Dayton konstruierte Machtgefüge einzuordnen, verdankt sich aber auch das nicht enden wollende Leiden der Aufsichtsmächte. Selbst mit jahrelangen wechselnden Erpressungsversuchen gelingt es ihnen nicht, ihrem Geschöpf eine Verfassungsreform zwecks gesamtstaatlichem Funktionieren aufzuzwingen.[13]

Das Produkt dieser Friedensstiftung besteht in einer dauerhaften Okkupation, bei der alle Prozesse, angefangen bei der Annahme neuer Gesetze über die Einführung neuer Institutionen oder die Durchsetzung von Reformen bis hin zur Einsetzung oder Absetzung von Amtsträgern, ... von der ‚internationalen Gemeinschaft‘, verkörpert von der Person des Hohen Repräsentanten des UN-Generalsekretärs, angestoßen, durchgeführt oder zumindest streng beaufsichtigt (ebd.) werden müssen. Betätigt sich aber der Hohe Repräsentant in seiner Funktion, widerspricht er dem Ziel der autonomen Unterwerfung. Betätigt er sich nicht, kommt überhaupt kein Staatswille zustande.[14] Dass BiH nur durch ein auswärtiges Machtwort zusammengehalten wird, tritt umso klarer zutage, je weniger von irgendeinem Lohn der Unterwerfung, den oft beschworenen „Fortschritten“, die Rede sein kann. Viele Jahre „Heranführungspolitik“ haben einen Niedergang der ‚Wirtschaft‘, die Herstellung katastrophaler Lebensverhältnisse bewirkt. Eine Beschwichtigung durch Geld kommt aber nicht in Frage, die Zusage und das Vorenthalten von finanziellen Mitteln ist ja das entscheidende Machtmittel der EU gegenüber den Parteien.[15]

Wahlen: Instrument der Durchsetzung von Partikularinteressen, Unterdrückung anderer Volksgruppen, Abspaltung

Das demokratische Verfahren der Wahlen dient unter diesen Verhältnissen zur Ermächtigung von Separat-Interessen gegen die anderen: Parteien sind Sammelbecken ethnischer Gruppen oder Minderheiten, die darum kämpfen, für die Durchsetzung ihrer Anliegen politische Macht zu erringen; dazu kommen klassische Klientel-Parteien wie die der Rentner oder Kriegsveteranen [16]; den Dienst des in politische Alternativen eingekleideten Transmissionsriemens eines allgemeinen, gesamtstaatlichen Interesses lassen diese Parteien vermissen.

Wahlen in Bosnien erbringen grundsätzlich nicht die Leistung, die von der EU verlangt ist, nämlich so etwas wie die rechtsförmliche Herstellung eines föderalen Gesamtstaats, auf den sich die gewählten Parteien auf Dauer gesehen einlassen. Stattdessen lassen sich die Vertreter der miteinander unverträglichen völkischen Standpunkte zur Durchsetzung ihrer Interessen ermächtigen, so dass man nach der Wahl so weit ist wie vorher. BiH ist sicherlich der extremste Fall, die anderen Republiken funktionieren aber nicht wesentlich anders, der Wahlprozess führt nicht zur Befriedung der politischen Konkurrenz. Wenn – wie in Mazedonien – eine allgemein anerkannte Staatsräson gar nicht existiert, sondern deren mindestens drei – dann taugen die Wahlen auch nicht als Mittel zur Herstellung eines geregelten Verkehrs von Regierung und Opposition: 2017 ist das monatelange Patt, bei dem sich zwar das oppositionelle Parteienbündnis eine Stimmenmehrheit verschafft hat, aber vom Staatspräsidenten als verfassungswidrig abgelehnt wird, nur durch amerikanisch-europäische Machtworte zugunsten einer Partei entschieden worden. Entsprechend sieht dann auch die parlamentarische Arbeit aus, die immer wieder einmal von der unterlegenen Partei boykottiert wird. Woanders kämpfen sich andere unversöhnliche politische Alternativen aneinander ab, von denen die eine Hälfte auf die Bekundung absoluter Linientreue in Richtung EU und NATO setzt, in der Hoffnung, sich damit eine bessere Behandlung zu verdienen, wie Đjukanović in Montenegro, während sich die andere Hälfte mit ihrem Anhang gegen den Eintritt in die NATO sperrt – dass Montenegro damals quasi als Einladung zur Sezession von Serbien auch ein Stück Bombenkrieg abbekommen hat, ist ja noch nicht so lange her. Der Wahlsieg von Đukanović ist dann auch nur durch die tatkräftige Nachhilfe der USA und einen inszenierten Operettenputsch zustande gekommen. Auch andere Parteien bestehen auf Demonstrationen des Willens zu nationaler Selbstbehauptung, betreiben Wahlpropaganda mit dezidierten Anti-EU-Parolen, wie Šešelj in Serbien oder Kurtti im Kosovo, oder sie blockieren die parlamentarische Arbeit.

Da kommen die europäischen Berater durchaus schon einmal zu dem offenherzigen Bekenntnis, dass das Wählen-Lassen dort einfach nicht das passende Mittel ist und die verkorksten Staatsgebilde im Prinzip von außen regiert werden müssten. Peter Vanhoutte, als EU-Vermittler zur Entscheidung der Regierungskrise nach Mazedonien entsandt:

„‚Doch Mazedonien sei nicht bereit für Wahlen‘, sagte Peter Vanhoutte. ‚In dieser Phase werden Wahlen nichts lösen, sondern die Krise nur noch weiter verschlimmern.‘ Fehlende Pressefreiheit und keine politisch ausgewogene Berichterstattung seien die zwei Hauptgründe dafür, warum ‚die Wahlen aktuell keine gute Idee‘ seien, so Vanhoutte. ‚Hinzu kommt, dass die Partei und der Staat komplett miteinander verwoben sind, was es unmöglich macht, freie und faire Wahlen abzuhalten, bei denen gleiche Bedingungen für alle Parteien gelten.‘“ (DW, 28.3.16)

Gewaltenteilung und Rechtsstaat – Fehlanzeige

Die EU verlangt von ihren Schützlingen auf dem Weg nach Europa prinzipiell Rechtsstaatlichkeit nach dem Muster der großen Modelldemokratien: die Herstellung der inneren Souveränität des Staats gegenüber der Gesellschaft, die Sicherung der Hoheit der öffentlichen Gewalt über die private nach den Prinzipien: Schutz von Person und Eigentum, Trennung von Amt und Person sowie eine nicht parteigebundene Rechtspflege. Europa geht davon aus, dass mit der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit auch die Funktionsfähigkeit des Staatswesens gesichert ist – genau das vermissen die EU-Aufseher aber mit großer Regelmäßigkeit. Dass es für die Durchsetzung und Behauptung des Gewaltmonopols auch erhebliche Mittel braucht, die die Gesellschaft hergeben muss, sieht man in Brüssel schon auch, aber eben umgekehrt: Zuerst eine funktionierende Herrschaft, die zuverlässig Steuern einkassiert, dann ...

In den Westbalkan-Staaten liegt aber das schöne Komplementaritätsverhältnis von Staat und Gesellschaft mit affirmativem Bezug der Konkurrenzbürger auf die Herrschaft, wie man es in Brüssel gewohnt ist, nicht vor, sondern ein gleichgültiges bis feindliches: Es hapert bei den Einkommensquellen, und zwar in allen Klassen. Von Kapital in dem Sinne ist nicht viel zu sehen, also ist auch Lohnarbeit keine verfügbare Einkommensquelle. Wo die ökonomische Basis keine Revenue hergibt, größere Volksteile per Subsistenz ihr Leben fristen, sich Posten und Renten erschwindeln und/oder erkaufen, wo das Geschäftsleben überwiegend illegal stattfindet, die Bereicherung darauf basiert, dass sie an Staat und Gesetz vorbei betrieben wird, verläuft summa summarum die Wirtschaftstätigkeit getrennt vom Projekt des Zentralstaats und im Zweifelsfall gegen ihn. Und auf der anderen Seite fungiert die öffentliche Gewalt selbst als Haupteinkommensquelle. Weil die Ökonomie den Staat nicht gescheit ernährt und der Staat nicht seine Funktionäre, wird jede Amtsfunktion zur Quelle von Einkünften für die unteren Chargen und der Besitz der Staatsgewalt zur Pfründe der oberen. Die besetzen den Apparat mit dem eigenen Clan, zapfen Mittel des Staates für den privaten Nutzen an, nützen ihre Entscheidungshoheit über die angeordneten Privatisierungen, verkaufen Posten und belohnen Anhänger mit fiktiven Rentenberechtigungen usw.

Stattdessen „Korruption“

Auch der Titel „Korruption“, mit dem die EU die Zustände belegt, deren Bekämpfung sie mit zunehmender Erbitterung verlangt, ist leicht irreführend. Was in den erfolgreichen Demokratien die Ausnahme von der Regel des rechtsstaatlich eingezäunten Erwerbslebens bildet, ist auf dem Balkan die Regel. Als unmittelbare Einkommensquelle für die Machthaber und die politische Klasse hat die Staatsmacht den Charakter privatisierter Gewalt, was die jeweils herrschende Clique rigoros praktiziert, auch in der Handhabung ihrer nicht übermäßig geteilten Gewalten. Eine unabhängige Justiz, eine unabhängige öffentliche Verwaltung, unabhängige Polizei etc. sind da von Haus aus nicht zu haben, weshalb auch die von der EU mittlerweile zur Hauptaufgabe erklärte Korruptionsbekämpfung nicht von der Stelle kommt.[17]

Da die öffentliche Verwaltung inklusive Justiz in den Westbalkan-Staaten als Hauptarbeitgeber figuriert, die Postenbesetzung ein entscheidendes Machtmittel der jeweils regierenden Partei darstellt, läuft die Forderung der EU nach konsequenter Verfolgung und Verurteilung von Korruption auf die Forderung nach Entmachtung der Machthaber und ihrer Anhänger hinaus – und trifft dementsprechend auf den hartnäckigen hinhaltenden Widerstand der Politik und ihrer Funktionäre. Die gewählten Machthaber vor Ort unterschreiben zwar entsprechende Gesetze, weil davon ja auch die benötigten EU-Gelder abhängig gemacht werden – die werden aber nicht im EU-Sinn exekutiert. Oder im Sinne der EU abgewickelte Gerichtsverfahren bleiben wirkungslos, weil das Gericht nicht über die Macht verfügt, sein Urteil polizeilich geltend zu machen. Der Chef der serbischen Entität in Bosnien, Dodik, erscheint nicht vor dem bosnischen Verfassungsgericht, das über seine Amtsenthebung entscheiden will, und diese Missachtung des Gerichts bleibt folgenlos.[18] In Mazedonien weigert sich der Präsident, das Parlament aufzulösen, um eine neue Regierungskoalition zu ermöglichen – wozu ihn dann nicht der Rechtsstaat, sondern nur das Eingreifen der USA zwingt.

Kreative Formen von Rechtsexport

Die wachsende Verärgerung der EU über ihre westbalkanischen Staatsprojekte hat sich in ihrer neueren Diagnose state capture niedergeschlagen: Dubiose Kräfte sollen den Staatsapparat gefangen halten. Die dortige Herrschaft wird also zunehmend selber als das eigentliche Hindernis für die Herstellung von EU-Konformität ins Auge gefasst, womit die EU auf ihre Weise der Tatsache Rechnung trägt, dass die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse eine von diesen getrennte Staatsgewalt und damit das Funktionieren einer „unabhängigen“ Justiz gar nicht hergeben. Die Kriterien für die Herstellung von EU-Reife werden daher mittlerweile ganz anders gewichtet: So sind heute die Maßnahmen zur „Heranführung“ im Rahmen des IPA (Instrument for Pre-accession Assistance), die mit Geldern der EU ausgestattet werden, ausschließlich für den Umbau der staatlichen Institutionen im Namen der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit bestimmt, während die Herstellung von ökonomischer Tauglichkeit der Kandidaten ziemlich in den Hintergrund geraten ist.

Bosnien und Herzegowina wird mittlerweile offiziell als Verbrecherstaat gewertet, der die elementaren Ordnungsleistungen nicht erbringt, die ‚wir‘ von ihm erwarten.[19] Daher findet auch ein anderer Fortgang in Sachen ‚Nation-Building‘ statt: Die EU exportiert in Form von EU-‚Beratern‘, ausländischen Richtern und Polizisten ihre eigenen Rechtsinstanzen. Woanders macht sie sich die Staatsverfassung der Beitrittskandidaten selber zur Reformaufgabe und besteht im Kampf mit den renitent reformunwilligen Staatswesen auf der Einrichtung eines Rechtsapparats getrennt von den Regierungen und gegen deren Willen. Der mazedonischen Regierung z.B. „empfiehlt“ die Kommission:

„Um die Unabhängigkeit und im Besonderen die Abwesenheit von politischem Einfluss auf Strafverfolgungen und gerichtliche Entscheidungsfindungen zu sichern, sollte die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten entpolitisiert werden. Einstellung und Beförderung sollten vom Rat der Richter und dem Rat der Staatsanwälte im Einklang mit transparenten, objektiven und grundsätzlich leistungsabhängigen Kriterien vorgenommen werden, mit Hilfe transparenter Verfahren, die nicht einfach nach internen Regeln, sondern per Gesetz festgelegt werden sollen, in Übereinstimmung mit den Empfehlungen aus dem Bericht der Venedig-Kommission über die Ernennung von Richtern und die richterliche Unabhängigkeit... Verbindungen zu oder Unterstützung durch Politik oder Parteien sollten in keiner Weise als Kriterien für die Auswahl wirksam werden können.“ [20]

Hier soll sich das ganze Verfahren der Ämtervergabe so ändern, dass damit ein Umbau des bisherigen Staatswesens einhergeht. Der gesamte Verwaltungsapparat soll nicht mehr nach Parteibuch, sondern explizit mit Personal außerhalb der politischen Klasse besetzt und neu installiert werden. Auf diese Weise soll dieser Unterbau des Staates „entpolitisiert“, d.h. dem politischen Zugriff der Regierung entzogen werden. Das bedeutet dann auch, dass ein Haufen Leute, die bis jetzt diese Ämter bekleiden – nicht nur Richter und Staatsanwälte, das Programm betrifft die gesamte Hierarchie der öffentlichen Verwaltung –, aus dem Staatsdienst entlassen wird. Bis zur Messung von Korruptheitsgraden gibt die EU hier vor, wie dieses Entlassungsprogramm durchzuführen ist – und trifft damit wiederum auf den Widerstand der politischen Funktionsträger, die nicht einsehen, warum sie mit dem Einsatz „neutraler“ Amtsinhaber den eigenen Machtverlust in die Wege leiten sollen.

Als Ergänzung bringt die EU dann noch das Instrument Zivilgesellschaft zum Einsatz: Die wird zunehmend als die einzige zuverlässige Kontroll-Instanz gegenüber der politischen Herrschaft ins Auge gefasst, auch wenn diese durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen ist. Der taktische Umgang der politischen Macht mit den EU-Vorgaben soll so ein Ende haben, und dafür bekommen die NGOs dann auch EU-Gelder. Eine Öffentlichkeit muss her, die „transparent“ berichtet, wie korrupt es in der Politik zugeht, die damit Massen-Demonstrationen auf die Füße stellt und sich als Gegengewicht aufbaut gegen den politischen Unwillen der gewählten Politiker, sich selbst aus dem Verkehr zu ziehen. Angesichts der wenig lebenswerten Umstände lassen sich dafür zumeist auch mühelos genügend Kräfte finden, die nicht verstehen, wieso ihre Regenten nicht Europa-ähnliche Lebensbedingungen stiften und sich das mit dem Generalschlüssel „Korruption“ erklären. Damit wäre dann ein weiterer Spaltpilz in den Gesellschaften etabliert.

Es ist nicht gerade wenig, was Europa seinen balkanischen Geschöpfen abverlangt: Um den Maßstäben eines ordentlichen Mitglieds bzw. Beitrittskandidaten gerecht zu werden, soll sich der herrschende Nationalismus als rechtsstaatswidriges Verhalten begreifen und selbst aus dem Weg räumen. Worauf die EU bei solcherlei Anstrengungen zur Zivilisierung dieser Staatenwelt als dauerhaftes Ärgernis und Hindernis stößt, ist also letztlich nichts anderes als deren Souveränität.[21]

*

Die EU schlägt sich mittlerweile hauptseitig bis ausschließlich mit dem Problem herum, dass die Staaten in ihrer südosteuropäischen Einflusszone die verlangten fundamentalen politischen Leistungen schuldig bleiben – von der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, das in diesen Armutsstaaten eine ziemlich ausgedehnte Bereicherungsquelle geworden ist, bis zur Beaufsichtigung ihrer Hungerleider, die am Abhauen gehindert werden müssen.

Daher gestaltet sich die „Heranführung“ als ein immer gründlicher und komplizierter werdendes Verfahren mit unzähligen Kapiteln, die immerzu „aufgeschlagen“ werden oder auch nicht. Diese methodische Verlängerung des Beitrittsverfahrens drückt den zunehmend sichtbar werdenden Unwillen aus, den Ländern überhaupt noch den Beitritt in einem irgendwie absehbaren Zeitrahmen in Aussicht zu stellen. Die europäische Methodik der Konditionalitäten-Politik bekommt den Charakter eines expliziten und prinzipiellen Vorbehalts, der als ein einziges großes „Aber“ gegen die Staaten in Anschlag gebracht wird – siehe die Fortschrittsberichte, die jeweils erst irgendwelche erzielten „Fortschritte“ auf dem Balkan loben, die im Weiteren „aber“ durch die lange Reihe immer noch zu lösender Probleme dementiert werden.

Zwischenzeitlich stellt die Finanzkrise das ganze Erweiterungsprojekt in Frage: Ihre Bewältigung gerät zu einer ernsten Belastungsprobe für den Zusammenhalt im europäischen Bündnis, in dem die beteiligten Partner ihren nationalen Nutzen ohnehin immer weniger aufgehoben sehen. Die schon länger bestehenden Ressentiments gegenüber den von Deutschland durchgesetzten Osterweiterungen sowie die Zweifel daran, wozu die Eingemeindung ausgerechnet dieser problembeladenen Staatskonstrukte auf dem Balkan überhaupt gut sein soll, wachsen sich in den Jahren 2008 ff. zu einer sogenannten „Erweiterungsmüdigkeit“ aus, die der EU-Chef nach Kräften zu besänftigen sucht: Juncker verspricht bei seinem Amtsantritt keine zusätzlichen Belastungen durch die Aufnahme weiterer Staaten. Der Aussicht, diesen Kandidaten ernstlich die Rechte von Mitgliedern zuzugestehen, kann mittlerweile keiner der Alt-Europäer mehr etwas abgewinnen. Auf die Arrondierung ihrer Zuständigkeit auf dem Balkan wollen sie aber genauso wenig verzichten. Da die Aussicht auf Beitritt dann doch eines der wenigen Disziplinierungsmittel ist, über das sie verfügen, wird der in die luftige Höhe einer Perspektive verlagert, und die wird dann den Kandidaten ein ums andere Mal mit großer Nachdrücklichkeit versprochen.

IV. Das Eindringen destruktiver Kräfte in unseren Balkan und die Karriere der Staaten zu einem Sicherheitsproblem Europas

Internationales Verbrechen, Terrorismus und Flüchtlingskrise

Im Zuge ihres Verfalls werden die Westbalkanländer schließlich noch in anderer Hinsicht zu Problemfällen: Sie werden als Standort, Rückzugsgebiet und Durchgangskanal fürs internationale Verbrechen identifiziert, wobei auch zunehmend islamistische Kräfte auftauchen. Brüssel teilt ihnen neue Aufgaben zu bzw. die immer schon bestehenden mit neuer Dringlichkeit und auch ein wenig Geld: Menschen-, Rauschgifthandel und Geldwäsche sind zu unterbinden, die Radikalisierung von Muslimen ist zu verhindern. Funktionsunfähige bis zerfallende Verbrecherstaaten und Brutstätten für Islamisten können wir in Europa nicht dulden.

Dann hat die Flüchtlingskrise diesen Staaten auch noch die neue Eigenschaft der ‚Balkanroute‘ verschafft und die entsprechende Aufmerksamkeit im Rahmen der deutsch-dominierten Flüchtlingspolitik. Verlangt wird von ihnen die Bewältigung von Notständen, die sie nicht steuern und beherrschen können – und das mittels einer politischen Funktions- und damit Statuszuweisung auf der Basis der praktischen Erpressung mit den Massen, die die betreffenden Länder überrennen. Mal ist Weiterleiten das Gebot, mal Aufbewahren – die örtlichen Souveräne werden unübersehbar als Erfüllungsgehilfen von Berlin und Brüssel eingespannt, gleichgültig gegenüber ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit, gegenüber ihrer politischen Haltbarkeit und gegenüber den Gegensätzen, die zwischen ihnen herrschen. Wegen der Flüchtlingskosten werden Staatshaushalte unhaltbar, der grenzüberschreitende Verkehr kommt zum Stocken, es häufen sich Schuldzuweisungen mit allen Ingredienzien des vergifteten Nationalismus zwischen den befreiten ex-jugoslawischen Republiken. Erst wird die Durchleitung der Massen als Grußadresse nach Berlin, aber auf Kosten der Nachbarn zugelassen, dann wird dieses Verfahren, sprich die ‚Balkanroute‘ blockiert, als zunächst Ungarn und anschließend Österreich die Grenze schließt.

So erwerben die Balkanstaaten neue Funktionen als Lagerverwaltungen und Regulierer bzw. Verhinderer des Zustroms; europäische Instanzen schauen nach, ob die Behandlung der Flüchtlinge, die Europa nicht haben will, auch menschenrechtlich genug stattfindet, und haben viel zu monieren. Da werden schon auch Zelte und Gelder hingeschickt, die gewichtigste europäische Hilfe, die ihnen zuteil wird, läuft allerdings auf die Übernahme eines Teils der Souveränität hinaus und nimmt ihnen die Hoheit über die nationalen Grenzen, das Allerheiligste der befreiten Nationen, ein Stück weit ab. Am Ende sind sie faktisch in das neue Grenzregime der EU eingemeindet – nicht nur territorial, sondern auch bezüglich der Bestimmungen, die in ihm enthalten sind.[22]

Einfallstor für ungebetenen auswärtigen Einfluss

Die Perspektive, die die Staaten in der EU haben, ist keine in dem Sinn; nach Alternativen suchen – und sei es auch nur auf der Ebene von Handel und Kapitalanlage – gehört sich aber vom Standpunkt der EU aus grundsätzlich nicht. Einerseits haben die verstärkten Bemühungen von Mächten wie Russland, China und der Türkei den Staaten des Westbalkans dann doch gewisse Gelegenheiten und Alternativen zu bieten, da deren desolate Verfassung sie nun mal äußerst empfänglich macht für das geldwerte Interesse fremder Mächte und deren Investitionspläne – bringen also automatisch das Risiko mit sich, dass die europäische Kontrolle über die dortigen Verhältnisse in Frage gestellt wird. Und andererseits treffen auch politische Strömungen wie der militante Islamismus dort auf ein brauchbares Potential von Anhängern.[23]

Moslemische Schutzmächte wie die Türkei und Saudi-Arabien haben sich schon im damaligen Krieg um die Ausbildung und Ausstattung moslemischer Kämpfer verdient gemacht, die dann teilweise auch für andere Schlachtfelder zur Verfügung stehen. Die Völkerfreundschaft wird von Türken und Saudis mit der Finanzierung von Schulen und Moscheen weiter ausgebaut und BiH insgesamt als moslemischer Brückenkopf in Europa eingerichtet.[24]

Russland wiederum pflegt die Beziehungen zu den orthodoxen Völkern, in erster Linie zum Kriegsverlierer Serbien, und trifft dort selbstredend auf Gegenliebe, zumal die mit Waffengeschenken belohnt wird. Vor allem aber macht sich Russland bei so gut wie allen Staaten auf dem Westbalkan mit Projekten zur Energieversorgung interessant.

Europa und die USA sehen sich aufgerufen, für die notwendige Ordnung zu sorgen

Die Lage ist also ernst.

„In Mazedonien hat sich die Lage so zugespitzt, dass das Überleben des Staates auf dem Spiel steht. Der NATO-Beitritt wird von Griechenland blockiert, die innenpolitischen Konflikte zwischen Regierung und Opposition, Spannungen zwischen Mazedoniern und Albanern und die schwierige soziale Lage fügen sich zu einer kaum noch zu bewältigenden Herausforderung für das kleine Land zusammen. Der Stabilisierung des Kosovos steht die immer noch nicht geklärte Statusfrage im Wege. Ein dschihadistisches Netzwerk erstreckt sich über alle Länder, in denen Muslime leben. Serbien macht zwar Fortschritte auf dem Weg in die EU, lehnt aber eine NATO-Mitgliedschaft ab und schaukelt zwischen Ost und West. In Bosnien-Hercegovina ist die Republika Srpska längst ein heimlicher Stützpunkt russischer Umtriebe in der Region.“ (FAZ, 15.10.16)

Gemeinsam mit den USA wird ein regime change in Mazedonien organisiert. Schließlich hatte sich dessen vormaliger Präsident im Interesse an einer gesicherten Energieversorgung und der Eröffnung einer Verdienstquelle durch Transitgebühren lebhaft für die Beteiligung am russischen Projekt der Belieferung des Balkan mit Gas ausgesprochen, so dass er mit Hilfe eines Abhörskandals, einer damit munitionierten Opposition, Massendemonstrationen und einem von Albanien betreuten Schwenk der bislang an der Regierung beteiligten Albanerpartei von der Macht entfernt wird. Nationaler Notstand darf schließlich kein Grund sein, sich russischem Einfluss zu öffnen.

Aus demselben Grund müssen auch noch die minderbemitteltsten Staaten einsehen, dass ihre Sicherheit außerordentlich bedroht ist, solange sie nicht in der NATO verstaut sind.

„In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Verhältnisse auf dem westlichen Balkan verschlechtert. Seit den beiden großen Erweiterungsrunden von 1999 und 2004 hat die NATO nur noch Albanien und Kroatien unter ihren Schutz gestellt, und das ist schon sieben Jahre her.“ (Ebd.)

Daran spaltet sich in Montenegro zwar die Nation aufs Erbittertste:

„Die Einladung zum Beitritt, die die NATO im Dezember vorigen Jahres aussprach, entzweit die Montenegriner heute so sehr wie einst die staatliche Unabhängigkeit, für die 2006 in einem Referendum eine knappe Mehrheit votierte. Die proserbischen Parteien, die sich in der Demokratischen Front vereinigt haben, organisierten im Herbst vorigen Jahres Demonstrationen gegen die Regierung, die in Unruhen ausarteten. Sie fordern, dass nicht das Parlament, sondern ein Referendum über die Ratifizierung des Beitrittsvertrags entscheidet. Die Montenegriner erinnern sich noch an die NATO-Bombardements während des Kosovo-Kriegs 1999. Während etwa 80 Prozent den Weg in die EU unterstützen, sprechen sich nur 45 Prozent für die Allianz aus.“ (Ebd.)

Aber begreiflicherweise darf auf einen dermaßen abartigen Volkswillen keinerlei Rücksicht genommen werden:

„Der Partei des seit einem Vierteljahrhundert regierenden Ministerpräsidenten Milo Đukanović werden Verluste prognostiziert. Sie könnte nach den Wahlen an der Regierungsbildung scheitern. Falls die Opposition unter Einschluss der Demokratischen Front an die Macht gelangt, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Referendum über den Beitritt zur NATO. In Moskau würden die Sektkorken knallen...
In Montenegro schließt die NATO die letzte Sicherheitslücke an der Ostküste der Adria. Gelänge es der montenegrinischen Opposition, das Land zu neutralisieren und russischem Einfluss zu öffnen, käme das einer Einladung an Putin gleich, sich auch in diesem Abschnitt des Mittelmeeres zu engagieren. Seit dem Georgien-Krieg 2008 weiß man, dass er jede Gelegenheit nutzt, um die Integration weiterer Länder in die transatlantischen Sicherheitsstrukturen zu hintertreiben. Sei es durch Gewalt, wie in Georgien und in der Ukraine, oder durch Erpressung und Subversion wie in der Republik Moldau und ihrer abtrünnigen Provinz Transnistrien...
Da und dort wurde gespöttelt, dass sich die Schlagkraft der NATO durch die Aufnahme der 620 000 Montenegriner nicht sonderlich erhöhen dürfte. Doch das Interesse, das Washington, Brüssel und Moskau am Ausgang der Wahl zeigen, deutet allein schon darauf hin, dass der Beitritt durchaus von geopolitischer Bedeutung ist.“ (Ebd.)

An unserer Adriaküste gibt es noch genau einen Hafen, an dem russische Kriegsschiffe anlanden könnten. Für die nötige Bereinigung, Russen raus aus unserem Mittelmeer, muss das Volk samt der unwilligen Mehrheit, ungeachtet der damit verbundenen bürgerkriegsähnlichen Unruhen, ins westliche Kriegsbündnis transportiert werden. Was dann vermittels einer mit amerikanischer Hilfe organisierten Wahl auch gelingt.

Verbleibt noch Serbien, ein weitaus schwierigerer Fall, aber der neue starke Mann in Belgrad begreift langsam, aber zunehmend besser die Vernunft der Erpressung, dass ein isoliertes, von EU-Satelliten umzingeltes Serbien auf Dauer null Chancen hat. Auch wenn er immer noch nicht die „Schaukelpolitik“ mit Russland aufgeben mag.

Und dann wäre da noch das Problem, wie mit der anderen Großmacht zu verfahren ist, die sich auf unserem Balkan breitmacht.

„China gewinnt als strategischer Investor in Südosteuropa stetig an Bedeutung, doch drohen die Balkanstaaten durch die Kreditvergabe chinesischer Banken für Großprojekte auch in wachsende politische Abhängigkeit von Peking zu geraten. Zudem mangelt es bei der Vergabe von Großaufträgen an chinesische Firmen, die zugleich von chinesischen Banken finanziert werden, oft an transparenten Ausschreibungsverfahren. Diese Schlussfolgerungen werden in einer von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in Auftrag gegebenen Studie zum Vordringen Chinas auf dem Balkan gezogen, die an diesem Donnerstag in Athen vorgestellt wird und dieser Zeitung vorab vorlag. China investiert seit Jahren in südosteuropäischen Ländern in Verkehrsinfrastruktur, beispielsweise Häfen, Straßen und Schienennetze. Die Vergabe von Krediten zu günstigen Zinsen durch chinesische Banken sei vielen Staaten mit beschränktem Zugang zu privaten Kapitalmärkten bei der Finanzierung von Infrastrukturprojekten willkommen, heißt es in der Studie.“ (FAZ, 14.9.17)

‚Unsere‘ Balkanstaaten drohen in falsche politische Abhängigkeiten zu geraten – oder sind es bereits. China besticht sie nämlich mit Investitionen in Großprojekte, stiftet auch noch den nötigen Kredit und entwickelt sich so zu einer maßgeblichen Einflussmacht auf dem Balkan – natürlich, das entgeht einer kritischen Presse nicht, mittels leicht krimineller Absprachen (intransparenter Ausschreibungsverfahren) mit den regionalen Machthabern. Bestandteil der „Neuen Seidenstraße“ zu werden mit einer nagelneuen Infrastruktur (Häfen, Flughäfen, Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen für die Eisenbahn) ist eben ein Angebot, das Staaten, die von der EU mehr Aufgabenzuweisungen erhalten als Geld, einfach nicht ablehnen können und das die aus Brüssel und Berlin eingeforderte politische Linientreue erschüttert. Flankierend zu Geld und Kredit offeriert die Pekinger Weltmacht den ost- und südosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten und -Kandidaten einen eigenen politischen Zusammenschluss: Seit 2012 versammelt sie 16 dieser Staaten ‚zum Ausbau und zur Intensivierung der Kooperation‘ im 16+1 Format – was weitsichtige Thinktanks schon zu Warnungen vor einer Spaltung der EU veranlasst.[25]

Diese neue Konkurrenz vermittels einer „Scheckbuchdiplomatie“ fordert Europa heraus; die deutsche Kanzlerin sieht sich genötigt, die chinesischen Umtriebe mit einem „Berlin-Prozess“ zu kontern, der die Kandidaten bei Laune halten soll:

„Auch um den Balkan – trotz der auf absehbare Zeit nicht anstehenden neuen Beitritte – im Orbit der EU zu halten, ist vor drei Jahren der ‚Berlin-Prozess‘ ins Leben gerufen worden, der maßgeblich auf eine Initiative von Kanzlerin Angela Merkel zurückgeht. Er soll, auch wenn das so offen nicht gesagt wird, ein zeitweiliger Ersatz für den Beitrittsprozess sein, sozusagen eine Verschönerung des Wartezimmers... Zwar bleibe die volle EU-Mitgliedschaft das Ziel für alle sechs Balkanstaaten, doch müsse die immer länger dauernde Vor-Beitrittsphase mit greifbaren Ergebnissen ausgefüllt werden, damit die betroffenen Bürger den Weg nach Europa nicht als Straße ins Nirgendwo empfänden. Im ‚Berlin-Prozess‘ gehe es deshalb darum, die Balkanstaaten untereinander enger zu verbinden und zugleich ihre Orientierung an der EU nicht abreißen zu lassen.“ (FAZ, 13.5.17)

Zur Bekräftigung der Hoffnung gibt es ein bisschen Geld –

„Wie schon vorab geplant, wurde ein Energie-, Straßen- und Bahninfrastruktur-Paket in Höhe von 600 Mio. Euro beschlossen. Dazu gehören die Autobahn von Niš über Prishtina nach Durrës an der albanischen Küste, ein vorrangiges Ausbauziel der paneuropäischen Verkehrskorridore, und die Modernisierung der Bahnstrecke Belgrad-Sarajevo.“ (Wikipedia, Westbalkan-Konferenz)

und vor allem die Spitzenidee, die Staaten sollten doch erst einmal untereinander einen Gemeinsamen Markt veranstalten:

„Um die schwierige soziale Lage vieler Menschen auf dem Balkan schnellstmöglich zu verbessern, sollten wir jede Chance nutzen, die sich bietet. Dazu gehört die verbesserte regionale Kooperation im Wirtschaftsbereich. Die einzelnen Länder im Westbalkan sind alleine für viele potentielle Investoren zu klein. Wenn sich die Region jedoch gemeinsam ‚anbietet‘, lohnt es sich, in die Region zu kommen.“ (Christian Hellbach: Die EU-Perspektive des Balkans ist keine Einbahnstraße, DW, 13.6.17)

Ein herzlicher Zynismus der europäischen Staaten: Erst Jugoslawien zerschlagen und dann die verfeindeten Spaltprodukte dazu anhalten, es doch einmal wieder miteinander zu probieren, damit sie der EU nicht unnötig auf der Tasche liegen. Und eine weitere Spitzenidee: Die EU hebt ein Jugendwerk aus der Taufe. Wenn die heutigen Generationen nichts taugen, setzt Europa eben auf die kommenden.

*

Ohne dass die Sprüche von den nötigen Wirtschaftsreformen etc. für eine schöne Zukunft ganz entfallen, wird immer eindeutiger ausgesprochen, was die EU von ihrem Besitzstand auf dem Balkan will. Der Erweiterungskommissar Hahn drückt klar aus, was die EU am Westbalkan heute interessiert – wie weit sie es mit ihrer Expansionspolitik also gebracht hat:

„Aber wir haben ein ureigenes Interesse an dieser Region, denn die EU braucht Stabilität in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Daher werden wir uns als EU, unabhängig von der Orientierung der US-Regierung, federführend um den Westbalkan kümmern.“ (derstandard.at, 20.3.17)

Und der Hohe Kommissar in Sarajewo empfiehlt der neuen amerikanischen Regierung, darauf zu schauen, dass Bosniens territoriale Integrität und Souveränität erhalten bleiben (ebd.). Nicht lebensfähig zu sein ist keine Schande, instabil werden aber schon. Was sollen wir mit einem Bürgerkrieg in Bosnien? Wer muss dann wieder die Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen und Frieden stiften?

Wenn die Staaten zunehmend selber als Sicherheitsproblem diskutiert werden, wenn dabei immer wieder konstatiert wird, dass sie sich selber nicht gescheit regieren, sondern eigentlich unter eine von außen gesteuerte Verwaltung gestellt gehörten, dann wird daran sichtbar, dass hier etwas anderes vorliegt als schlecht funktionierende oder schwache Herrschaftsgebilde, wie sie in der Dritten Welt reichlich vorhanden sind, sich dort aber auch zeitweilig ignorieren lassen, weil sie weiter keinen Schaden anrichten. Für die EU präsentiert sich ‚die Lage‘ in der Westbalkanregion als zunehmendes Dilemma bzw. die Aufgabe, ihre Zuständigkeit für den errungenen Besitzstand auch durchzusetzen. In einer Mischung aus Verlegenheit – die Problemfälle selbst verantwortlich zu machen für ihre Brauchbarkeit und zugleich zu notieren, dass eben das nicht geht – und dem festen Willen, den eigenen Besitzstand gegen dessen innere und äußere Gefährdungen zu verteidigen, bestehen die europäischen Führer auf der Unabdingbarkeit ihrer Forderungen nach gutem Regieren: Dass die Staaten von ihrer Anbindung an Europa und Weltmarkt weder als Herrschaften leben können noch ihre Völker leben lassen, kann kein Grund dafür sein, die unbedingt geforderten Ordnungsleistungen schuldig zu bleiben.

V. Jetzt kommt sie doch noch: Die „glaubwürdige Erweiterungsperspektive für den westlichen Balkan“

Anfang 2018 will die EU-Kommission auf einmal über ihren Schatten springen und verspricht Serbien und Montenegro das unverhoffte Glück einer diesmal wirklich „glaubwürdigen“ Beitritts-Perspektive schon für das Jahr 2025. Der Grund, warum die Erweiterungsmüdigkeit jetzt beendet werden soll, wird offen ausgesprochen:

„Die feste, aber leistungsbezogene Aussicht des westlichen Balkans auf eine EU-Mitgliedschaft liegt im ureigenen politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interesse der Union. Sie stellt eine geostrategische Investition in ein stabiles, starkes und geeintes Europa auf der Grundlage gemeinsamer Werte dar... Die Länder des westlichen Balkans haben nun die historische Chance, ihre Zukunft fest und eindeutig mit der Zukunft der Europäischen Union zu verknüpfen.“ [26]

Die EU-Chefs wollen allen, die es angeht, zeigen, dass ihr Verein keineswegs durch innere Zerstrittenheit im Bündnis handlungsunfähig oder gar dem Ende nahe ist, vielmehr willens und fähig zu kraftvollen geostrategischen Investitionen (ebd.) in ihren angestammten Herrschaftsbereich. Die übergriffigen auswärtigen Mächte wie Russland, China und die Türkei sollen gefälligst zur Kenntnis nehmen, dass die Objekte ihres Verlangens fest und eindeutig (ebd.) zum europäischen Besitzstand zählen. Und ebenso eindeutig unterrichtet Brüssel die Balkanstaaten darüber, dass politische Grauzonen oder eine „Schaukelpolitik“, eine Hinwendung an dritte Mächte, die aus der Untauglichkeit der EU für die dortigen Staaten geboren ist, nicht geduldet werden.

In diesem Sinne sollen erst einmal die Serben und Montenegriner heim ins Reich geholt werden. Für die freundliche Beschlagnahmung Serbiens spricht wohl erstens das Ärgernis, dass es sich als ganz besonders anfällig für russische und chinesische Avancen erwiesen hat, und zweitens sein Stellenwert als Schlüsselstaat, an dem die Lösung des Dauerkonflikts im Kosovo und zu einem guten Teil auch die Bereinigung der Lage in Bosnien-Herzegowina hängt.

Nachdem die Euro-Politiker die Dringlichkeit entdeckt haben, den Balkan unwiderruflich an ihr Bündnis anzugliedern, stellt sich folgerichtig die Sorge ein, dass die Kandidaten dieses gesteigerte Interesse womöglich missverstehen und sich Freiheiten bei der Erfüllung ihrer Pflichten herausnehmen könnten. Deshalb verspricht man ihnen in die Hand, dass sie keineswegs mit einer größeren Kompromissbereitschaft rechnen können und dass sich das bisherige Verfahren der „Konditionalitätenpolitik“, der Erpressung zu ‚gutem Regieren‘, durchaus noch steigern lässt:

„Die Kommission empfiehlt, die durch die Verhandlungsrahmen gegebenen Möglichkeiten der Einflussnahme verstärkt zu nutzen. So sollte zum Grundsatz gemacht werden, dass sich die Lage im Bereich der Rechtsstaatlichkeit erheblich verbessert haben muss – insbesondere durch konkrete Ergebnisse bei der Justizreform und bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität –, bevor die technischen Gespräche über andere Kapitel der Beitrittsverhandlungen vorläufig abgeschlossen werden können.“ (A.a.O., S. 12)

Damit die Zuständigen, vor allem in Belgrad, über der Tatsache, dass sie noch viel zu tun [haben], um die Beitrittskriterien zu erfüllen (ebd.), nicht vergessen, dass sie sich vor allem als geostrategische Investition aus Brüssel zu betrachten und aufzuführen haben, schreibt ihnen Herr Juncker ihre diesbezüglichen Pflichten so klar und deutlich wie vielleicht noch nie auf:

„Im Sinne unseres gemeinsamen Interesses an mehr Sicherheit sollten auch die strukturierten Dialoge im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik/Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erweitert und vertieft werden. Dies sollte auch umfangreichere Beiträge einzelner Partner zu EU-Missionen und -Operationen weltweit und den Ausbau der Beteiligung an Maßnahmen im Zusammenhang mit hybriden Bedrohungen, Erkenntnisgewinnung, Weltraumpolitik und Reform des Verteidigungs- und Sicherheitssektors umfassen. In diesem Zusammenhang müssen sich die westlichen Balkanländer auch darum bemühen, die Angleichung an sämtliche außenpolitischen Standpunkte der EU, d.h. auch an die restriktiven Maßnahmen, zu beschleunigen.“ (A.a.O., S. 11 f.)

So viel Angliederung ist der Kommission zusätzliche Finanzmittel wert, die man – man kennt ja seine Pappenheimer – natürlich nicht einfach überweisen darf:

„Die mit unserer bilateralen Hilfe verbundenen Auflagen werden verschärft werden. Die Aufstockung der Mittel sowohl im laufenden als auch im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen sollte an Fortschritte bei der Durchführung grundlegender Reformen und den Aufbau gutnachbarlicher Beziehungen geknüpft sein.“ (A.a.O., S. 20)

Verschärfte Auflagen zur Nutzung einer historischen Chance: Mehr kann Brüssel dem Westbalkan nun wirklich nicht mehr anbieten.

[1] Der Aufruf zu einem eigenständigen europäischen Imperialismus, den der Friedensnobel-Willy auf seine unnachahmliche Art loswird – Es muss ausgeschlossen werden, dass innereuropäische Krisenherde wie Jugoslawien plötzlich vor den UNO-Sicherheitsrat gelangen, weil es keine europäische Vermittlung gibt (Brandt im Mai 1991) –, leuchtet den Kollegen Kohl und Genscher so sehr ein, dass sie die Vermittlung gleich selbst in die Hand nehmen. Slobodan Milošević notiert dazu:

Genau im selben Monat, in dem die deutsche Wiedervereinigung stattfand, konnte der militärische Geheimdienst Jugoslawiens durch geheime Abhörmaßnahmen Aktivitäten aufdecken, die dem illegalen Waffenimport nach Kroatien dienten, um die gewaltsame Sezession zu ermöglichen... Am 24. August 91 bestellte er [der damalige deutsche Außenminister Genscher] ... den jugoslawischen Botschafter in Bonn ein, ... und er sagte ihm, dass Deutschland, falls das Blutvergießen weitergehe und die mit Hilfe der Jugoslawischen Volksarmee betriebene gewalttätige Politik nicht sofort beendet werde, ernsthaft über die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens innerhalb der bestehenden Grenzen nachdenken müsse und diese Frage auch erneut innerhalb der Europäischen Gemeinschaft aufwerfen werde. (Die Zerstörung Jugoslawiens. Slobodan Milošević antwortet seinen Anklägern. Frankfurt a.M. 2008, S. 19 ff.)

 Es hat schon noch eine Weile gedauert, bis das übrige Europa die von Deutschland angesetzte historische Notwendigkeit kapiert hat:

Lord Owen [erst EG-, dann EU-Sonderbeauftragter für den Balkan, Anm. d.V.] spricht darüber, wie Deutschland selbst ernste Konflikte mit seinen Partnern in der EG und den USA in Kauf nahm, um Slowenien und Kroatien bei ihrer illegalen Sezession zu unterstützen... Der damalige niederländische Außenminister Ruud Lubbers sagte 1997, dass der deutsche Kanzler Kohl Druck auf die Europäische Gemeinschaft ausübte, um ihre Position zu ändern, die darin bestand, dass die Unabhängigkeit Kroatiens nicht anerkannt werden sollte, um keinen Bürgerkrieg zu entfachen. ‚Van den Broek und ich konnten uns auf den Kopf stellen, die übrigen Europäer konnten sich nur erstaunt umschauen, die Deutschen taten, was sie getan haben, und das war eine Katastrophe.‘ (Ebd.)

[2] Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen... Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt eine einseitige Einstellung – unbefristet – der Bombenangriffe für das grundfalsche Signal. Milošević würde dadurch gestärkt und nicht geschwächt. Ich werde das nicht umsetzen, wenn Ihr das beschließt, damit das klar ist. (Joschka Fischer auf dem Grünen-Parteitag, 13.5.99)

[3] Das Anfang 1969 gegründete Kombinat, das zeitweise 5.000 Beschäftigte hatte (bei einer Bevölkerung von 600 000), das auch nach dem Verkauf des Werkes an einen russischen Investor im Jahre 2005 noch einen Anteil von 15 % am BIP und 50 % am Export Montenegros erbrachte, wird 2013 in einer konzertierten Aktion von EU und IWF zur Bankrotterklärung genötigt.

Montenegro sah sich enormem internationalen Druck ausgesetzt – besonders von seiten der Europäischen Union –, das schwer subventionierte Unternehmen sterben zu lassen. Schon vorher drängte der IWF die Regierenden, die schuldenbelastete Fabrik zu schließen, da sie jeden Monat 3 Millionen Euro Staatssubventionen verschlingt. (Ana Komnenic, minig.com: Montenegro’s only aluminium plant and biggest exporter declares bankruptcy)

[4] Eine gewisse Ausnahme bildet nur der Vorreiter der Sezessionsbewegung, Slowenien, das seine Position in den schon zu jugoslawischen Zeiten etablierten Geschäftsbeziehungen zur EU – per joint ventures mit Westkapital – und die besondere Protektion Österreichs dazu genutzt hat, sich erfolgreich von Rest-Jugoslawien abzusetzen.

[5] Im Handel mit der EU [auf den etwa drei Viertel des gesamten Außenhandels der Westbalkanländer entfallen, Anm. d.V.] verbuchen die Westbalkanstaaten jedoch kontinuierlich hohe Defizite: Allein im Jahre 2011 gab es einen negativen Saldo von 13,8 Milliarden Euro. Angesichts der schrumpfenden Wachstumsraten und der dementsprechend sinkenden staatlichen Einnahmen kämpfen die Westbalkanländer zudem mit hohen Haushalts- und Zahlungsbilanzdefiziten. (Dušan Reljić: EU-Erweiterungspolitik im Westbalkan: Missliche Zeiten für schwierige Kandidaten. In: Ronja Kempin/Marco Overhaus (Hg.): EU-Außenpolitik in Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise. SWP Studie 9, 04/13, S. 14)

[6] Dušan Reljić, Serbien: Leere Staatskasse und ungewisse Absichten der neuen Regierung. SWP-Aktuell 48, August 2012, S. 1.

[7] Vorbildlich in dieser Hinsicht Mazedonien. Bereits „im Dezember 1993 stimmte die Regierung in Skopje einer Senkung der Reallöhne und einer Einfrierung der normalen Kredite zu, um einen Sonderkredit von der ‚System-Anpassungs-Abteilung‘ (Systemic Transformation Facility / STF) des IWF zu erhalten. In einer untypischen Wendung beteiligte sich der Multimilliardär George Soros an den Aktivitäten der ‚internationalen Unterstützergruppe‘, die sich hauptsächlich aus der Regierung der Niederlande und der in Basel beheimateten Bank für internationale Schuldentilgung zusammensetzte. Das Geld, das diese Unterstützergruppe zur Verfügung stellte, war aber nicht für den Wiederaufbau bestimmt, sondern für die Rückzahlung von Krediten, die Skopje der Weltbank schuldig war.

 Darüber hinaus mußte die Regierung des makedonischen Premierministers Branko Crvenkovski der Abwicklung der restlichen ‚Verlustbetriebe‘ und der Entlassung der ‚überflüssigen‘ Arbeiter zustimmen – was für die Hälfte der Industriearbeiter des Landes die Arbeitslosigkeit bedeutete. Dazu bemerkte der stellvertretende Finanzminister nüchtern, daß es bei astronomischen Profitraten aufgrund der kreditorengesponserten Bankreform ‚schier unmöglich war, einen Betrieb im Land zu finden, der kostendeckend arbeitete‘... Und trotz des Wirtschaftsabbaus und der Zerstörung des Schul- und Gesundheitswesens, die das Sparprogramm mit sich gebracht hat, erzählte der Finanzminister der Weltöffentlichkeit stolz, dass ‚die Weltbank und der IWF Makedonien in Hinblick auf die gegenwärtigen Wirtschaftsreformen unter die erfolgreichsten Länder zählen‘. Der Vorsitzende der IWF-Arbeitsgruppe zu Makedonien, Paul Thomsen, ergänzte, daß die ‚Ergebnisse des Stabilisierungsprogramms eindrucksvoll‘ seien und erwähnte besonders lobend die ‚effektive Lohnpolitik‘, die die Regierung in Skopje in Anwendung bringe.“ (Michel Chossudovsky: Wie Jugoslawien zerstört wurde. In: trend 3/99)

[8] Albanien hat sich zu einem europäischen Zentrum des Marihuana-Anbaus entwickelt, der Kosovo ist ein Umschlagplatz für Drogen- und Menschenhandel, Montenegro befindet sich im Würgegriff der Mafia:

Kriege zwischen Drogenkartellen erschüttern seit Monaten das Balkanland... Die steigende Zahl von Straßenschießereien, Autobombenanschlägen und anderen Attentatsversuchen illustriert, wie stark die organisierte Kriminalität den EU-Anwärter im Würgegriff hält... Schmuggel hatte es in dem seit 2006 unabhängigen Küstenstaat (zuvor seit 1992 im Verband mit Serbien) immer gegeben. Doch erst die UN-Sanktionen während der Jugoslawienkriege der 1990er sollten für einträgliche Schwarzgeschäfte staatliche und kriminelle Strukturen eng verquicken lassen. Der praktisch staatlich organisierte Zigarettenschmuggel verschaffte dem jugoslawischen Teilstaat Devisen. Nach den Kriegen endete der Zigarettenschmuggel, dafür blühte der noch ertragreichere Kokainhandel aus Südamerika auf. (Die Presse, 13.10.16)

[9] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2010 - 2011, Brüssel, 9.11.10

[10] Haradinaj hatte in den letzten Jahren politisch gegen ein Grenzabkommen mit Montenegro gekämpft, und zwar mit der Behauptung, dass der Kosovo durch die Grenzziehung Territorium verlieren würde... Viele Kosovaren wählten im Juni Haradinaj schließlich wegen der Grenzabkommensgeschichte. (derstandard.at, 19.9.17)

Mit Italien und Ungarn hat Kroatien keine offenen Grenzkonflikte, wohl aber mit allen anderen Nachbarstaaten. (FAZ, 5.10.17)

[11] In Kroatien geht die Kriminalisierung der kroatischen Staatsgründer und der Staatsgründungsideologie, die Denunziation der ersten Staatspartei und eines Großteils der politischen Klasse mit strafrechtlichen Folgen nicht ohne Friktionen ab:

Die Regierung in Zagreb hat die Urteile gegen die beiden ehemaligen kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markac wegen Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten im Jahr 1995 als ‚unannehmbar‘ bezeichnet. Regierungschefin Jadranka Kosor sagte, im Urteil des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag heiße es, die kroatische Führung habe ‚in einem gemeinsamen kriminellen Unternehmen gegen internationales Recht und UN-Konventionen verstoßen‘. Das sei nicht hinnehmbar. Die dortige katholische Kirche hatte ebenso wie Regierungschefin Kosor Freisprüche für die Generäle verlangt. Vor allem Gotovina gilt als Nationalheld, weil er mit der Operation ‚Sturm‘ die Krajina zurückerobert und so die territoriale Zerstückelung des Landes durch serbische Aufständische und Truppen verhindert habe. (dpa, 15.4.11)

 Besondere Schönheiten weisen die entsprechenden Verfahren im Kosovo auf, wo die alten Kämpfer im Bewusstsein ihrer besonderen Protektion durch die USA agieren können: „... musste Haradinaj selbst ins Gefängnis nach Den Haag, wo ihm vor dem Jugoslawien-Tribunal wegen Kriegsverbrechen der Prozess gemacht wurde. Haradinaj wurde vorgeworfen, im Krieg Teil einer verbrecherischen Unternehmung gewesen zu sein, die zum Ziel hatte, ‚totale Kontrolle‘ über die Dukagjin-Region zu bekommen, indem Serben, aber auch Roma, Ägypter (auf dem Balkan übliche Bezeichnung der Roma) und Albaner und andere Zivilisten, die unter ‚Verdacht‘ standen, mit Serbien zu kollaborieren, entführt oder misshandelt wurden. Insbesondere Serben wurden ab 1998 von der UÇK aus ihren Dörfern vertrieben. Das Gericht hielt im Prozess gegen Haradinaj fest, wie schwierig es gewesen sei, Zeugen zum Sprechen zu bringen. Man habe den ‚starken Eindruck‘ erhalten, dass die Zeugen sich unsicher fühlten. Sieben Morde wurden in dem Verfahren der UÇK nachgewiesen. Doch man konnte Haradinaj nicht nachweisen, dass es eine gemeinsame vorsätzliche Bildung einer verbrecherischen Unternehmung gegeben hatte, und er wurde 2008 freigesprochen. Zumindest ein Zeuge starb unter mysteriösen Umständen. Das Verfahren wurde nochmals aufgerollt, aber Haradinaj 2012 erneut aus Mangel an Beweisen freigesprochen.“ (derstandard.at, 19.9.17)

[12] Dass den Serben immerhin eine eigene Entität zugestanden wurde, verdankt sich der Tatsache, dass man damals noch auf die Unterschrift von Milošević angewiesen war – von heute aus betrachtet ein kapitaler Missgriff.

[13] Ein wesentlicher Grund für die Stagnation ist das im Jahre 1995 in Dayton geschaffene politische System, das weltweit zu den kompliziertesten gehört. Das in der Verfassung festgelegte System der Machtteilung zwischen den drei Ethnien führt in der Praxis dazu, dass vielschichtige und damit brüchige und passive Koalitionen regieren. Genauso unübersichtlich und schwerfällig ist der enorme Behördenapparat. Allein die Anzahl der Minister auf verschiedenen Verwaltungsebenen – angefangen von den zehn Kantonen bis zum Gesamtstaat – wird auf fast 150 geschätzt, ferner gibt es, bei etwa vier Millionen Einwohnern, über 600 Mitglieder der vielen Parlamente. (Alida Vračić and Dušan Reljić, Bosnien und Herzegowina braucht eine Chance auf den EU-Beitritt, in: euractiv, 27.11.15)

[14] Was Bosnien und Herzegowina dringend braucht, ist Stabilität und wirtschaftlicher Wohlstand sowie funktionierende demokratische und rechtsstaatliche Institutionen. Dafür braucht es tiefgreifende Reformen, die das Land bisher nicht durchgeführt hat. Die Aussicht auf einen EU-Beitritt hat sich in vielen anderen Staaten als sehr wirksamer Anreiz zur Durchführung unentbehrlicher Reformen erwiesen. Bedauerlicherweise hat sich diese Wirkung in einem entlang ethnischer Linien politisch gespaltenen Bosnien und Herzegowina nicht entfalten können. (Gemeinsamer Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seinem britischen Amtskollegen Philip Hammond zur deutsch-britischen Initiative für eine Wiederbelebung des Reformprozesses in Bosnien und Herzegowina und eine Neugestaltung des Annäherungsprozesses an die Europäische Union. Frankfurter Rundschau, 6.11.14).

[15] Inzko, der zur Zeit zuständige Hohe Repräsentant: Meine These ist, dass sich das Land erfreulicherweise Richtung EU integriert, aber leider zu Hause desintegriert. (derstandard.at, 22.12.16)

Überlegt wird von EU-Staaten auch das internationale Geld abzudrehen – Bosnien-Herzegowina ist von den Geldern der Weltbank und des IWF abhängig, um Druck auf Reformen zu machen. Doch auch diese Option ist unrealistisch, weil die internationalen Finanzinstitutionen keinerlei Interesse daran haben, dass Bosnien-Herzegowina komplett pleitegeht. Also pumpt man immer wieder gerade so viel Geld hinein, als zum Überleben notwendig ist. (Der Standard, 27.3.14)

 Unter diesen Bedingungen besinnen sich allen voran die serbischen, aber auch die kroatischen Führer immer wieder darauf, dass es mit der Demütigung der eigenen Nation nicht mehr weitergehen kann, drohen mit Referenden ihrer Volksgenossen und dem Aufstand gegen das EU-Regime.

[16] Haradinajs riesiges Kabinett mit 21 Ministern – absurd für einen derart kleinen und armen Staat wie den Kosovo – zeigt, wie viele Kräfte ‚zufriedengestellt‘ werden mussten, um überhaupt eine Koalition zustande zu bringen. Insgesamt sind 25 Parteien, darunter auch mehrere Kleinstparteien, vertreten. (derstandard.at, 19.9.17)

 Im „kompliziertesten Parteien-System der Welt“, dem bosnischen, gibt es tatsächlich eine Partei, die „SBIH“, die sich gesamt-bosnisch definiert. Sie ist bezeichnenderweise eine Splitter-Partei, bei der das einzig Bemerkenswerte ist, dass es sie überhaupt gibt, denn die restlichen 49 Parteien sind auf allen politischen Ebenen bis ins kleinste Dorf hinein strikt ethnisch sortiert und aufgestellt, so dass jeder nur denkbare Wahlgang den Laden mit Sicherheit genau so reproduziert.

[17] „Kroatien: viele Anklagen, aber kaum Strafen... In den vergangenen Jahren wurden zwar viele Anklagen erhoben – auch gegen ranghohe Politiker, Banker, Manager oder Fußballfunktionäre –, bisher ist aber kaum jemand rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Meist werden entweder die Verfahren so lange hinausgezögert, bis sie gänzlich oder in Teilen verjähren, oder die Urteile der erstinstanzlichen Gerichte werden in Berufungsverfahren wegen Verfahrensfehlern aufgehoben.

 Das prominenteste Beispiel dafür ist der Fall des früheren kroatischen Regierungschefs Ivo Sanader. Wegen Korruption während seiner Regierungszeit wurde er Ende 2012 in erster Instanz zu zehn Jahren Haft und zur Zahlung von rund 480 000 Euro Strafe verurteilt.

 2015 hob das Verfassungsgericht Kroatiens das Urteil wegen Formfehlern auf und wies den Fall zur Neuverhandlung zurück. Sanader konnte dank einer hohen Kaution das Gefängnis verlassen. Beobachter rechnen inzwischen damit, dass er im neuen Prozess freigesprochen wird. Pikant dabei: Davorin Mlakar, einer der Verfassungsrichter, ist selbst in eine Korruptionsaffäre verwickelt...

 Noch absurdere Züge nimmt der Kampf gegen Korruption in Mazedonien an. Seit Jahren belegt das Land hintere Plätze auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. In diesem Jahr liegt von den Westbalkanstaaten nur noch Kosovo dahinter. Bestechung gehört zum mazedonischen Alltag, auf allen Ebenen.

 Als im vergangenen Jahr die Opposition Abhörprotokolle der Telefongespräche der höchsten Regierungsmitglieder veröffentlichte, kam das ganze Ausmaß der Korruption ans Tageslicht. Die Öffentlichkeit erfuhr, wie die höchsten Staatsbeamten Provision für den Bau neuer Straßen verlangten oder wie man Aufträge der öffentlichen Hand durch gefälschte Ausschreibungen an befreundete Firmen vergab. Trotzdem geschah – nichts: Weder die Staatsanwaltschaft noch die Staatliche Kommission für Korruptionsprävention leiteten eine Untersuchung ein.

 Nur die Sonderstaatsanwaltschaft – gegründet unter dem Druck der USA und der EU – erhob 11 Anklagen. Bisher ist aber noch keines dieser Verfahren vor Gericht verhandelt worden.“ (DW, Der Balkan in den Fängen der Korruption, 25.1.17)

[18] Der Hohe Repräsentant von BiH, Inzko: Dodik hat im Bereich Rechtsstaatlichkeit bereits eine Sezession durchgeführt. Er ist auch nicht zum Verhör zum Staatsanwalt gekommen. In einem anderen Fall hat der bosnische Gerichtshof das Militäreigentum von Han Pijesak [Kleinstadt im Osten der Republika Srpska, Anm. d. V.] dem Verteidigungsministerium zugeschrieben. Dodik sagt aber wiederum: Das werden wir nicht hergeben, das ist heiliger serbischer Boden. Auch das ist ein Ausscheren aus dem Staatsverband im Justizbereich. Sezession ist die rote Linie – im Justizbereich hat er die schon überschritten. (Der Standard, 22.12.16)

[19] Was den Kampf gegen das organisierte Verbrechen betrifft, hat BiH ein gewisses Level an Vorbereitung dafür erreicht... Das organisierte Verbrechen zu bekämpfen bleibt eine fundamentale Aufgabe, um der kriminellen Unterwanderung des politischen, rechtlichen und ökonomischen Systems des Landes entgegenzutreten. (Commission Staff Working Document. Bosnia and Herzegovina 2016 Report, Brüssel, den 9.11.16, S. 5)

BiH bleibt ein Land für Drogen-Transit und Lagerung... Die BiH-Kommission zur Bekämpfung des Missbrauchs von Narkotika-Drogen wurde im Dezember wieder eingesetzt, aber funktioniert nicht. Die Kommission zur Vernichtung der Drogen wurde eingerichtet, aber es hat keine Drogenvernichtung stattgefunden. (A.a.O., S.71)

Eine Strategie für die Jahre 2014-2016 zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ist in Kraft. Dennoch gibt es keinen wirksamen Mechanismus, um zu kontrollieren, wie weit die große Anzahl von Aktionsplänen implementiert wird... BiH bleibt weiterhin Ursprungs-, Transit- und Zielland von Menschenhandel. (A.a.O., S. 72 f.)

[20] The former Yugoslav Republic of Macedonia: Recommendations of the Senior Experts‘ Group on systemic Rule of Law issues relating to the communications interception revealed in Spring 2015, Brüssel, 8.6.15, S.11. Zitiert nach ec.europa.eu

[21] Ein früherer Emissär redet da auch schon mal Klartext:

Bosnien und Kosovo – Europas vergessene Protektorate... Michael Steiner, der deutsche Diplomat, der nach dem Krieg in Bosnien für die internationale Gemeinschaft tätig war, hält dagegen, dass der größte Fehler der EU und der USA gerade darin bestanden habe, dass beide Länder nie vollständige Protektorate, sondern immer nur Halbprotektorate gewesen seien. Darüber hinaus hätte man den nationalistischen Parteien, die für den Krieg verantwortlich waren, nach dem Krieg ermöglicht, die Wahlen zu ihren Gunsten zu organisieren... Dieses Demokratiespiel, so zu tun, als ob man sofort nach dem Krieg freie Wahlen abhalten und eine offene Gesellschaft aufbauen könnte, war falsch und verlogen. (DW, 17.2.17)

[22] Für die Nicht-EU-Mitglieder bedeutet dies, dass jeglicher laut EU-Vorgaben unerwünschte Grenzübertritt und ein „Einsickern“ Fremder in ihr Land illegal ist; auch alle im Land befindlichen Flüchtlinge haben den Status der Illegalität; die Elendsgestalten erhöhen die Anzahl der Unbrauchbaren im Land und – weil in der Illegalität lebend und nach klandestinen Grenzübertritten suchend – ziehen unkontrolliert umher, ein Zustand, der die Unzufriedenheit der Bevölkerung schürt. Die hat im Übrigen im Rahmen dieser Krise erfahren dürfen, dass sie das zweifelhafte Glück genießt, sich in „sicheren Herkunftsländern“ zu befinden, sich also den Versuch sparen kann, in Europa Asyl zu beantragen, um der heimatlichen Misere zu entkommen.

[23] Die Bedrohung der staatlichen Souveränität durch islamistische Gruppen sollte man in Bosnien-Herzegowina niemals unterschätzen. So haben sich seit 2012 mehr als 200 bosnisch-herzegowinische Staatsbürger dem bewaffneten Krieg islamistischer Gruppen im Nahen Osten angeschlossen, wovon erst rund 50 zurückgekehrt sind. ... für so ein fragiles Land wie Bosnien-Herzegowina eine große Belastungsprobe. (Konfliktpotential des Balkans bleibt hoch, DW, 6.3.17)

[24] Eine Delegation aus Saudi-Arabien hat vom 9. bis zum 11. Mai Bosnien-Herzegowina besucht. Riad möchte seine Wirtschaftsbeziehungen zum Balkanstaat intensivieren. Der Fokus liegt dabei auf dem Immobilien-, Banken- und Rüstungssektor. Vor allem Verteidigungsprodukte aus Bosnien erfreuen sich einer großen saudischen Nachfrage. Der Delegation schlossen sich der Regierungsberater am Königshof, Ahmet Akil el-Chatib, und der Vorsitzende des saudischen Entwicklungsfonds, Yusef bin Ibrahim el-Bassam, an. Das Ziel der Delegation ist es, Investitionsmöglichkeiten im Land zu identifizieren und ein Kooperationsabkommen mit bosnischen Behörden abzuschließen. (eurasianews.de, 13.5.16)

[25] 16+1 oder 1x16? ... Seit 2012 hat China seinen Einfluss auf EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten in Zentral- und Osteuropa intensiviert, synchronisiert im Rahmen der 16+1-Organisation. Jährliche 16+1-Gipfel sind der Zusammenarbeit zwischen China und den teilnehmenden zentral- und osteuropäischen Ländern bei Infrastruktur-Projekten gewidmet, unterstützt durch einen neuen Fonds. Diese Treffen haben in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten erhebliche Spekulationen ausgelöst, ob China darauf aus ist, die Europäer zu spalten, um über sie zu herrschen. (China at the gates: A new power audit of EU-China relations, ecfr.eu, 1.12.17)

[26] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan, Brüssel, 6.2.18, S. 1 f.