§ 4
Recht – Schutz von Person – Eigentum – Moral

Die legitime Gewalt des Staates unterwirft die Bürger dem Gesetz. Der Staat verschafft dem Recht Geltung und zwingt sie dadurch zur wechselseitigen Anerkennung ihres freien Willens. Die Rechtspflege sorgt für den Schutz von Person und Eigentum sowie für die Souveränität des Staates. Sie erhält die Konkurrenz, indem sie die Freiheit der Privatsubjekte von der Übereinstimmung ihrer Handlungen mit dem Recht abhängig macht. Der Staat beurteilt alles, was die Bürger tun, danach, ob es dem Gesetz entspricht, und verleiht seinem Urteil Gültigkeit, indem er das verletzte Recht wiederherstellt. Durch die Macht des Staates ist den Handlungen der Bürger das Gesetz immanent, so dass die Bürger dessen Gebote als sittlichen Maßstab anerkennen, den sie an sich selbst und an andere anlegen: Moral.

Aus dem Buch
1979, 1980, 1999, 2008, 2024 | 144 Seiten | 15 €  Zum Warenkorb
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Gliederung

§ 4
Recht – Schutz von Person & Eigentum – Moral

Die legitime Gewalt des Staates unterwirft die Bürger dem Gesetz. Der Staat verschafft dem Recht Geltung und zwingt sie dadurch zur wechselseitigen Anerkennung ihres freien Willens. Die Rechtspflege sorgt für den Schutz von Person und Eigentum sowie für die Souveränität des Staates. Sie erhält die Konkurrenz, indem sie die Freiheit der Privatsubjekte von der Übereinstimmung ihrer Handlungen mit dem Recht abhängig macht. Der Staat beurteilt alles, was die Bürger tun, danach, ob es dem Gesetz entspricht, und verleiht seinem Urteil Gültigkeit, indem er das verletzte Recht wiederherstellt. Durch die Macht des Staates ist den Handlungen der Bürger das Gesetz immanent, so dass die Bürger dessen Gebote als sittlichen Maßstab anerkennen, den sie an sich selbst und an andere anlegen: Moral.

a)

Wenn der Staat den freien Bürger, seine Persönlichkeit und sein Eigentum schützt, indem er ihn beschränkt, dann beruht er nicht nur auf den Kollisionen der Konkurrenz; die Erhaltung der Gesellschaft, in der die Vermehrung von Eigentum, die Erweiterung der Sphäre persönlicher Freiheit, andere von der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ausschließt, bildet auch den einzigen Zweck des bürgerlichen Staates. Indem er seine Gewalt dafür einsetzt, dass von keiner Seite Übergriffe auf die Person und das ihr gehörige Eigentum stattfinden, sorgt er für die Bewahrung der Unterschiede, die er im ökonomischen Leben vorfindet, und für eine Austragung der darin enthaltenen Gegensätze, deren Resultat von vornherein feststeht. dass die gleiche Behandlung der mit unterschiedlichen Mitteln ausgestatteten Kontrahenten die beste Gewähr dafür bietet, dass die Ungleichheit fortbesteht und wächst, will den Fanatikern der Gleichheit nicht in den Kopf. In der Gleichheit sehen sie kein Gewaltverhältnis, sondern ein Ideal, an dem sie die gesellschaftlichen Unterschiede messen.

b)

Die Praktizierung dieses Ideals, die sich der Staat angelegen sein lässt, ist im Gegensatz zu solchen Auffassungen kein Unrecht, sondern der Rechtszustand. Durch den Vergleich der Handlungen von Privatpersonen mit dem Inhalt des Gesetzes erreicht der Staat, dass die Freiheit des einzelnen am Eigentum des anderen aufhört. So unterscheidet sich das Urteil im Recht wesentlich von dem in der Wissenschaft. Während das Urteil der Wissenschaft die Theorie über einen Gegenstand, seine Erklärung, darstellt, als Gedanken festhält, was er ist, hat das juristische Urteil mit der Erklärung der Handlungen, die es betrifft, nichts gemein. Was Recht ist, beschäftigt den Juristen überhaupt nicht – er weiß, dass es das Recht gibt in Form von Gesetzen, die sich nicht wissenschaftlichen Anstrengungen, sondern Gesetzgebungsakten der Staatsgewalt verdanken; und er hat nur ein Anliegen: die Handlungen der Staatsbürger daraufhin zu untersuchen, ob sie dem geltenden Gesetz ent- oder widersprechen, und durch seine theoretische Subsumtion von „Fällen“ unter das Gesetz deren praktische Subsumtion vorzubereiten. Seine Urteile sind kein Wissen, sondern Vergleiche, Abstraktionen vom konkreten Inhalt der Handlungen durch ihre Beziehung aufs Recht, denen durch gewaltsames Vorgehen gegen die Individualität objektive Geltung verschafft wird: Polizei und Justiz.

c)

Mit dem Schutz von Person und Eigentum sichert der Staat dem einzelnen eine Sphäre der Freiheit, die ihm bei der Verfolgung seiner besonderen Anliegen Grenzen setzt. Die Betätigung des freien Willens ist abhängig vom freien Willen anderer; sie wird daher rechtlich geregelt, der Staat schreibt den Bürgern die Form vor, in der sie miteinander zu verkehren haben. Die Realisierung ihrer privaten Interessen ist ihr Recht, d.h. unter der Bedingung gestattet, dass sie dem Gesetz nicht widerspricht. Der Staat setzt sein Gewaltmonopol dafür ein, dass die Kollisionen zwischen den Interessen in der Gesellschaft ohne Gewalt ausgetragen werden: die Unterwerfung aller Handlungen unter das Gesetz ist die Grundlage für die bürgerliche Definition der Gewalt als unrechtmäßiger Handlung, die manch staatstreuem Zeitgenossen die kapitalistische Gesellschaft als Idylle erscheinen lässt. Vor lauter Freude über das Gewaltmonopol des Staates vergisst der bourgeoise Verstand leicht, dass in der Geltung des Gesetzes die Abwicklung aller Geschäfte die Unterwerfung unter die Staatsgewalt einschließt, das Interesse an Freiheit auch eines an Gewalt ist.

1.

Im Zivilrecht bestimmt der Staat die Beziehungen der voneinander abhängigen Privatpersonen aufeinander. Er setzt Normen für die Handlungen fest, die aus der Betätigung der Freiheit der Person und der Nutzung des Eigentums erwachsen. Er bestimmt – die Bedingungen, unter welchen jemand als Rechtssubjekt gilt und als solches Rechtsgeschäfte abschließen kann, d.h. wann und wieweit der Wille eines Menschen von anderen respektiert werden muss, was also in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu den Selbstverständlichkeiten zählt: Personenrecht;

  • die Abwicklung von Rechtsgeschäften, ihre verschiedenen Arten, den Modus ihrer Durchführung sowie ihre Konsequenzen: weil die Privatsubjekte bei ihren Geschäften mit anderen nur ihren Nutzen im Auge haben, muss der Staat ihnen die Grundform rechtlichen Verkehrs, den Vertrag aufherrschen, und zwar durch penibelste Vorschriften bezüglich aller zum Vertrag gehörigen Momente. Das Gesetz definiert, was als Willensäußerung gilt, wann eine Willensäußerung gültig ist, was diese Gültigkeit impliziert (Schuldleistung) und wie das Leistungsversprechen einzulösen ist – und weil jeder Kontrahent dem anderen nur Mittel für den eigenen Vorteil ist, muss der Staat auch dafür sorgen, dass seine Bürger nicht über Gegenstände und Leistungen kontrahieren, die sich ihrer Verfügung entziehen. Gewaltsam bringt er ihnen den ausschließenden Charakter des von allen begehrten und geschätzten, deshalb stets missachteten Privateigentums bei: Schuld und Sachenrecht;

  • die Verhältnisse von Person und Eigentum, die sich aus ihrer Infragestellung in der Beziehung der Geschlechter und zum Kind ergeben. Diese Beziehung bedarf gesonderter Regelungen, weil sich Mann, Frau und Kind vor lauter Liebe ihrem Dasein als Rechtspersonen entgegenstellen. Der Staat zwingt sie zu einer Teilung und Gemeinschaftlichkeit von Rechten und Pflichten auch in dem Bereich, indem sie die wechselseitige Ausschließung aufgrund individueller Zuneigung aufgeben. Damit erklärt er die Sphäre häuslichen Glücks zu einem geregelten Nützlichkeitsverhältnis, weswegen der Bruch des Sakraments auch seine weltlichen Seiten hat. Vor dem Höchsten kommen niedere Instanzen! : Familienrecht;

  • die Verhältnisse von Person und Eigentum, die sich aus dem Tod von Eigentümern ergeben. Er garantiert den Fortbestand des Nutzens, den das Eigentum innerhalb der Familie erfüllt, und beschränkt daher die freie Verfügung über das Privateigentum durch Testamente, was bereits zu Lebzeiten in diversen Verboten antizipiert wird: Erbrecht.

2.

Im Strafrecht regelt der Staat die Wiederherstellung des verletzten Rechts. Im Unterschied zur Festlegung privater Ansprüche, die im Zivilrecht normiert ist und auf die Durchsetzung rechtmäßiger Verhältnisse zielt – es soll nichts Unerlaubtes geschehen –, geht es hier um die Reaktion des Staates auf Handlungen, die das Gesetz brechen. Indem diese Reaktion selbst als fester Bestandteil des Gesetzes erscheint, als Kodifizierung des Verbrechens (nullum crimen sine lege), verliert der Schutz des Gesetzes den Schein der Idylle, der ihm mit Hilfe des Vergleichs mit früheren Zuständen angedichtet wird. Wenn die Wiederherstellung des Rechts nichts mit der Macht der privaten Willkür, die auf Verletzungen reagiert, zu tun hat; wenn sie Rache, Fehde, Duell etc. selbst als Unrecht behandelt und der Standpunkt der Justiz nicht der des geschädigten Interesses, sondern der des im Staat objektiven freien Willen ist, dann erhält das Recht eine Gesellschaft, in der jeder einzelne einem Prinzip entsprechend handelt, dem der Zwang zum Unrecht immanent ist.

  • Das Schuldprinzip verlangt die Feststellung nicht nur des Vorhandenseins eines freien Willens beim Täter (Zurechnungsfähigkeit), sondern vor allem den Nachweis, dass die inkriminierte Handlung eine desjenigen freien Willens war, der sich dem Recht unterworfen weiß, das er bricht: Vorsatz – Fahrlässigkeit. Verbrechen können nur von Leuten begangen werden, die dem Gesetz gehorchen.

  • Entsprechend richtet sich die Strafe, die das Gesetz wiederherstellt, gegen ihn; sie ist Gewalt gegen Person und Eigentum, und darin dem Schuldigen (Geständnis) gemäß. Prävention und Resozialisierung sind vom Zweck der Strafe abgeleitete Zielsetzungen, die das Bewußtsein verraten, dass Strafen mit der Verhinderung des Unrechts nichts zu tun haben – was freilich die soziologischen Befürworter nützlicher Strafen nicht interessiert.

  • Wenn bei der Bestimmung des Strafmaßes für verschiedene Vergehen scheinbar widersprüchliche Maßstäbe angelegt werden (z.B. Wirtschaftskriminalität – Raub), dann belegt dies nur das unterschiedliche Interesse des Staates an den Delikten. Und wenn bei der Beurteilung der Willentlichkeit einer Handlung Affekt zum mildernden Umstand wird, konzediert das Gesetz die traurige Realität der bürgerlichen Gesellschaft: es bedarf einiger Willenskraft, um die Beschränkungen durch andere zu ertragen, weswegen auch der berechnende Wille, ansonsten sehr gefragt, als niederes Motiv zählt, wenn er das Gesetz bricht.

3.

Die Unterwerfung der Bürger unter das Gesetz, das der Staat selbst macht, entsprechend dem Gesetz zu regeln, ist Gegenstand des öffentlichen Rechts: es befasst sich daher mit der Verfassungsmäßigkeit von Form und Inhalt der Gesetzgebung und -anwendung und betrifft so verschiedene Bereiche wie

  • parlamentarische Prozeduren

  • Gerichtswesen und Polizei

  • Steuern

  • Wissenschaft usw. usw.

Insofern sich der Staat in all seinen Handlungen dem von ihm selbst gesetzten Recht unterwirft, sich als Rechtssubjekt beurteilt, wenn er seine Gesetze erlässt (Legislative), Recht spricht (Judikative) und ausführt (Exekutive), eröffnet sich die sinnreiche Frage nach dem gewaltigen Nutzen der wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten: Ideologie der Gewaltenteilung. (MEW 7/498)

d)

Die legitime Gewalt des Staates, deren beschränkende Wirkung auf die Interessen der Bürger hingenommen wird, ist Resultat von Auseinandersetzungen mit einem Souverän, dessen Macht über die Gesellschaft nicht mit ihrer Unterordnung unter die Zwecke der Gesellschaft einherging, welche den Rechtsstaat auszeichnet.

  • Gegenüber einem Fürsten, dessen Wort Gesetz war, galt es die Allgemeinheit des Rechts, die Loslösung von seinem persönlichen Willen durchzusetzen: neben die Forderung nach Freiheit und Gleichheit tritt der Kampf um die Verpflichtung der Gesetzgebung auf den Willen des Volkes, um die Unterwerfung der Regierung unter das Gesetz und die Unabhängigkeit der Gerichte: hier der Ursprung der Lehre von der Gewaltenteilung.

  • Während in anderen Ländern sich das Bürgertum darin bewährte, diesen Kampf auszuführen, zeichnete sich Deutschland dadurch aus, dass es die Notwendigkeit des bürgerlichen Staats, der nicht zustandekam, durch philosophische Traktate über seine Ideale verkünden ließ. Die Aufklärungsphilosophie und Literatur propagierte den bürgerlichen Staat mit der Deduktion seiner moralischen Prinzipien: praktische Philosophie Kants / Fichtes.

  • Die Entstehung der amerikanischen Demokratie unterscheidet sich von der Konstitution europäischer Demokratien dadurch, dass die Inbesitznahme des herrenlosen Landes, die daraus erwachsene freie Konkurrenz mit dem dazugehörigen Recht des Stärkeren die Bürger zwang, einen Staat zu machen. Der Staat war als Resultat der Aktivitäten der freien Eigentümer, die der Staatsgewalt nur soweit Hoheitsrechte übertrugen, wie es für die Konkurrenz nützlich erschien, von vornherein nur Mittel für die Interessen des Volkes: erste Demokratie mit ihren heute noch rauhen Sitten.

e)

Seines Vorteils wegen will der Bürger das Recht, das ihm zugleich als Beschränkung entgegentritt; mit seinem Nutzen muss er also auch seinen Verzicht wollen: Moral. Er rechtfertigt seine Unterwerfung unter die Gewalt, die ihm schadet, mit dem Ideal dieser Gewalt und ergänzt den ihm auferlegten Zwang durch seine Tugend. So gehorcht er nicht nur dem Gesetz, er hat auch eine rechtliche Gesinnung, die ihn seinen Gehorsam ertragen lässt. Alle seine Handlungen misst er am Ideal der Rechtschaffenheit, und weil er in der Verfolgung seiner Vorteile seine Pflichten beständig verletzt, tut er dies mit schlechtem Gewissen. Die Gewohnheit des dabei erreichten Vorteils mag ihn die Beurteilung seines Tuns als Gut oder Böse vergessen lassen, das Urteil anderer bringt sie ihm beständig in Erinnerung, ebenso wie er selbst den anderen gegenüber als schlechtes Gewissen fungiert: öffentliche Heuchelei. Hier gelingt der moralischen Betätigung der eindrucksvolle Nachweis, dass das Gute nur Schein ist, und als Ideal die besten Dienste leistet, weswegen ein Idealist derjenige verächtlich genannt wird, der die Ideale zu praktizieren sich anschickt. Während die Bürger ihrer Jugend gestatten, gewissen Idealen anzuhängen – sie sind sich sicher, dass die harte Welt des Erwerbs auch die Begeisterung für die Ideale in die schlichte moralische Funktionalisierung derselben für den Eigennutz verwandelt –, wird ihnen der Moralismus Erwachsener zum lästigen Charakterzug. Einem Erwachsenen Idealismus bescheinigen heißt daher stets auch, ihn der Realitätsblindheit, -untüchtigkeit bezichtigen, was auch gegenüber Kommunisten üblich ist, solange sie keine Gefahr darstellen.

Die Moral ist also alles andere als ein überflüssiges Beiwerk im bourgeoisen Zirkus, sondern die Versubjektivierung des Zwangs, auf den man um des eigenen Erfolgs willen eingeht, die Einstellung, die man benötigt, um mit dem Verzicht, den der Erfolg fordert, zurechtzukommen. Sie überdauert sogar längere Perioden, in denen sich partout kein Fortkommen abzeichnet, und erweist sich als ihrem Zweck gemäß auf der Sonnen-wie auf der Schattenseite der Gesellschaft. Den einen dient sie als willkommene Ergänzung ihres Vorteils – légèrement verkünden sie, dass ihnen um Höheres zu tun sei, mit Sprüchen über das Gute, Wahre sowie Schöne; den anderen bietet sie in ihren vulgären Formen Trost angesichts ihres Elends; und beiden Seiten ist sie praktizierte Enthaltsamkeit in Sachen Veränderung.

So nimmt es nicht wunder, dass in der modernsten aller Gesellschaften radikale Kritik im Moralismus ihrer Adressaten eine harte Nuß zu knacken hat, und dies nicht nur im Moralismus als theoretischem, als Form des falschen Bewußtseins. Die Ideale des Altruismus, der Bescheidenheit, der Ehrlichkeit, des Mitleids, der Nächstenliebe etc. zu praktizieren, drängt es das Volk, von der Näherin bis zur Präsidentengattin; und alle tragen ihr Scherflein zur Krebshilfe bei; in der Aktion Sorgenkind kann man dasselbe mit dem Anreiz eines möglichen Gewinns tun. Sie versammeln sich in Vereinen zur organisierten Verdummung und Verwahrlosung der Jugend, in dem festen Glauben, hier hätten sie Gelegenheit zu dem, was ihnen das normale Leben versagt: Gemeinsamkeit der Zwecke mit anderen, Solidarität, Freundschaft – sie kompensieren den Zwang zur Konkurrenz gegen andere mit der widerlichen Vereinigung auf Basis ihrer Ideale, selbst dann, wenn sie ihr Idealismus weitere Opfer kostet.

Die Religion nimmt bei alledem den ersten Rang ein. Das Christentum ist von Marx als dem Kapitalismus entsprechende Religion bezeichnet worden. Der Kult des abstrakten Christenmenschen praktiziert die Vorstellung von Gott als dem obersten allmächtigen Richter, dem man so gut wie alles verdankt, von dem man andererseits auch nichts geschenkt bekommt – außer der Gnade, auf sich als Erbsünder höllisch aufpassen zu dürfen. Jeder sündigt, bekennt sich reumütig dazu und spielt sich ganz bescheiden als Richter über die Taten anderer auf. Kleine Unterschiede sind auch bei dieser Form der „geistigen Unterwerfung“ in der Gemeinde Christi nicht zu übersehen: die einen predigen und erziehen anderen die gebotene Moral an, was ein echter Beruf geworden ist – die anderen machen sie sich zueigen, und ihre Heuchelei auf dem Felde christlicher Maßstäbe nimmt eher amateurhafte Züge an. Der neben dem Materialismus der kapitalistischen Gesellschaft praktizierte Idealismus der Religion kann die schwindende Botmäßigkeit der Menschen – die aus der Kirche austreten, weil diese sich nicht auf die theoretische Propaganda der Moral beschränkt, sondern aus dem Glauben ihrer Gemeinde die Vorschrift zu weltlichem Engagement gemacht hat; der mangelnden Attraktivität säkularisierten Glaubens entspricht die Einmischung der Institution quasi als Interessenverband – umsomehr verkraften, als der Staat im christlichen Krankenpfleger und Jugendpfarrer längst die nützliche Seite des Glaubens entdeckt hat und Kirchensteuer verlangt. Der Eifer christlicher Caritas gestattet ganz nebenbei den Haß gegen Leute zu erwecken, die weder tierlieb sind noch praktisch den Fortbestand des bürgerlichen Elends unterstützen, indem sie die anderen abverlangten Opfer um ihr eigenes bereichern.

f)

Die Logik des moralischen Denkens entspricht seinem Grund, dem Preis der Unterwerfung unter den Staat, den man für die goldene Freiheit entrichten muss. Wo der mit den staatlichen Einschränkungen einverstandene Bürger anderen gegenüber seinen Vorteil herausschlagen will, kommt er ihm mit dessen eigenen Nachteil daher sowie der Herleitung eines allgemeinen Schadens, der sich einstellt, wenn sich der Kontrahent von dem nicht abbringen lässt, was er vorhat. Die Normalform der Missbilligung unterscheidet sich erheblich von Kritik: an den Zwecken, die in unserer schönen Gesellschaft von Staats wegen gebilligt und verordnet werden; sie richtet sich stets gegen die Freiheit anderer und will sich die existente Gewalt nützlich machen. Dies ist übrigens nicht nur in den kleinen zwischenmenschlichen Ekelhaftigkeiten üblich, sondern auch bei der öffentlichen Verhandlung von Grundsatzfragen der Lebensordnung und was sich generell so gehört. Während die Gesellschaftstheorie des anständigen Bürgers starke Übergänge zur faschistischen Verurteilung selbst noch der kleinsten Freiheiten, die sich einer herausnimmt, aufweist („Wo kämen wir denn hin, wenn das alle täten!“), macht die revisionistische Moralphilosophie die Aufteilung der Bürger und ihrer Handlungen in nützlich/gut – schädlich/böse etwas anders. Der feste Standpunkt der Massen hat freilich mit Marx nichts zu tun, obwohl der als Berufungsinstanz herangezogen wird: der Klassiker hat das Kapital und deswegen die Kapitalisten kritisiert, ist daher auch nicht auf Bündnisse mit süßen kleinen Kapitalisten verfallen. Auch waren die Massen bei ihm nicht entrechtet und gut und das Finanzkapital (ein schöner Berührungspunkt mit den Faschisten!) nicht ungerecht wie auch sonst alles Unangenehme. Die moralische Gesellschaftskritik, die unter den Anmerkungen zur Ideologie bei jedem §§ zusammengefaßt wird, ist logisch gesehen Quatsch erster Ordnung, aber ihre Wirkung als Beitrag zum geordneten Zusammenleben in einer Demokratie ist eine ungeheure –was die Spontaneisten aller Länder bemerken und betont unmoralisch das Bedürfnis der Individualität kultivieren gegen deren Zähmung. An der bürgerlichen Integration der entsprechenden Einfälle – insbesondere in Sachen grüne Welt und Sexualität – beweist sich die Toleranz der öffentlichen Ordnung: ein klein wenig aus der Reihe tanzen geht – wenn’s den Gang des Kapitals und des Staatslebens allerdings stört, gibt’s Krach. Selbstverständlich gehören die Formen der Durchsetzung des Rechtsstaats ins Arsenal der Stereotype, mit denen ihm kritisch gehuldigt wird: Französische Revolution mit ihren großartigen Ideen, Kantische Philosophie mit ihrem moralischen Sternenhimmel und Wilder Westen sind bleibende Requisiten moderner Moral.