Anschläge in Paris
Ein Hochamt des abendländischen Nationalismus – alle sind Charlie

In Paris verdienen sich seit Jahren ein paar Schreiber und Zeichner einen bescheidenen Lebensunterhalt mit der Produktion eines satirischen Blattes – Charlie Hebdo –, das sich auf Respektlosigkeiten gegenüber großen Religionsgemeinschaften und ein wenig Blasphemie deren Götter betreffend spezialisiert hat. Das wird in einer kleinen Nische der bürgerlichen Meinungsvielfalt von ein paar Freunden laizistischer Lebensart und anderen, die die gottgläubigen Reaktionäre aller Couleurs für einen beleidigungswürdigen Gegner halten, gern genommen. Empörte Reaktionen der Betroffenen bestätigen den Blattmachern, dass sie richtig liegen, und Todesdrohungen aus Kreisen radikaler Moslems, die schon einmal ihre Redaktionsräume angreifen und Polizeischutz erforderlich machen, lassen sie in den eigenen Augen als veritable Helden des freien Meinens erscheinen, denen es erlaubt sein muss, gerade dem weltpolitisch gefährlichen und sittlich grundfalschen „Islamismus“ den Spiegel vorzuhalten. Ein Leben ohne ihre gemalten Injurien, vor allem gegen Allah und Mohammed, aber auch gegen deren jenseitige Kollegen, erschiene den Leuten von Charlie wie eine traurige Existenz auf den Knien, der sie ein aufrechtes Sterben vorzögen, wie der Chefredakteur gelegentlich kundtut.

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Anschläge in Paris
Ein Hochamt des abendländischen Nationalismus – alle sind Charlie

In Paris verdienen sich seit Jahren ein paar Schreiber und Zeichner einen bescheidenen Lebensunterhalt mit der Produktion eines satirischen Blattes – Charlie Hebdo –, das sich auf Respektlosigkeiten gegenüber großen Religionsgemeinschaften und ein wenig Blasphemie deren Götter betreffend spezialisiert hat. Das wird in einer kleinen Nische der bürgerlichen Meinungsvielfalt von ein paar Freunden laizistischer Lebensart und anderen, die die gottgläubigen Reaktionäre aller Couleurs für einen beleidigungswürdigen Gegner halten, gern genommen. Empörte Reaktionen der Betroffenen bestätigen den Blattmachern, dass sie richtig liegen, und Todesdrohungen aus Kreisen radikaler Moslems, die schon einmal ihre Redaktionsräume angreifen und Polizeischutz erforderlich machen, lassen sie in den eigenen Augen als veritable Helden des freien Meinens erscheinen, denen es erlaubt sein muss, gerade dem weltpolitisch gefährlichen und sittlich grundfalschen „Islamismus“ den Spiegel vorzuhalten. Ein Leben ohne ihre gemalten Injurien, vor allem gegen Allah und Mohammed, aber auch gegen deren jenseitige Kollegen, erschiene den Leuten von Charlie wie eine traurige Existenz auf den Knien, der sie ein aufrechtes Sterben vorzögen, wie der Chefredakteur gelegentlich kundtut.

Die blutige Tat dreier islamischer Attentäter hat sie Mitte Januar ganz unfreiwillig beim Wort genommen und neben zwölf Redaktionsmitgliedern einen Polizisten und vier jüdische Supermarktkunden das Leben gekostet, als eine Attacke von Terroristen in einem Aufwasch die Beleidigungen des Propheten rächen, Angriffe auf ihre Glaubensbrüder von IS und Al Kaida vergelten und gleich noch ein paar von ihren jüdischen Erzfeinden umbringen sollte.

Der terroristische Feind trifft – auf eine kämpferische Einheit von Volk und Führung

Was wie ein grausam schlechter Witz klingt, bekommt durch die öffentlichen Reaktionen auf das Ereignis eine ganz andere Bedeutung: Präsidenten und Regierungschefs, regierende und kommentierende Franzosen, Europäer, Amis und die UN erklären unisono auf allen Kanälen, der Anschlag habe uns allen gegolten, unserer Freiheit und Zivilisation. Teile der Bevölkerung haben das offenbar genau so verstanden und eilen zu spontanen Solidaritätsbekundungen auf öffentliche Plätze. Erregte Journalisten und politische Analysten bekräftigen es immer aufs Neue: Der Terror richtet sich gegen den Westen, die Demokratie und die Pressefreiheit (Ein Sprecher der Stiftung Wissenschaft und Politik im ZDF, 18.1.15), was widerspruchslos geteilt wird und die europaweite Inszenierung kollektiver Betroffenheit mittels eindrucksvoller Großdemonstrationen gegen Gewalt und für die Pressefreiheit zu einem gewaltigen Erfolg macht. Der liegt für die Veranstalter nicht zuletzt darin, dass die Massen der Teilnehmer mit ihnen darin übereinstimmen, spontan oder unter Anleitung, dass ein Ereignis wie das Pariser Massaker kein Anlass ist, Sachen auseinanderzuhalten, die nicht zusammen gehören: Da fallen dann, so wie es sein soll, menschliches Entsetzen über die Opfer in eins mit der Empörung über den Angriff auf ein Gemeinwesen, das mit seiner Gewalttätigkeit nach innen und außen seit vielen Jahren viel Feindschaft auf sich zieht und seine Bürger mancher Feindschaft aussetzt; was die dann eben, wenn alles durcheinandergeht, nicht daran hindert, massenhaft ihre allerabstrakteste Gemeinsamkeit mit den Opfern – ungefragt Angehörige desselben Staatswesens zu sein – als persönliche Betroffenheit und Mitleid zu empfinden. So wird einmal mehr – und in krisenhafter Lage – die unverbrüchliche Identität von staatlichem Zwangskollektiv und menschlichem Individuum „bewiesen“, jenseits aller Gegensätze, die es im wirklichen Leben der Nation zwischen ihnen geben mag.

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Bei dem großartigen Gefühl der Zusammengehörigkeit von Volk und Führung in der Not soll es nicht bleiben. Den Kundgebungen von Millionen von Demonstranten mit geschwungenen Zeichenstiften, die alle behaupten, Charlie zu sein, entnehmen die europäischen Regierungen ganz souverän den Auftrag, die Freiheit, speziell die moderne Meinungs- und Pressefreiheit, die sie ihren dankbaren Völkern spendiert haben und zu deren Betreuung nur sie allein befugt sind, gegen mittelalterlich denkende Glaubensfanatiker zu verteidigen, die den Primat der weltlichen Herrschaft und ihrer Werte gegenüber ihrer privaten muslimischen Überzeugung nicht verstehen wollen. Charlie soll jetzt der Vorname jedes patriotischen Europäers gegen islamischen Terror sein und die regierenden Europäer übernehmen zuständigkeitshalber den Verteidigungsauftrag, so wie sie ihn verstehen wollen. Von ihren Schutzbefohlenen ernten sie keinen Widerspruch in dieser schweren Stunde: Die verstehen sich eben gerade umstandslos als Anhänger der Freiheit im Allgemeinen, ungeachtet dessen, wie die sich in Gestalt der ihnen aktuell zudiktierten Lebensumstände tagtäglich darstellt, und der Meinungsfreiheit im Besonderen, ohne die den Demonstranten das Leben offenbar kaum mehr lebenswert erscheint, auch wenn deren Gebrauch nicht eben zu den Hauptbeschäftigungen eines gewöhnlichen Werktags in der kapitalistischen Gesellschaft gehört. Von der Abstraktion einer höchstwertigen Lizenz zur Äußerung von gleichgültigen Ansichten, deren praktische Umsetzung stets unter dem Vorbehalt obrigkeitlicher Genehmigung steht, soll bei den Feierlichkeiten im Angesicht des Anschlages nur ein leuchtendes freiheitliches Dürfen stehen bleiben.[1] Dem wird zu seiner Veredelung sogar noch der Tod des von den Attentätern erschossenen Polizisten als Opfertod für die Pressefreiheit zugeordnet, indem ihm ein einfühlsamer Interpret posthum die Worte in den Mund legt:

„Ich bin nicht Charlie, ich bin Ahmed der tote Polizist. Charlie hat meinen Glauben und meine Kultur lächerlich gemacht, und ich starb in Verteidigung seines Rechts, das zu tun.“ (SZ,14.1.15)

Damit bei der öffentlich animierten, demonstrativen Identität von oben und unten unter dem Motto Je suis Charlie nichts im Ungefähren bleibt, bemüht man sich um die Verdeutlichung und Vereinheitlichung dessen, was einer meint, wenn er sich dieser Parole anschließt:

„Der Dreiwortsatz, ans Revers geheftet oder als Schild auf einer Demonstration getragen, meint: Ich protestiere gegen die Gewalt als Antwort auf Karikaturen. Ich bin mit gemeint, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird. Und wenn der Satz, wie bei der Demonstration in Paris am vergangenen Sonntag, auf den Arc de Triomphe projiziert wird oder öffentliche Gebäude schmückt, bekräftigt er indirekt auch das Gewaltmonopol des modernen Staates.“ (SZ, ebd.)

In dem famosen „Dreiwortsatz“ äußert sich also – gefälligst! – die hinter der angegriffenen Staatsgewalt versammelte Einheit der Nation, wie sie in der Konfrontation mit dem Feind eben nur der Krieg kennt. Und dementsprechend überführen die Chefs der europäischen Nationen und ihre öffentlichen Interpreten den Terroranschlag in eine Schlacht in einem Krieg, der – wie stets – zwischen Gut und Böse stattfindet.

Die Leistung des islamistischen Feindbildes für die Erklärung der Feindschaft

Die moralische Sortierung der kämpfenden Parteien ist, wie schon gesehen, nicht besonders schwierig, im Zweifel sind die Organe der Öffentlichkeit und die politische Führung behilflich:

„ … die Menschen begriffen: Sie haben uns alle treffen wollen, sie wollten unser Frankreich ermorden, die Republik, die Demokratie.“ Die Attacke richtete sich „gegen die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution. … Es geht um die Freiheit. Um Menschlichkeit. … Es geht hier nicht einmal nur um die Demokratie sagte der Expräsident (Sarkozy). Es geht um die Zivilisation.“ (Nicht Wagner von Bild, sondern Der Spiegel, 3/2015)

Was hier ein wenig nach Mongolensturm, Hunneneinfall oder Naziüberfall klingt, soll die kaum zu übertreffende Verwerflichkeit des Geschehenen klarstellen, und dass „wir“ uns deswegen nicht in der Lage sehen, irgendeinen Grund anzuerkennen oder „uns“ auch nur vorzustellen, in dessen Namen man gegen die hier beispielhaft auf engstem Raum akkumulierten Höchstwerte der Menschheit derart brutal vorgehen könnte; demnach sind die drei Terroristen, denen aus „uns“ befreundeten, also rechtgläubigen islamischen Kreisen im In- und Ausland auch jede religiöse Rechtfertigung bestritten wird, tatsächlich grundlos über die edelsten Güter hergefallen, in fanatischem Hass gegen alles Wahre, Gute und Schöne. Die bekannt gewordenen, kurzen Auskünfte der Angreifer vor und während der Tat, die Beleidigungen des Propheten und die Angriffe auf die Glaubensbrüder von IS und Al Kaida vergelten zu wollen, werden dem Feindbild der grundlos fanatisierten Bosheit subsumiert. Und die nachgeschobenen Sittenbilder eines trostlosen Aufwachsens in islamisch geprägten Banlieues, religiöser Sinnsuche von Konkurrenzverlierern und islamistischer Verführung informieren das Publikum nur über das soziale, psychologische und kriminologische Terrain, auf dem sich dann die – letztlich unbegreifliche – Entgleisung zum Terror gegen unsere höchsten Werte abspielt.

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Tatsächlich ist das Pariser Massaker nur einer der unzähligen Anwendungsfälle, in denen sich das westliche Feindbild vom letztlich grund- und zwecklosen islamistischen Terrorismus seit längerem bewährt. Die moralische Verteufelung des Widerstandes, den früher Staaten, heute eher „asymmetrische“ terroristische Vereine, der kriegerischen Praxis des Westens bei der Neuordnung des Nahen Ostens nach „Nine Eleven“ entgegensetzen, sorgt im öffentlichen Bewusstsein der für die Weltordnung verantwortlichen Nationen für die flächendeckende Anwendung jener auch in Paris in Anschlag gebrachten sauberen Abstraktion: Zielstrebig abgesehen wird nämlich beim ‚Abscheu‘ über die feindlichen ‚Untaten‘, dass es für die betroffenen Völkerschaften irgendwie ein guter Grund ihrer Feindseligkeit sein könnte, dass die westlichen Staaten ihre Feindschaft gegen weltordnungswidrige Regime praktizieren und im Zuge dessen die Heimatländer der Muslime zwischen Libyen und Pakistan mit verheerenden Kriegen und Bürgerkriegen überziehen.

Die Kriege zur Zerschlagung des Taliban-Regimes in Afghanistan und des Saddam-Staates im Irak, die gewaltsame Beseitigung Gaddafis in Libyen und die fortdauernde Unterstützung Israels bei der Kontrolle und Bekämpfung palästinensischen Widerstandes durch die USA und die europäischen Staaten haben bekanntlich weite Teile der arabischen Welt empört und ganze Staaten in Trümmer gelegt. Dies unter dem Titel der Korrektur und eines demokratischen Neuaufbaus von Nationen – nation building –, die seit den Al-Kaida-Angriffen auf New York als weltpolitische Störfälle identifiziert wurden. Weder Hunderttausende von Toten, noch die Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen und auch nicht die massenhafte Verletzung der Grundsätze westlich-,humanitärer Kriegsführung und heiliger Rechtsstaatlichkeit durch lässig eingestandene „Kollateralschäden“ und öffentlich bekannt gemachte – und dadurch schon wieder verziehene – Folterpraktiken konnten die Völker des christlich-jüdischen Abendlandes in ihrer felsenfesten Zutraulichkeit zu ihren kriegführenden Regierungen sonderlich beeindrucken. Anmerkungen, wonach der Krieg der Terror der Reichen, der Terrorismus hingegen der Krieg der Armen sei, kursieren allenfalls als moralische Bonmots und stellen abweichende Meinungen dar: Die zuständigen Regierungen können sich darauf verlassen, dass die Bevölkerung wenige und wenn die passenden Gedanken darauf verschwendet, welche Politik sie eigentlich von den gewaltsamen Gegensätzen der Weltpolitik betroffen macht, und darauf, dass in den Fällen, in denen der Terror wieder einmal „Europa erreicht“, das Volk als antiterroristische Heimatfront in Treue fest zu seinen Kriegsherren steht.

Das Feindbild vom islamischen Terrorismus wird also durch die Weltordnungskriege des Westens nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt: Gelten diese doch weitgehend unbestritten als die bewaffnete Konsequenz, mit der die demokratische Welt dem terroristischen Widerstand gegen eine bessere Welt entgegentreten muss – und dies nach dem Geschmack der öffentlichen Anwälte der Verteidigung unserer Werte gegen die Barbarei oft sogar viel zu zögerlich und inkonsequent tut. Parallel zum westlichen Truppenrückzug aus Afghanistan und Irak, wo die Erfolge bei der Zerstörung der Länder durchschlagend, die bei der Verankerung verlässlicher demokratischer Herrschaftsformen dafür weniger eindrucksvoll waren, wird die einschlägige demokratische Bildungsmaßnahme zurückgerufen und von Obama der nächste Krieg in der Region angekündigt. Der geht gegen den dort real existierenden Inbegriff des islamistischen Bösen, den IS, nebenbei noch gegen Syrien und ein bisschen auch gegen den Iran, und ist auf mindestens zehn0 Jahre terminiert. Die über die Gefährlichkeit des Feindes bestens informierte Öffentlichkeit erspart dabei den Kriegsherren nicht die kritische Nachfrage, ob der neue Waffengang mittels Drohnen, leading from behind, no boots on the ground und unter Einsatz der dortigen verbündeten Regionalmächte überhaupt in der nötigen Härte zu führen ist, wie sie der fanatisierte Gegner erfordern würde.

So ist das sorgsam gemalte Bild vom bösen Feind erzieherisch erfolgreich, indem es alle wirklichen Gründe bestehender Feindschaft vergessen macht, die Kriegsgründe der westlichen Regierungen beglaubigt und selbst noch die Fortführung des Kampfes gegen die Resultate der eigenen Kriegsführung ins Recht setzt und in eine Defensive der guten Weltmächte gegen die Bosheit von blindwütigen Terroristen umlügt. Das geht gut, weil der Erfolgsmaßstab für die westlichen Kriegsparteien in der demokratischen Öffentlichkeit sehr anspruchsvoll ist. Unerwünschte Nebenwirkungen der langjährigen Kampagnen im einschlägigen „Krisenbogen“ – vor Ort der IS und zu Hause die Radikalisierung von Teilen der islamischen Gemeinden – lassen die Herren über die größten Kriegsmaschinerien der Geschichte wie blamiert aussehen: weil sie es nicht verhindern, dass antiwestliche Krieger im Namen Allahs sich aus den Kriegsschauplätzen in Syrien und im Irak ein Stück Land für ihr kriegstüchtiges Kalifat herausschneiden, dort westliche Journalisten köpfen, oder empörte Muslime zu Hause Anschläge wie in Paris und anderswo verüben.

Dabei ist im Übrigen anzumerken, dass die Kämpfer Allahs hinsichtlich ihres Feindbildes ihren machtvollen Gegnern bei der interessierten moralischen Verdrehung der Welt in nichts nachstehen: Die für manche muslimische Staaten so zerstörerischen Bestrebungen der imperialistischen Führungsnationen, die Störenfriede ihrer Weltordnung zu eliminieren, nehmen die politisierten Gottgläubigen vor allem wahr als die Beleidigung ihres jenseitigen Herrn, seines Propheten und ihrer gottesfürchtigen Gemeinschaft. Auch diese Dummheit hat ihren guten Sinn: Sie macht ihre Rache von Grund auf gerecht und zur Pflicht jedes Gläubigen, und als Objekte ihrer Vergeltung grundsätzlich jeden Ungläubigen geeignet, zumal wenn er als offener Feind der Muslime erkannt oder Jude ist oder sonst unterstützend zu einer gottesfeindlichen Staatsmacht steht. So können die terroristischen Rächer des Glaubens beim wahllosen Zuschlagen gegen die Bürger der Feindstaaten gar nichts falsch machen.

Westliche Höchstwerte in der Defensive – das kostet

Leicht wie sonst nie gelingt es Regierungen nach Anschlägen wie in Paris, ihre Völker um sich zu scharen, die sie mit ihren imperialistischen Ambitionen zu Objekten eines für die Betroffenen fürchterlichen, weltpolitisch ohnmächtigen Gegenterrors gemacht haben. Gegen diese Bedrohung rufen die Chefs des christlichen Abendlandes die gemeinsame Verteidigung der Freiheit aus, die seit Jahren in Bagdad und am Hindukusch stattgefunden hat und jetzt gegen einen ebenso bösartigen wie unberechenbaren Feind auf heimatlichem Boden organisiert sein will. Sie begeben sich gerne in die Pose des Angegriffenen, der, zur Defensive gezwungen, unbeugsam seine Werte verteidigt, voller Sorge zwar, um diese und die ihm zum Schutz anempfohlene Herde, aber ohne Angst (Innenminister de Maizière).

Derlei Aufführungen haben eine reale Grundlage in einem Drangsal hiesiger Innenpolitik bei der polizeilichen Kontrolle und geheimdienstlichen Überwachung der muslimischen inländischen Gemeinde, die einhergeht mit deren Bewirtschaftung als erwünschte Arbeitskräfte im Dienst am europäischen Wachstum. Weil dieser Bevölkerungsanteil durchaus wächst, einerseits wegen ständiger neuer Flüchtlingswellen aus den Kriegsgebieten, andererseits wegen des Bedarfs europäischen Kapitals an ausländischer Arbeitskraft, ist da viel auf die Reihe zu bringen:

  • Die Mitglieder der muslimischen Gemeinden haben ja nicht weniger Grund zur Unzufriedenheit als andere Konkurrenzteilnehmer, wenn der erhoffte Erfolg beim Erwerb eines guten Lebens und angemessener Anerkennung ausbleibt; sie haben aber in ihrem Glauben ein alternatives Sinnangebot, dem die zuständigen Behörden nicht trauen, weil es dem Generalverdacht unterliegt, sie empfänglich für islamistische Agitation und deswegen unberechenbar für inländischen Kontrollbedarf zu machen. Dieses Misstrauen hegt die Bevölkerung schon lange, sodass insgesamt in solchen Zeiten das Risiko der Gemeindemitglieder steigt, der Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft zum Opfer zu fallen, die sie noch nie recht leiden konnte.
  • Die hält es vielmehr für die Pflicht der Muslime, sich öffentlich von den Übergängen ihrer radikalen Glaubensbrüder zu distanzieren. Das tun sie dann auch, demonstrieren fleißig mit gegen deren Taten, versuchen so den allgegenwärtigen Verdacht gegen sich auszuräumen und erleben stets aufs Neue, dass es eigentlich unmöglich ist, dagegen den Beweis der eigenen Zuverlässigkeit zu führen.
  • So ergeht an sie ein ums andere Mal der öffentliche Wunsch nach noch schärferen Verurteilungen – Merkel hätte sich da mehr erwartet –, nach zuverlässiger Unterordnung ihrer Gläubigen und ihrer religiösen Wallungen unter geltendes Recht und ehrliche Begeisterung für die europäische Freiheit zur Beleidigung des Allerhöchsten.
  • An die organisierten Muslime im Land sind auch die Forderung und das Angebot adressiert, endlich organisatorische Fortschritte hin zu einer Art europäisch-muslimischer Kirche zu machen, die sich einreiht neben den anderen unverbindlichen, privatreligiösen Welt- und Himmelsanschauungen, weil die staatlichen Verwalter des organisierten Gottesglaubens im Land offenbar darauf setzen, dass die ordentliche rechtliche Verfasstheit einer religiösen Gemeinde zur Befriedung ihres Glaubens als Privatangelegenheit der Mitglieder viel beitragen könne.
  • Weil Polizeipolitiker nicht daran glauben, dass das schnell genug geht und hundertprozentig erfolgreich ist, schon gar nicht gegen unbekannte private Einzeltäter, denken sie jedenfalls entschlossen vorwärts und erweitern ihre analogen und digitalen Kontrollkompetenzen, stehen nach Möglichkeit jedem reiselustigen Amateurdschihadisten auf den Füßen, um ihn schnell einbuchten zu können, betreuen ihn dort mit mäßigender Seelsorge, entziehen Pässe und Personalausweise und schaffen massenhaft neue Arbeitsplätze im Polizeiwesen: Allein in Frankreich investiert man fast eine Dreiviertelmilliarde Euro zusätzlich in Ausrüstung und Personal der Ordnungsmacht, einschließlich zahlreicher muslimischer Gefängnisgeistlicher.

Im Übrigen ermahnt man sich quer durch das freiheitliche Europa gegenseitig dazu, bei der kritischen Auseinandersetzung mit den Anhängern Allahs nur wegen der Anschläge in Paris ja nicht zu viel Rücksichtnahme walten zu lassen: Selbstzensur bei der Pflege des Feindbildes durch die „Schere im Kopf“ wäre ein Sieg der Terroristen, den man ihnen auf keinen Fall zugestehen darf. Auch „überzogene Sicherheitsmaßnahmen“ seitens der Behörden gegen künftige Anschläge, unter denen unsere Freiheit leiden könnte, würden deren Feinden einen Triumph schenken, den wir ihnen nicht gönnen dürfen.

Der Innenminister, ganz abgeklärt, verspricht, das Nötige zu tun, und verweist darauf, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann. (De Maizière) Wenn man im Kampf mit diesem Bösen steht, das nur die Sprache der Gewalt versteht (Obama zum IS), braucht man seinem tapferen Volk eben nicht mehr an Beruhigung anzubieten.

[1] Dazu auch in GegenStandpunkt 1-06, der Artikel Ein Kreuzzug für die Meinungsfreiheit, in dem es schon einmal um die Aufregung über – damals dänische – „Mohammed-Karikaturen“ ging, dort auch der kleine Exkurs zum Höchstwert Meinungsfreiheit.