Staatskrise in der Türkei:
Nationalisten zerlegen ihren Staat

Ende Juli wird der offene Ausbruch einer Staatskrise in der Türkei im letzten Moment abgewendet. Ein Verbot der regierenden Partei AKP durch das Oberste Verfassungsgericht stand im Raum; entgegen der allgemeinen Erwartung nimmt das Gericht von einem solchen Verbot aber doch Abstand. Dieser Prozess ist die letzte Zuspitzung in einem Machtkampf zwischen zwei Fraktionen der politischen Klasse in der Türkei. In diesem Machtkampf geht es um die Frage, welche Rolle der Islam im politischen und gesellschaftlichen Leben der Nation spielen soll und darf – da ist es eigentlich kein Wunder, dass diese Auseinandersetzung an die Grundfesten des türkischen Gemeinwesens rührt.

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Gliederung

Staatskrise in der Türkei:
Nationalisten zerlegen ihren Staat

I. Ein türkischer Streit um den Islam stößt auf Unverständnis im Westen

1. Verkehrte Fronten

Ende Juli wird der offene Ausbruch einer Staatskrise in der Türkei im letzten Moment abgewendet. Ein Verbot der regierenden Partei AKP durch das Oberste Verfassungsgericht stand im Raum; entgegen der allgemeinen Erwartung nimmt das Gericht von einem solchen Verbot aber doch Abstand. Dieser Prozess ist die letzte Zuspitzung in einem Machtkampf zwischen zwei Fraktionen der politischen Klasse in der Türkei. In diesem Machtkampf geht es um die Frage, welche Rolle der Islam im politischen und gesellschaftlichen Leben der Nation spielen soll und darf – da ist es eigentlich kein Wunder, dass diese Auseinandersetzung an die Grundfesten des türkischen Gemeinwesens rührt. An der Frage, ob Staaten sich islamisch oder gleich islamistisch ausrichten, entscheidet sich ansonsten deren politisches Schicksal; das Feindbild des antiwestlichen Islamismus verleiht einem ganzen Antiterrorkrieg seine politische Legitimation. Da ist man sich in den Regierungsämtern und Schreibstuben der imperialistischen Hauptmächte einig: Eine Staatsgewalt, die den Islamismus bei sich duldet oder auch nur nicht entschieden genug bekämpft, ist ein unsicherer Kantonist, der dem Terrorismus einer Al Kaida zumindest Vorschub leistet. Ein Staat gar, der in Verdacht steht, sich als islamischer Gottesstaat zu verstehen, verfolgt ein gegen die westliche Zivilisation gerichtetes Staatsprojekt und muss entschieden bekämpft werden.

Ganz anders im Falle der Türkei: Wenn sich dort die politische Klasse an der Frage des Islam entzweit, will man hierzulande von einem Grundsatzkonflikt einfach nichts wissen. Die Frage, ob dieses Land angesichts von 6 Jahren AKP-Regierung in Richtung Islamismus abdriftet, finden hiesige Beobachter eher abseitig – mehr noch: Die Partei, die sich zum Protagonisten einer neuen Rolle des Islam in der Türkei macht, findet im Namen der Religionsfreiheit sogar bei Leuten Verständnis, die bei sich daheim in jeder kopftuchtragenden Lehrerin einen Anschlag auf die heiligsten Werte der westlichen Welt entdecken. Im Falle der Türkei gibt man sich ganz liberal und spielt die Gefahr herunter, vor der die Gegner der AKP warnen; der alten politischen Garde der „Kemalisten“, mit der man jahrzehntelang im Rahmen der NATO bestens kooperiert hat, verweigert man die Anerkennung als standhafter Vertreter westlicher Werte, schilt sie rückständig und borniert und kennzeichnet ihre Befürchtungen als überzogen und lächerlich.[1] Das Verbotsverfahren gegen die AKP stößt bei den Regierungen in Europa und den USA auf hochgradige Missbilligung. Aus Brüssel ergeht die Warnung an die türkische Justiz, sich nicht mit dem Verbot einer mehrheitlich gewählten Partei gegen hehre Prinzipien der Demokratie zu versündigen; man lässt durchblicken, dass der EU-Beitritt der Türkei dadurch einen Rückschlag erleiden könnte. Die Ablehnung des Verbotsantrags wird im westlichen Ausland mit Erleichterung zur Kenntnis genommen: Nach allgemeinem Dafürhalten hat die Vernunft den Sieg davon getragen, und als wäre das Ganze ein oberflächlicher Parteienstreit, richtet man an die verfeindeten Seiten die Mahnung, sich zusammenzuraufen und zu versöhnen, damit das türkische Gemeinwesen keinen weiteren Schaden nehme.

2. Recep Erdogan: Ein Islamist, wie wir ihn schätzen

Um dessen Stabilität und Verlässlichkeit geht es nämlich den westlichen Metropolen – und da sieht man die Türkei bei der AKP in guten Händen. Die imperialistischen Hauptmächte meinen, mit der Türkei unter Führung der AKP in den letzten Jahren im Großen und Ganzen gute Erfahrungen gemacht zu haben. Die politische Linie, die die AKP verfolgt, erscheint westlichen Politikern brauchbar für die Interessen, die sie an diesem Staat haben. Der türkische Staat ist schließlich ein wichtiger und gewichtiger Mitspieler in der heißesten Krisenregion der Welt; für ihn wissen die maßgeblichen Mächte lauter politische Aufträge, die er zu erfüllen hat. Der Erdogan-Partei trauen sie zu, diese zu bewältigen.

  • Da geht es zum einen um die Frage, welche Rolle einer Regionalmacht Türkei im Nahen und Mittleren Osten zukommt und zu kommen soll. Die Türkei arbeitet seit der Selbstaufgabe der Sowjetunion daran, sich als eine solche Macht neu aufzubauen. Als verlässliche Energiedrehscheibe zwischen dem Nahen und Mittleren Osten und Europa will sie in der konfliktträchtigen Frage der Energieversorgung des Westens eine konstruktive Rolle spielen und sich darüber zu dessen unverzichtbarem strategischen Partner machen. Zugleich strebt die Türkei die eigenständige Rolle einer Regionalmacht an, die in allen Fragen von Krieg und Frieden an vorderster Stelle mitmischt. Dieses Projekt verfolgt die AKP, indem sie sich allen Seiten als Protagonist eines gemäßigten Islam präsentiert, der in idealer Weise geeignet sei, eine Brückenfunktion zwischen dem Westen und den arabischen Staaten zu erfüllen.[2] In diesem Sinne knüpft und nutzt die AKP-Regierung Kontakte auch und gerade zwischen verfeindeten Parteien, um Friedenslösungen voranzubringen; so will die Türkei sich angesichts der durch den Antiterrorkrieg geschaffenen neuen Lage behaupten, indem sie sich auch in Fragen der Kontrolle über konkurrierende Staatsgewalten und Unruheherde für den Westen unverzichtbar macht.[3] Dieses Projekt wissen die imperialistischen Hauptmächte durchaus zu schätzen. In Erdogans Programm einer Versöhnung von Westen und Islam entdecken sie einen Hebel fürs Hineinregieren in die Islam-Staaten, den der Westen zusätzlich zur kriegerischen Unterordnung der Region gut gebrauchen kann. Wenn „unser“ Islam-Vertreter bei den Islam-Staaten die Sache des Westens vertritt, sich dort in dieser Eigenschaft Vertrauen und Einfluss sichert, dann ist das gut und nicht schlecht – jedenfalls so weit, wie die Türkei sich dabei der richtigen Seite verpflichtet weiß.
  • Zum zweiten geht es um den EU-Beitritt der Türkei, mit dem die Türkei ökonomisch den Sprung ins 21. Jahrhundert bewältigen will. Dafür krempelt der türkische Staat seit einigen Jahren seine Wirtschaft um, schreibt seine Gesetzbücher neu und krönt die Rechtsreform mit dem Projekt einer neuen Verfassung – erfüllt also nach Kräften alle Anforderungen, die ihm von der EU präsentiert werden.[4] Das ist der EU recht – hineinlassen will man die Türkei allerdings nicht. Da kommt der EU eine politische Garde zupass, die trotz aller Rückschläge, aller Absagen aus europäischen Hauptstädten daran festhält, dass am EU-Kurs der Nation kein Weg vorbeiführt.[5] Selbstredend stellt sich auch die AKP-Regierung wie ihre Vorgänger eine Vollmitgliedschaft in der EU anders vor als europäische Politiker: Nicht als Unterordnung unter ein aus Brüssel verordnetes ökonomisches Regime, sondern als Hebel zur Festigung und Erweiterung der ökonomischen Machtbasis der eigenen Nation. Solange die AKP aber am bestehenden Kurs festhält, bereitet dies den Herren Europas wenig Kopfzerbrechen.
  • Drittens schließlich ist die Türkei auch noch in der NATO. Für das westliche Militärbündnis ist dieses Land strategisch unverzichtbar; ein größeres Mitspracherecht in Fragen von Krieg und Frieden will man ihm allerdings nicht zubilligen. Auch das sieht die Militärmacht Türkei etwas anders: Als bloßer Handlanger amerikanischer Kriege will sie sich nicht einsortieren lassen. In diesem Sinne hatte das türkische Parlament 2003 den USA untersagt, von türkischem Territorium aus in den Irak einzumarschieren. Insgesamt aber bewährt sich die Türkei auch unter dem Regime der AKP als verlässlicher militärischer Partner in einem Krisengebiet. Deshalb hatte die Regierung der USA für den Feldzug der türkischen Armee auf irakisches Gebiet sogar ein gewisses Verständnis und militärische Aufklärungshilfe zu bieten – jedenfalls, soweit sich die Türkei dabei auf das Niedermachen der PKK beschränkte und nicht auf Mitentscheidung über das politische Schicksal des Irak insistierte.[6]

Verlässliche militärische Stütze der NATO in Nahost, nützlicher Partner der EU und Hebel westlicher Einflussnahme in der arabischen Welt – all das soll die Türkei sein, dafür soll sie das Nötige leisten, und zwar möglichst reibungslos. Da macht Erdogan nach dem Dafürhalten der maßgeblichen Mächte seine Sache gar nicht schlecht – auch wenn ihnen natürlich nicht verborgen bleibt, dass die türkische Regierung sich keineswegs als Erfüllungsgehilfe westlicher Ordnungsinteressen versteht. Das türkische Selbstbehauptungsprogramm nehmen sie zur Kenntnis, aber eben auch die prinzipielle Bereitschaft der amtierenden Regierung, ihre politischen Vorhaben nicht im fundamentalen Gegensatz zum Westen, vielmehr als Beitrag zur Festigung seines Ordnungsregimes zu betreiben.

Der imperialistische Blick auf die Leistungen, die die Türkei für den Westen erbringt und noch erbringen soll, diktiert das Urteil über den türkischen Glaubensstreit. Wegen seines Interesses an der AKP hat der Westen sich entschieden, Erdogan abzunehmen, dass es ihm wirklich um eine ‚Versöhnung‘ von Westen und Islam gehe. Seinen Taten und Worten will man entnommen haben, dass er sein religiöses Bekenntnis als Beiwerk und Zutat zu einem Programm der Ein- und Unterordnung seiner Nation unter das westliche Weltordnungsprogramm versteht. Das ist zwar nicht ganz die Wahrheit der Sache, aber sei’s drum: Inzwischen gilt Erdogan als fortschrittlicher, weil für den Westen brauchbarer Islamist. Dass nun in der Türkei selbst ein Streit um die Rolle des Islam im Staat losbricht, und dies auch noch mit völlig falschen Fronten – ein Streit, in dem der Freund des Westens beschuldigt wird, heimlich einen antiwestlichen Gottesstaat anzustreben, und das durch Repräsentanten einer prowestlichen Bourgeoisie und durch Generäle einer Nato-Armee, die auf einmal unter Putsch-Verdacht stehen – das kann man in den westlichen Metropolen gar nicht brauchen. Deshalb will man hierzulande gar nicht verstehen können, warum es in der Türkei beim Streit um die Rolle des Islam so fundamentalistisch zugeht. In der Heftigkeit, mit der beide Seiten in der Türkei auf ihrer Position beharren, will man ein Indiz für die Rückständigkeit der türkischen Gesellschaft entdeckt haben. Ausgerechnet die Verteidiger des christlichen Abendlandes, die hierzulande die Kopftuchfrage zu einer Werteentscheidung von Verfassungsrang stilisieren, an der sich ablesen lassen soll, ob eine Staatsdienerin staatstreu oder staatszersetzend unterwegs ist, wollen im Falle der Türkei von ihrem eigenen Fundamentalismus nichts wissen. Da tun sie einmal glatt so, als wäre die Frage, welche Rolle die Religion im Gemeinwesen spielen darf, im aufgeklärten Westen längst erledigt.

Exkurs: Das Verhältnis von Glaube und Macht – staatlich reguliert und beaufsichtigt

Die Staaten des freien Westens mögen sich aufgeklärt geben, wie sie wollen: Die Frage, wie viel Macht über die Köpfe ihrer Untertanen sie der Religion zugestehen wollen, hält keine dieser politischen Gewalten für ein für allemal beantwortet. Wie viel moralische Autorität, aber auch praktische Entscheidungshoheit die Staatsgewalt den diversen Glaubensgemeinschaften zubilligen soll, die unter ihrer Hoheit aktiv sind; welchen sie mit der Kennzeichnung als Sekte diesen Charakter gleich abspricht; welchen sie Unterstützung zukommen lässt, welche sie beschränkt, welchen sie eine gewisse Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen zubilligt; sogar welche Symbole sie als konform, welche sie als Ausdruck einer unzulässigen Distanzierung vom moralisch Gebotenen bewertet – das ist immer wieder neu politisch zu entscheiden. Das ist kein Wunder: Die Religion ist nämlich für jede politische Gewalt eine Herausforderung. Als organisierte Glaubensgemeinschaft bietet sie ihren Anhängern einen Zusammenschluss besonderer Art: Die finden hier einen fix und fertigen Leitfaden zur Ausbildung ihres moralischen Willens. Sie dürfen sich vereinigt fühlen in einer Gemeinschaft, die ihnen Kriterien dafür liefert, was wem zusteht und was sich für wen gehört, und sie bekommen Gelegenheiten für gute Taten geboten – Orientierung eben in einer von Gewalt und Elend geprägten Welt, die so dringend auf das Gute angewiesen ist. In dieser Hinsicht stellt die Religion für die politische Gewalt eine Konkurrenz dar; auch der Herrschaft geht es entscheidend darum, den Willen ihrer Untertanen moralisch zu bilden. Die weltliche Macht will ihr Volk nicht einfach unterdrücken, sondern dessen Willen benutzen; den Ge- und Verboten des nationalen Gemeinwesens sollen sich die Volksgenossen nicht nur einfach unterwerfen, sie sollen sich ihnen auch aus eigener Überzeugung tätig unterordnen, sie als Regeln ihres staatsbürgerlichen Zusammenlebens anerkennen und für gut erachten. Deshalb ist der Staatsgewalt der Gehalt der moralischen Maßstäbe, nach denen das Volk sich unter ihrer Herrschaft einrichtet, überhaupt nicht egal, vor allem aber legt sie Wert darauf, dass sie in allen gesellschaftlichen Streitfragen als die letzte und höchste Instanz anerkannt ist, die über Recht und Unrecht zu entscheiden hat: In den fundamentalen Fragen nationaler Sittlichkeit duldet die politische Gewalt keine Götter neben sich. Auf demselben Gebiet ist die Religion aber nun einmal tätig; und moderne Staaten sind weit davon entfernt, ihnen diese Tätigkeit untersagen zu wollen. In den von der Religion verkündeten Grundsätzen eines gottgefälligen Lebens entdecken sie nämlich zu Recht keinen prinzipiellen Gegensatz zur erwünschten Staatsbürgermoral. Welche Stellung ein Staat zu welcher Glaubensgemeinschaft einnimmt, hängt ganz davon ab, ob er deren Glaubenssätze als funktional für seine moralischen Ansprüche erachtet; ob er diese Glaubenssätze als brauchbare Ergänzung und Untermauerung seiner eigenen Tugendlehre staatsbürgerlichen Verhaltens schätzt oder umgekehrt in ihnen ein Verständnis des Ge- und Verbotenen entdeckt, das er nicht nur als abweichend, sondern als Störung und Beschädigung der nationalen Sittlichkeit beurteilt. In all diesen Fragen beansprucht der Staat das letzte Entscheidungsrecht für sich – auch und gerade gegenüber den Institutionen der Religion. Deren Eigenart besteht ja gerade darin, dass sie sich auf ein eigenes Höchstes zur Begründung ihrer moralischen Dogmen berufen; deswegen ist keine von ihnen damit zufrieden, sich in den letzten Fragen von Gut und Böse einfach zum ideellen Handlanger der politischen Gewalt degradieren zu lassen. Und in ihrem Einfluss auf die moralischen Überzeugungen ihrer Gefolgschaft verfügt die Kirche allemal über eine gewisse gesellschaftliche Macht, aus ihren Geboten auch Taten folgen zu lassen. Für den Staat birgt die Autorität der Kirche bei aller Wertschätzung ihrer Botschaften also immer auch ein Risiko in sich, auf das es aufzupassen gilt. Dass Gläubige die Gebote ihrer Kirche in falscher Weise als Handlungsanweisung missverstehen könnten, ist noch jeder Staatsmacht geläufig; und das nicht erst dann, wenn Ausländer Moscheen bauen wollen. Da muss dann auch mal ein deutscher Innenminister mit Macht darauf hinweisen, dass Kirchen keine „rechtsfreien Räume“ zum Verstecken von Asylanten sind und auch der Talar nicht die moralische Autorität zur Sitzblockade vor Raketenstandorten verleiht. Also macht es der Staat zum Gegenstand seiner fortwährenden Kontrolle, dafür zu sorgen, dass seinem Gewaltmonopol aus den Geboten der Religion keine Konkurrenz erwächst. Da muss klar und von allen Seiten unterschrieben sein, dass die Kirche ihre Autorität im Einverständnis mit und im Sinne einer politischen Herrschaft ausübt, die den Beitrag des Glaubens zum Funktionieren des Gemeinwesens zu schätzen weiß. Eine solche Herrschaft beruft sich dann gerne selbst auf „christliche Werte“ als Titel, die gute Politik noch zusätzlich adeln.

Die Frage, welche Instanzen autorisiert sind, sich an der moralischen Willensbildung des Volkes zu schaffen zu machen, ist im alten Europa also überhaupt nicht ausgestorben. Scientology, Mun-Sekte und Koranschulen eher nicht; wenn sich „die Jugend der Welt“ auf Kirchentagen versammelt, statt Drogen zu nehmen, wird dies allgemein begrüßt. Was den organisierten Glauben betrifft, ist diese Frage zur prinzipiellen Zufriedenheit beider Seiten entschieden und geregelt. Das war in der Türkei bis vor kurzem auch noch so; dort hat die AKP diese Frage neu auf die nationale Agenda gesetzt.

II. „Laizismus“ gegen „Islamismus“: Ein Streit um die nationale Sittlichkeit

1. Das Programm des „Laizismus“: Der Staat als sittliche Gemeinschaft

Seit den Tagen des Atatürk selig schreibt die Verfassung der Türkei die strikte „Trennung“ von Staat und Kirche vor. Gemeint ist damit ausdrücklich nicht, dass der türkische Staat sich aus Glaubensfragen heraus hält – ganz im Gegenteil. Jedes Dorf hat seine Moschee und die dazu gehörige Koranschule; ein Ministerium für Religiöse Angelegenheiten bildet die muslimischen Geistlichen aus, bezahlt sie und bestimmt den Inhalt der Freitagspredigten; es war die letzte Militärdiktatur, die den islamischen Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen neu eingeführt hat. Auch in der Türkei weiß die Staatsgewalt die Leistung der Religion als „Opium des Volkes“ durchaus zu schätzen – einerseits. Andererseits nämlich schlägt sich die Herrschaft in der Türkei sehr entschieden auf die Seite des Misstrauens, wenn es darum geht, den Institutionen des Glaubens moralische Autorität in Fragen des Gemeinwesens zuzuerkennen. Im Staatsgründungsakt der Türkei hat die politische Gewalt sich von der Religion emanzipiert; die umgekehrte Emanzipation der Religion vom Staat hat sie zugleich für gefährlich erachtet und den religiösen Institutionen des Islam Autonomie verweigert. Mit der Abschaffung des Kalifats hat der türkische Staat sich zur obersten Instanz ernannt, die die Agenturen des Islam organisiert und darüber wacht, dass sie ausschließlich in seinem Sinne tätig werden. Mit dieser einseitigen Unterordnung des Glaubens unter die Herrschaft will der türkische Staat sicherstellen, dass eine Konkurrenz zwischen seiner moralischen Autorität und der der Kirche gar nicht erst aufkommt. Aus dem gleichen Grund hat die Religion als eigenständige ideelle Begründungsinstanz für politische Entscheidungen im Staatswesen der Türkei nichts verloren. Mit dem Ausschluss religiöser Autorität von einem selbstständigen Mitspracherecht in Fragen nationaler Sittlichkeit stellt die oberste Gewalt im Lande klar, dass sie sich in allem, was sie tut, nicht von Glaubensprinzipien leiten lässt, sondern ausschließlich das übergeordnete Wohl der Nation im Auge hat. So anerkennt der türkische Staat einerseits die Religion als Beitrag zu einer staatsnützlichen Volksmoral und schließt sie gleichzeitig dort als sinnstiftende Instanz von der Mitwirkung am Gemeinwesen aus, wo es um ihn selbst und seine höchsten Prinzipien geht. Um dies zu unterstreichen, ist in allen öffentlichen Institutionen – zu denen gehört auch das Bildungswesen – das demonstrative Bekenntnis zum Glauben, etwa durch das Tragen des einschlägigen Kopftuchs, untersagt.

Ihre staatspolitische Bedeutung bekommen die Verfassungsvorschriften des „Laizismus“ dadurch, dass sie als Titel für das Staatsprogramm einer einheitlichen türkischen Nation fungieren. Im „Laizismus“ fällt das Verbot der religiösen Selbstbegründung von Politik zusammen mit dem Gebot an alle Insassen des Türkenstaates, sich in ihrer nationalen Identität allein aus der Zugehörigkeit zum Vaterland Türkei zu definieren. Der Staatskult der Türkei fasst die Nation ganz für sich als die sittliche Gemeinschaft, die Volk und Führung zusammenschweißt. Dem Türken hat sein Vaterland sans phrase und ganz ohne Bezug auf Gott oder sonst einen Wert das Allerheiligste zu sein – so stand es auch vor der letzten Verfassungsreform noch in der türkischen Verfassung.

Das türkische Militär als Hüter dieser Verfassung wird nicht müde, diese wahre Bedeutung des Laizismus öffentlich hervorzuheben. In der Türkei haben die Nationalen Streitkräfte außer dem üblichen Auftrag der Verteidigung des Staates gegen jeden inneren und äußeren Feind auch noch einen eigenen politischen Auftrag: Als Mitglieder eines „Nationalen Sicherheitsrats“ sind sie ermächtigt, darüber zu wachen, ob die anderen Staatsorgane ihren politischen Pflichten im Sinne der obersten Verfassungsprinzipien nachkommen. In diesem Sinne hat der Türkische Generalstab anlässlich der geplanten Wahl eines AKP-Vertreters zum Staatspräsidenten seine Stimme erhoben:

„Das Problem, das in den letzten Tagen bei der Wahl des Staatspräsidenten aufgetaucht ist, konzentriert sich auf die Debatte um den Laizismus. Diese Lage wird von den Türkischen Streitkräften mit Sorge beobachtet. Man darf nicht vergessen, dass die Türkischen Streitkräfte in dieser Debatte Partei und entschlossene Verfechter des Laizismus sind ... Jeder, der der Auffassung des Begründers unserer Republik, des Großen Führers Atatürk, zuwiderhandelt: ‚Wie glücklich, wer sagen kann, ich bin ein Türke!‘, ist ein Feind der Türkischen Republik und wird es bleiben.“ (Presseerklärung des Generalstabs, April 2007)

Das „Glück“, ein Türke zu sein, ist die allein gültige sittlich-moralische Klammer, dank der sich die Insassen dieses stolzen Landes einer Volksgemeinschaft zugehörig fühlen und deren Gebote heilig halten. Wer dieses Prinzip durch einen alternativen Wertehimmel ersetzen will, kann im eigentlichen Sinne kein Türke sein. Mit seiner antinationalen Gesinnung leistet er Bestrebungen Vorschub, die das Türkentum durch Sonderbekenntnisse und -loyalitäten ersetzen, die Einheit von Volk und Staat zersetzen wollen. Damit wird aufs Neue die Gefahr einer nationalen Spaltung eröffnet, die mit der Verpflichtung aller Volksgenossen auf die Nation als ihre wahre Identität ein für allemal überwunden sein sollte:

„Manche Kreise haben seit der Gründung der Türkischen Republik die Religion missbraucht. Reaktionäre Kräfte setzen anti-säkulare Aktivitäten zu Hause und im Ausland mit Hilfe von legalen Institutionen wie Stiftungen und Vereinen fort... Das türkische Militär ist für die innere Sicherheit verantwortlich, wie in jedem anderen europäischem Land... Die Forderung, ethnischen Identitäten in der Verfassung Rechte einzuräumen, zielt darauf, den Nationalstaat zu untergraben. Es ist keine Frage, dass das nächste Ziel der Einheitsstaat sein wird... Büyükanit betonte, dass gewisse vom Ausland unterstützte Gruppen die ethnische und religiöse Struktur der Türkei für sich ausnutzen wollten.“ (Interview des Chefs des türkischen Generalstabs, Büyükanit, im „Defense and Aeronautic Magazine“, zit. nach Turkish Daily News, 5.4.08)

Wer einer öffentlichen Rolle des Islam oder völkischen Anerkennungsansprüchen Vorschub leistet, ist anti-national und arbeitet dem äußeren Feind in die Hände – das meinen gerade die Militärs bitter ernst. In diesem Sinne ist die Warnung des türkischen Generalstabs vom April des Jahres 2007 zu verstehen:

„Es ist zu beobachten, dass gewisse Kreise, die unermüdlich damit beschäftigt sind, die Grundwerte der türkischen Republik, darunter an oberster Stelle den Laizismus, auszuhöhlen, ihre Anstrengungen in letzter Zeit verstärkt haben. Diese Aktivitäten... reichen von den Forderungen, die Grundwerte in Frage zu stellen und neu zu bestimmen, bis zu alternativen Formen, unsere nationalen Festtage zu feiern, die ein Symbol der Unabhängigkeit unseres Staates und der Einheit und Geschlossenheit unserer Nation sind... Am gleichen Tag wurde ein Koranrezitationswettbewerb veranstaltet... am 24. April mussten kleine Mädchen... religiöse Lieder absingen ... Schuldirektoren wurde befohlen, am Fest zur Feier der Geburt von Mohammed teilzunehmen ... Dass ein beträchtlicher Teil der Aktivitäten mit Erlaubnis und Wissen der zivilen Behörden stattgefunden hat, macht die Angelegenheit nur noch besorgniserregender... Diese reaktionäre Geisteshaltung (steht) im Gegensatz zur Republik und (bezweckt) nichts anderes, als den Charakter unseres Staates kaputtzumachen... Ohne Zweifel ist die einzige Bedingung dafür, dass die türkische Republik in Ruhe und Stabilität lebt, dass der Staat die in unserer Verfassung niedergelegten Grundzüge schützt ... Diese Art Einstellung und Auftreten widerspricht ... dem Grundsatz, ‚der republikanischen Ordnung nicht äußerlich, sondern im Innern verbunden zu sein‘, und verletzt die Grundzüge und Bestimmungen der Verfassung.“

Wenn am Tag, an dem die Türkei sich als die Nation feiert, die ihre Identität aus dem Atatürkschen Gründungsakt herleitet, Koranrezitationen stattfinden; wenn nationale Institutionen und Symbole usurpiert werden, ihnen ihr laizistischen Charakter genommen und einer islamischen Umdeutung zugeführt wird, dann steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die rechte nationale Gesinnung der heranwachsenden Jugend. Solche Aktivitäten, da sind sich die Generäle sicher, sind der „Sumpf“, aus dem Terroristen ihren Nachwuchs rekrutieren. Das im Ansatz zu verhindern halten sie schon berufsbedingt für eine keineswegs ideologische, sondern höchst praktische Frage; schließlich ist es ihr Job, alle destruktiven und spalterischen Umtriebe (Presseerklärung) im Lande im Ansatz zu vernichten. Dass Religionsgemeinschaften, wenn man sie nur lässt, zu solchen Umtrieben neigen, weiß der Generalstab aus praktischer Erfahrung: Im Osten des Landes kommt es immer wieder zu hässlichen Szenen, wenn Fanatiker der einen Religion auf Mitglieder einer anderen losgehen und das Militär nötigen, ordnend durchzugreifen. Die Militanz, mit der der Islamismus in anderen muslimischen Staaten zu Werke geht, unterstreicht für das türkische Militär nur die Notwendigkeit, hier den Anfängen zu wehren. Auch die türkische Nation hat es mit solchen Umtrieben zu tun; die Nation ist immerzu Angriffen auf ihre Souveränität und Integrität ausgesetzt; deshalb, so die Generäle, ist es umso wichtiger, in der nationalen Moral keine Aufweichung des unbedingten Prinzips der einen Nation zuzulassen.

2. Das Aufbruchsprogramm der AKP: Versöhnung von Islam und Kapitalismus

Die AKP ist angetreten, um die bislang gültige Definition der türkischen Nationalmoral umzustürzen und durch eine neue, vom Islam geprägte zu ersetzen. Der Staatskult des „Laizismus“ gilt ihr als volksferne Ideologie, die das türkische Volk nicht vereint, sondern spaltet, ganze Volksschichten aus dem nationalen Gemeinwesen ausschließt. Dagegen machen sich Erdogan und Co. für eine neue nationale Sinnstiftung durch den Islam stark:

„Erdogan sagte, dass die Dutzenden von ethnischen Gruppen in der Türkei durch das einigende Band der Religion zusammengehalten würden: ‚Die Türkei ist zu 99 % muslimisch, und über allem anderen ist es die Religion, die uns zusammenhält ... Islam ist der Zement, und der wichtigste Faktor, der unser Volk vereint.‘“ (Hürriyet, 11.12.05)

Das Volk der Türken ist islamisch; die Normen und Werte dieser Religion sind die gelebte Moral des Volkes. Deshalb, so Erdogan, muss die identitätsstiftende Kraft der Religion endlich anerkannt und zur Quelle eines neuen Gemeinschaftsgefühls, eines neuen türkischen Nationalismus werden. Erdogan selbst stellt dieses einigermaßen fundamentalistische Projekt im Gespräch mit ausländischen Journalisten gerne so dar, als ginge es ihm bloß um die Etablierung von so etwas Ähnlichem wie einer islamischen „C-Partei“ in einer modernen, der Demokratie und dem Fortschritt verpflichteten Türkei. Diese Tour hat den AKP-Führern bei ihren Gegnern den Anwurf eingehandelt, sie seien „Wölfe im Schafspelz“, die mit ihrer Absicht, die Türkei in einen islamischen Staat zu verwandeln, nur hinter dem Berg hielten.[7] Man darf Erdogan und seinen Mannen allerdings durchaus abnehmen, dass sie die Vorzüge einer auf Marktwirtschaft und Demokratie gegründeten Staatsmacht viel zu sehr schätzen, um sie aus religiösem Fanatismus aufs Spiel zu setzen. Das Projekt der AKP ist anspruchsvoller. Sie will den Islam nicht gegen Marktwirtschaft und Demokratie, sondern verknüpft den Appell an diese Sorte Sittlichkeit mit einem Aufbruchsprogramm, das aus der Türkei einen Kapitalstandort erster Ordnung und einen anerkannten Pfeiler der imperialistischen Weltordnung machen will: Gefestigt in seiner frommen Gesinnung, ist das Volk reif für die sittliche Bewältigung der Folgen, die ihm die Regierung mit den entsprechenden Reformen aufhalst.

Das kapitalistische Erschließungsprogramm, das die Erdogan-Partei in geradliniger Fortsetzung der Politik ihrer Vorgängerregierung dem Land verordnet, wälzt das Institutionengefüge des Landes um, vernichtet alte Arbeits- und Lebensverhältnisse und schafft neue. Darüber bringt es die türkische Wirtschaft zu zuvor nicht gekannten Wachstumsraten. Dass dies der AKP Anerkennung im Ausland und Beifall bei Teilen der nationalen Unternehmerschaft, also bei den Nutznießern dieses Wachstums einbringt, versteht sich. Aber auch große Abteilungen des Volkes, das neu für den Reichtum der Nation in Dienst genommen wird, zollen dem Programm der AKP Anerkennung und honorieren es mit Wahlstimmen.[8]

„Eine Erklärung der in der Türkei stattfindenden Konfrontation kann in den riesigen modernen Vorstädten entdeckt werden, die in 40 Jahren das Stadtgebiet Istanbuls vergrößert haben. Ganze Dörfer sind vom Lande umgezogen und bewohnen die schnell hochgezogenen Wohnblöcke. In diesen Wohnblöcken lebt eine neue Türkei in Konkurrenz zur alten. Sie stellt die Wählerschaft von Parteien wie der AKP ... Islamische Gruppen sind Teil der politischen und sozialen Moderne der Türkei geworden, aber das Zentrum will sie nach wie vor ausschließen. Selbst das vermehrte Auftauchen von Kopftüchern zeigt, das türkische Frauen aus benachteiligten Milieus besseren Zugang zum sozialen Leben der Türkei erhalten ... Wir haben einen großen Zufluss von kleinen und mittleren Geschäftsleuten aus Anatolien in die großen Städte gesehen – Familien, die religiös konservativ sind. Sie sind die Haupt-Nutznießer des gegenwärtigen Wirtschaftsbooms.“ (Observer, 6.6.07)

So ungefähr sieht die AKP die Sache auch: Das eigentliche Problem der Leute, die es aus Anatolien nach Istanbul verschlägt, ist, dass sie zwar einerseits längst „Teil“ der modernen Türkei sind, andererseits immerzu nicht als solcher anerkannt werden. Dieses Problems nimmt sich die AKP an – darauf, dass sich ausgerechnet die Bewohner Istanbuler Plattenbauten ganz von selbst als materielle Haupt-Nutznießer des Kapitalwachstums missverstehen, verlässt sich die AKP aus gutem Grund nicht. Deren materielle Lage dient ihr als Anknüpfungspunkt, um die Versöhnung von Kapitalismus und Islam als Dienst an ihnen zu verdolmetschen: Gerade diejenigen, die das ökonomische Programm der Regierung nur als unabwendbare Wirkung auf ihr Lebensschicksal zu spüren bekommen, sollen das Islamische am AKP-Programm als ideelle Bürgschaft dafür verstehen, dass auch ihnen soziale Aufstiegschancen winken. Am besten sollen sie gleich beides miteinander verwechseln, weshalb die AKP auch dort, wo sie sich von ihrer sozialen Seite zeigt, Wert darauf legt, dass die Empfänger ihrer materiellen Wohltaten[9] diese als Ausfluss des sittlichen Programms begreifen, für das die Regierungspartei steht: Ihre sozialen Taten sollen die Massen als Dokument einer Gesinnung würdigen, die sich ganz dem Islam verpflichtet weiß. Für dieses Quidproquo präsentiert sich die AKP als Partei, die der islamischen Sittlichkeit des Volkes zu ihrem gesellschaftspolitischen Recht verhilft. Als Partei des Islam verspricht sie den Teilen des türkischen Volkes, die bislang als rückständige ‚Bürger zweiter Klasse‘ galten, für ihre Integration in die moderne Türkei zu sorgen; die Auflösung ihrer überkommenen Lebensverhältnisse geht einher mit der Rehabilitierung ihrer überkommenen Glaubenssitten, mit denen sie sich in „ihrem“ Staat als vollwertige Mitglieder des türkischen Gemeinwesens einrichten können. Vor allem die schwarzen Türken aus dem unterentwickelten Osten des Landes spricht die AKP so an: Als anständige Staatsbürger, die mit genau dem Anstand, den sie pflegen, zum nationalen Gemeinwesen selbstverständlich dazu gehören und deshalb das Recht haben, ihre Moralität offiziell gewürdigt zu sehen. Wie sie gehen und stehen, sind sie integriert: in eine Türkei, die gerade darin modern ist, dass die althergebrachten Bräuche nicht mehr als rückständig und borniert missachtet, vielmehr als wertvolle gemeinschaftsstiftende Kraft hoch in Ehren gehalten werden. Ausgerechnet dieser Bezug auf die alte Sittlichkeit, die Berufung auf althergebrachte Gewohnheiten, auf die man doch ein Recht habe, soll für die Neuorientierung der Massen in Hinblick auf ihre veränderten Lebensumstände in Dienst genommen werden [10] – und so passen für die AKP Staat und Volk in der Türkei prima zusammen: Die Staatsgewalt organisiert die Lebensverhältnisse der Massen als praktisch unhintergehbare Sachzwänge und liefert dem Volk die geistig-moralische Sichtweise des Staatsprogramms als Verwirklichung eines modernen, mit dem Glauben versöhnten Türkentums hinzu.

Für die Einheit von neuer Sittlichkeit und sozialem Aufstieg steht der Kampf der AKP um die Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten. In dieser Frage fasst sich symbolisch alles zusammen, was die AKP vertritt und ihren Anhängern verspricht. Das Kopftuchverbot, so die AKP, schließt aufstiegswillige und dienstbereite, dabei auch noch gläubige, also durch und durch gute und nützliche junge Türkinnen von höheren Posten in Wirtschaft und Staat aus; es ist in Wahrheit ein Mittel, um der etablierten Elite ihre ausschließliche Verfügungsmacht über die höheren Bildungsinstitutionen des Landes zu sichern, also ebenso fortschritts- wie volksfeindlich. Die Zulassung des Kopftuchs an der Uni ist deshalb als Beitrag zu einer recht verstandenen Emanzipation der Frau zu verstehen, die nun als gläubige Muslima das Recht auf Zugang zu allen öffentlichen Institutionen habe, ohne ihren Glauben verleugnen zu müssen. So stilisiert sich die AKP als der wahre Repräsentant einer „modernen“ Türkei, in der Religionsfreiheit und Chancengleichheit herrschen und allen Klassen und Schichten gleichermaßen die Nutzung der nationalen Bildungsstätten eröffnet ist. Dafür kann sie sich sogar auf den Europäischen Gerichtshof berufen: Der hat ihr nämlich vor Kurzem höchst förmlich bestätigt, dass sie mit der Aufhebung des Verbots auf der Linie europäischer Menschenrechtspolitik liegt. So arbeitet die AKP auch hier an der Entmachtung der Kemalisten, die die Universitäten als ihre Bastion verteidigen; deren Hoheit über die geistige Verfasstheit der Nation soll ein Stück weit ausgehebelt werden.

3. Die Opposition formiert sich

Mit ihrem Programm des nationalen Aufbruchs greift die AKP nicht nur das Recht der etablierten Elite an, aus alleiniger Machtvollkommenheit über die Geschicke der Nation zu entscheiden; sie greift auch die materiellen Quellen und Grundlagen ihrer Macht an. In der Konsequenz der Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe und der Öffnung des Landes für auswärtiges Kapital findet sich die alte Elite aus ihren Positionen in Staat und Wirtschaft verdrängt; die AKP tut das Ihre dazu, dass alle Gegner ihres Staatsprogramms aus Posten entfernt werden, auf denen sie ernsthaft Widerstand leisten können. Nicht zu Unrecht nehmen deshalb die etablierten Interessen der Türkei – hier einmal vereint vom Militär bis hin zu Gewerkschaften [11] – den Aufstieg der AKP zur maßgeblichen politischen Kraft als feindseligen, gegen sie gerichteten Akt. Für die als Vertreter der alten politischen Garde übrig gebliebene Oppositionspartei CHP steht fest, dass eigentlich nur ihr die nationale Wählerbasis und damit die Macht im Staat zusteht. Maßgebliche Figuren in der Justiz sehen keinen Grund, ihr prinzipielles Misstrauen gegen die Volksschichten aufzugeben, die die Masse der Klientel von Erdogan ausmachen; in den Bewohnern Istanbuler Plattenbauten entdecken sie eher potenzielle Unruhestifter denn nützliche Staatsbürger und sehen sich in diesem Urteil durch die Befunde einschlägiger Institutionen nur bestätigt.[12] Und das Militär, das jahrzehntelang erfolgreich über alle Glaubens- und Völkerschaftsgrenzen hinweg praktisch mit aller Gewalt für die Einheit der türkischen Nation gesorgt hat, muss feststellen, dass seine Machtposition durch die Verfassungsreformen der AKP geschwächt wird, was die Sicherheitslage im Lande nur verschlechtern kann. Für die alte Elite fällt ihre Entfernung aus den Schaltstellen der politischen Macht, die Beschneidung ihrer ökonomischen Mittel schlicht zusammen mit einem Angriff auf das Prinzip der einen Nation Türkei, als dessen Garant sie das Land bislang regiert hat. Dieses Prinzip steht für die Kemalisten für den einzig möglichen Erfolgsweg der Nation. Den sehen sie durch die AKP nicht gewährleistet, sondern gefährdet: Dass die Regierung bei ihren Bemühungen, der Türkei den anerkannten Status einer Regionalmacht zu verschaffen, bislang keinen wirklich durchschlagenden Erfolg zu verbuchen hat, gilt ihnen als Beweis dafür, dass sie das auch gar nicht kann und letztlich auch gar nicht will. Spiegelbildlich zum Standpunkt der westlichen Machthaber, die in Erdogan einen „gemäßigten“ Vertreter des Islam und Garanten eines für sie nützlichen Weges der Türkei entdeckt haben wollen, nehmen die Kemalisten jede Solidaritätsbekundung für die AKP aus Brüssel oder Washington zum Beleg, dass Erdogan und Co. in Wahrheit Handlanger des ausländischen Großkapitals und von Kreisen im Westen sind, die die Türkei nicht wirklich hochkommen lassen wollen. So bastelt sich die innere Opposition ihr Feindbild von der AKP als Partei, die wegen ihres Islamismus alles Türkische dem feindlichen Ausland ausliefert.

Für die Gegner der AKP ist der Kampf um das Kopftuchverbot an den Unis deshalb mit ebenso viel nationaler Symbolkraft ausgestattet wie für die Islampartei. Dass die AKP sich an den Stätten des nationalen Geisteslebens vergreift; dass sie eine neue geistig-moralische Orientierung in den Ort tragen will, an dem auf höchstem Niveau über die sittliche Ausrichtung des Gemeinwesens entschieden wird und wo die zukünftigen Führungskräfte für Wirtschaft und Politik ausgebildet werden, gilt deren Gegnern als ihr größtes Verbrechen: Damit wird der säkulare, freigeistige Charakter der Türkei – ihre innerste „Lebensweise“ – auf dem Altar rückwärtsgerichteter Glaubensprinzipien geopfert.[13] Dass sich Erdogan und Co. als Zeugen für ihre Position auf den Europäischen Gerichtshof berufen, spricht für diese Freigeister schon wieder gegen sie: Es belegt, dass die AKP fremden, untürkischen Instanzen ein Mitspracherecht über die heiligsten nationalen Werte einräumt. Das ist das letzte Mosaiksteinchen in dem Beweis, dass diese Partei eine andere Türkei herbeiregieren will. Das muss mit allen Mittel verhindert werden.

III. Die Rechtsordnung als Mittel im Kampf um die Macht im Staat

Mit der Wahl hat sich die AKP die Ermächtigung verschafft, ihr Programm nationalmoralischen Sollens als offizielle Leitlinie im Staat zu verankern. Mit dem entsprechenden Rechtsbewusstsein geht sie vor; durch das demokratische Institut der Wahl sieht sie sich nicht nur zum Regieren ermächtigt, sondern in ihrem politischen Programm umfassend legitimiert. Die Auseinandersetzung, die im Lande tobt, ist allerdings keine, die mit den herkömmlichen Verfahren der Parteienkonkurrenz durch eine Wahl zu entscheiden oder auch nur vorläufig zu sistieren wäre. Für die Gegner der AKP ist deren Eroberung der Regierungsmacht der GAU türkischer Politik und keine vorübergehende Phase, die man zähneknirschend in der Opposition verbringt, um auf eine bessere Stimmenverteilung bei der nächsten Wahl zu hoffen. Deshalb sehen die Kemalisten die Sache mit der Legitimation auch genau umgekehrt: Nämlich so, dass mit der Wahl eine im Prinzip, aufgrund der ganzen verfassungsmäßigen Ordnung des türkischen Gemeinwesens illegitime politische Kraft an die Macht gekommen sei. Also machen die Gegner der AKP dagegen mobil, dass die AKP ihr Regierungsprogramm umsetzen kann. Sie nutzen die Instanzen der Herrschaft, die sie noch besetzt halten, um, wo immer es geht, zu verhindern, dass das Programm der AKP im Lande gültiges Recht wird. Damit ist der Machtkampf eröffnet.

1. Verfassungsgericht und Militär verhindern die Wahl des Staatspräsidenten

Nach der Verfassung der Türkei wählt das Parlament den Staatspräsidenten. Der verfügt über weitreichende Befugnisse: Er ernennt die Richter und Staatsanwälte, die Rektoren der Universitäten sowie alle hohen Beamten in der Verwaltung; und er hat das Recht, Parlamentsbeschlüsse zu kassieren. Diese Machtposition will die AKP für sich nutzen, um bei der Umsetzung von Parlamentsbeschlüssen nicht mehr auf Hindernisse zu stoßen; sie nutzt also ihre Parlamentsmehrheit, um einen der Ihren in dieses wichtige Amt zu hieven. Die Opposition boykottiert die Wahl und das Verfassungsgericht erklärt mit einer Neuinterpretation des Wahlgesetzes die Wahl des Kandidaten Gül mit einer einfachen Mehrheit der Stimmen für unzulässig. Die militärischen Machthaber des Landes mischen sich ein und geben zu Protokoll, welcher Seite in diesem Gegensatz sie sich verpflichtet sehen:

„Nur Stunden, nachdem das Parlament einen unentschiedenen, von der Opposition boykottierten ersten Wahlgang für die Wahl zum Präsidenten abgehalten hatte, meldete sich das Militär zu Wort. Dessen Sprecher äußerte seine Besorgnis über die Wahl, und fügte hinzu: ‚Es sollte nicht vergessen werden, dass die bewaffneten Kräfte der Türkei in dieser Debatte Partei und energische Verteidiger des Säkularismus sind. Das türkische Militär wird seine Position und Haltung offen und klar darstellen, wenn es erforderlich sein sollte. Niemand sollte daran zweifeln.‘“ (Daily Times, 29.4.07)

Für die Regierung kommt dies einer Amtsanmaßung gleich:

„‚Ich möchte unterstreichen, dass es in einem demokratischen Staat, der auf Gesetz und Recht basiert, unerträglich ist, wenn der Generalstab, der sich dem Premierminister unterzuordnen hat, sich gegen die Regierung wendet‘, sagte der Regierungssprecher Cemil Cicek auf einer Pressekonferenz. Er betonte die Verpflichtung der Regierung auf die säkulare Ordnung des Landes und sagte, es sei ‚nicht zu akzeptieren‘, dass die Türkei ihre Probleme außerhalb des demokratischen Systems löse ... ‚Die Verteidigung der Grundlagen des Staates ist zuallererst Sache der Regierung.‘ Die Warnung der Armee würde wahrgenommen als ein ‚Versuch, die oberste Gerichtsbarkeit in einem sehr sensiblen Moment zu beeinflussen.‘“ (ebd.)

Als oberstes Staatsorgan besteht die Regierung auf der Unterordnung des Militärs unter die politische Führung. Sie beruft sich auf ihr Recht, als oberstes Exekutivorgan vom Militär Botmäßigkeit zu verlangen; dem steht die Rechtsauffassung der Militärführung entgegen, die sich auf ihre Sonderrolle als Hüter der Verfassung beruft, und so stehen in Gestalt von Verfassungsorganen unversöhnliche Parteien gegeneinander, die ihre Rechtskompetenz dafür in Anspruch nehmen, um ihr Recht in der Sache als unwidersprechlich zu behaupten. Die erste Runde geht an die Gegner der AKP; sie beugt sich in demonstrativer Achtung der Zuständigkeit des Gerichts dessen Urteilsspruch. Im nächsten Schritt betreibt sie die Stärkung der eigenen Machtmittel, holt sich beim Volk eine neue Ermächtigung ab und kürt mit einer neuen Parlamentsmehrheit dann den Präsidenten ihrer Wahl.

2. Der Kopftucherlass: Das Parlament beschließt, das Verfassungsgericht annulliert

Das türkische Parlament ändert die Verfassung und hebt das Kopftuchverbot an den Universitäten auf. Damit ist die Umsetzung des neuen Rechts keineswegs gesichert; an entscheidenden Stellen sitzen Gegner der neuen Rechtslage, die sie nach Kräften hintertreiben:

„Der von Präsident Gül ernannte neue Vorsitzende des Hohen Hochschulrats (YÖK) Prof. Ziya Özcan forderte in einem Rundschreiben die Universitätsrektoren auf, mit Beginn des neuen Semesters am 25. Februar das Kopftuch freizugeben. Die Mehrheit der Rektoren verweigerte sich jedoch dieser „Anweisung“ mit der Begründung, zunächst müsse das geltende Hochschulrecht entsprechend geändert werden. Am 27. Februar reichten die Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei) und DSP (Demokratische Linkspartei) beim Verfassungsgericht eine Klage ein, mit der die Gesetzesänderung zur Kopftuchfreigabe als verfassungswidrig erklärt (Verstoß gegen das Laizismusprinzip) und infolgedessen annulliert werden soll... Am 11. März entschied das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei, dass der Vorsitzende der Hochschulbehörde YÖK mit seiner Anweisung zur Freigabe des Kopftuchs seine Kompetenzen überschritten habe. Bis zum Urteil des Verfassungsgerichts über die Rechtsmäßigkeit der Verfassungsänderung gelten somit weiterhin die alten Regeln.“ (Country Reports, Konrad-Adenauer-Stiftung)

Mit der Neubesetzung des Amtes des obersten Hochschulrats sorgt der Präsident dafür, dass der Parlamentsbeschluss in eine exekutive Anordnung übersetzt wird. Das nützt nichts: Die Befehlsempfänger vor Ort verweigern sich dessen Anordnung. Die Opposition reicht Verfassungsklage ein; das oberste Verwaltungsgericht annulliert die Verfügung des Präsidenten. Statt als Hebel zu dienen, mit dem die Staatsgewalt ihr Gewaltmonopol in der Gesellschaft praktisch gültig macht, erweist sich die Rechtsordnung als Instrument eines Machtkampfes darum, welche Fraktion im Staat ihrer ausschließenden Lesart der Verfassung Gültigkeit verschaffen kann. Die Öffentlichkeit konstatiert „Chaos“; und das Verfassungsgericht bereinigt vorerst die unentschiedene Rechtslage, indem es dem Parlament verbietet, in dieser Frage die Verfassung zu ändern.

3. Das Verbotsverfahren gegen die AKP

Der Kleinkrieg gegen einzelne Beschlüsse und Maßnahmen von Regierung und Parlaments reicht den Gegnern der AKP nicht. Im März dieses Jahres holt die Justiz zum großen Schlag aus: Der türkische Generalstaatsanwalt beantragt beim Verfassungsgericht ein Verbot der Regierungspartei AKP. Mit der Begründung, die Partei sei ein Zentrum für Aktivitäten gegen die säkulare Republik und würde islamistische Pläne hegen, wird das Verfassungsgericht aufgefordert, die AKP zur staatsfeindlichen Partei zu erklären; außerdem soll das Gericht 71 AKP-Politikern (darunter Ministerpräsident Erdogan und Präsident Gül) für 5 Jahre jegliche politische Betätigung untersagen.[14] Das Verfassungsgericht erklärt einstimmig den Antrag für zulässig und nimmt die Klage an. Die AKP bestreitet dem Gericht zwar nicht die formelle Kompetenz, wohl aber die Zuständigkeit in der Sache: Ihrer Rechtsauffassung zufolge wirft der Versuch, ihre Partei qua Gerichtsurteil aus dem politischen Leben der Nation zu verbannen und sie als staatsfeindlich zu qualifizieren, die Frage nach der höheren, staatspolitischen Legitimation des Gerichts auf, das sich in so offenkundiger Weise in eine politische Streitfrage einmischt. AKP-Vertreter stilisieren den Verbotsprozess zum Meilenstein auf dem Weg der Türkei zu Demokratie und Freiheit und die Richter zu Repräsentanten eines Geistes, der im türkischen Staatswesen sein Recht verloren hat:

„Sie als das hohe Gericht führen keinen gewöhnlichen Prozess. Vom Zeitpunkt der Anklage an richtet das Gesetz über Politik ... Tatsache ist, dass Ihre Entscheidung ein wichtiger Meilenstein sein wird ... (Sie) wird die Bildung einer neuen Infrastruktur für Rechte, Freiheiten und Demokratie in der Türkei beeinflussen.“ (Verteidigungsschrift, zit. nach TDN, 5.7.08) „Insgesamt wirft die AKP dem Oberstaatsanwalt Yalcinkaya eine ‚ängstliche und von Verschwörungstheorien geprägte Sicht‘ vor sowie ein falsches Verständnis von Religion und von der Beziehung zwischen dem Staat und der Religion.“ (NZZ, 18.6.08)

Außerhalb des Gerichts ist die Partei weniger höflich. Die AKP hat sich zwar entschieden, das Recht des Gerichts auf Eröffnung eines solchen Verfahrens formal anzuerkennen; sie lässt auch durchblicken, dass sie das Urteil annehmen, also die Herrschaft des Rechts ihrerseits achten will. Zugleich lassen ihre Funktionäre keinen Zweifel daran, was sie von der ganzen Sache politisch halten:

„Ein Verbotsverfahren gegen seine Partei? Der türkische Ministerpräsident Erdogan gibt sich machtbewusst und erklärt das Manöver zum ‚Justizputsch‘ ... ‚Das ist Wasser auf unser Feld. Das wird uns nur stärker machen‘. Der erste Schock über den Antrag auf ein Verbot seiner Regierungspartei AKP durch Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya ist vorbei, jetzt läuft Ministerpräsident Tayyip Erdogan zu großer Form auf. Ein Angriff auf das Volk und die türkische Demokratie sei dieses Vorgehen. Die Justiz solle sich schämen ... Seit Freitagnachmittag nutzte Erdogan den Verbotsantrag bei drei Großveranstaltungen in türkisch-kurdischen Städten im Südosten des Landes als Steilvorlage gegen die ‚Anmaßung der Justiz‘. In einer Rede vor seiner Fraktion machte er heute klar, die Regierung werde gegen den versuchten ‚Justizputsch‘, wie der AKP-nahe Kolumnist Ömer Taspinar schrieb, keinen Millimeter zurückweichen.“ (Spiegel online, 17.3.08)

Was die AKP genau damit meint, dass sie nicht zurückweichen wolle, lässt sie offen. Dass die Islamisten einfach klein beigeben, wenn ihnen die politische Macht im Staat genommen wird, glaubt jedenfalls in der Türkei niemand.

4. Die Regierung schlägt zurück

Der Machtkampf spaltet die Gerichtsbarkeit, das Militär, die staatlichen Vollzugsorgane. Wem eigentlich die Loyalität der Staatsagenten gilt, wird zu einer offenen Frage. Den Beweis, dass auch sie über verlässliche Kräfte in den staatlichen Vollzugsorganen verfügt, tritt die Regierung mit einer Aktion eigener Art an: Exakt an dem Tag, an dem die erste Anhörung im Verbotsprozess stattfindet, veranlasst die Staatsanwaltschaft die Verhaftung einer großen Zahl von Politikern, Geschäftsleuten, Journalisten und hochrangigen Militärs. Ihnen wird vorgeworfen, einer Geheimorganisation namens Ergenekon anzugehören und einen Putsch für das Jahr 2009 vorbereitet zu haben:

„Das Verfahren namens Ergenekon wurde im Juni vorigen Jahres eingeleitet, als die Istanbuler Polizei 27 Handgranaten in einem Haus im Ümraniye Distrikt fand. Der Fund führte zu Dutzenden von Verhaftungen, mehr als 200 Journalisten, Autoren, Gangführer und Politiker wurden verhört. Das Verfahren wurde zu einer Terrorismus-Untersuchung gegen eine angebliche ultranationalistische Verschwörung namens Ergenekon, die die Regierung stürzen will, indem sie 2009 einen Putsch organisiert und zuvor Chaos und Anarchie verbreitet. Ergenekon ist ursprünglich eine vor-islamische türkische Legende, der zu Folge die Türken eine ihnen durch den Verrat ihrer Feinde beigebrachte Niederlage unter Führung eines grauen Wolfes überwinden.“ (TDN 2.7.08) „Im Zuge der Vorbereitung der Anklage im Ergenekon-Verfahren erschüttern neue Anschuldigungen eines geplanten Putsches und eine neue Verhaftungswelle das Land ... Ein Vier-Stufen-Plan, der Massenproteste, Zusammenstöße zwischen Polizei und Bevölkerung, und andere Mittel einen Regierungsumsturz vorzubereiten vorsah, wurde angeblich im Büro einen pensionierten Generals gefunden, der im Zuge der Ergenekon-Untersuchung festgenommen worden war.“ (TDN, 4.7.08)

Geheimbund und Putschpläne hin oder her – dass es in den höheren Rängen der türkischen Staates jede Menge Figuren gibt, denen das Vorgehen gegen die AKP mit den Mitteln des Rechtsstaats nicht reicht, wundert niemanden. Wie sollten denn auch alte Generäle und andere Vertreter der nationalen Sache, die die Nation vor nicht allzu langer Zeit noch mit Militärputschen verteidigt haben, begreifen, dass jetzt die verhassten Islamisten an der Regierung sein dürfen – und die amtierende Generalität sieht zu und lässt die Justiz machen? Die Gegner der AKP stricken ihre Verschwörungstheorie anders herum: Sie bezweifeln, dass es diese mysteriöse Geheimorganisation überhaupt gibt, werfen der AKP vor, wie ehedem die Militärs zu polizeistaatlichen Methoden zu greifen, und entdecken in der Verhaftung angesehener Bürger nur einen neuerlichen Beleg dafür, dass die Islamisten den Staat kaputtmachen wollen.

Die Regierung weist demonstrativ jede Urheberschaft für die Verhaftungen weit von sich und verweist auf die Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden. Dabei ist es ihr nur recht, wenn möglichst viele türkische Bürger die Aktion als Erfolg der amtierenden Regierungspartei sehen. Das Ausheben von Terrorismus-Verdächtigen bis in die höchsten Ränge des politischen Establishment beweist nicht nur, wie entschlossen die AKP-Regierung Recht und Gesetz gegen die wahren Feinde einer stabilen, demokratischen Türkei verteidigt.[15] Sie belegt auch ihre Fähigkeit, mit Hilfe verlässlicher Anhänger im Staatsapparat mit allen aufzuräumen, die das Gemeinwesen gefährden wollen. Die Verhaftung von elf pensionierten Generälen, zwei davon im Vier-Sterne-Rang, die im politischen System der Türkei bislang praktisch Immunität genossen, macht deutlich, dass die Regierung keine Bedenken hat, Staatsfeinde auch bis in die höchsten Ränge des alten politischen Establishment zu verfolgen. Und wenn die türkische Öffentlichkeit spekuliert, dass da die Militärs wohl ihr Plazet gegeben hätten, dann spricht auch das für und nicht gegen die Macht der Regierung.

5. Die nationale Öffentlichkeit sortiert sich

Der Machtkampf in den staatlichen Institutionen wird begleitet von Massenaufmärschen und Demonstrationen. Zu denen wiegeln beide Seiten ihre Gefolgschaft auf: Sie mobilisieren den Patriotismus des Volkes und sorgen so dafür, dass ihr Streit auch die normalen Insassen des Landes politisch aufwühlt und entzweit. Der Türke, die Türkin ist aufgefordert, in der nationalen Sache Partei zu ergreifen, sich für oder gegen AKP, Kopftuch, Atatürk ... zu entscheiden und diesen Standpunkt öffentlich zur Schau zu stellen. Mit den Massen, die sie zu mobilisieren wissen, unterstreichen die Streitparteien, wie sehr sie das Volk hinter sich haben, also in der Frage der wahren Einheit von Staat und Volk richtig liegen. Auch das Militär kennt das Bedürfnis zu demonstrieren, dass die Volksmassen hinter seiner Verteidigung des Türkentums stehen:

„Vergangenen Freitag hat der Türkische Generalstab eine ungewöhnliche Stellungnahme veröffentlicht, in der er praktisch das Volk aufforderte, herauszukommen und Massenkundgebungen zum Thema Terrorismus in der Türkei zu veranstalten. Er sagte: ‚Die Bewaffneten Kräfte der Türkei erwarten, das die türkische Nation massenhaft ihre Bereitschaft demonstriert, diesen terroristischen Akten Widerstand zu leisten.‘ Die Stellungnahme verurteilte die Kritiker des ‚Kemalismus‘, zu denen maßgebliche Parteigänger der AKP gehören. ‚Die Türkei ist mit der Auffassung konfrontiert worden, dass ihre nationale und einheitliche Struktur überholt sei. Unsere Nation muss sich klar sein, dass dies eine gefährliche Auffassung ist. Die eskalierenden Akte des Terrorismus sind klare Zeichen solcher Ideen und der verzerrten Geisteshaltung derer, die solche Ideen direkt oder indirekt unterstützen ... Das Militär erwartet, dass das Volk auf die Straße geht, ebenso wie es dies kürzlich unter dem Banner des Säkularismus getan hat, und gegen die Regierung demonstriert.‘“ (Asia Times, 12.6.07)

Abertausende finden sich ein, um zu demonstrieren, dass ihre Sache verhandelt wird, wenn sich ihre Oberen darüber in den Haaren liegen, welche sittliche Natur dem Türkenmenschen frommt. Da finden sich eigentümliche Koalitionen zusammen: Türkische Frauen, die mit der Rückkehr des Kopftuches die Emanzipation der Frau in Gefahr sehen, demonstrieren gemeinsam mit Intellektuellen, die den Islamismus der AKP für die Auslieferung der Nation an Brüssel und Washington verantwortlich machen, und mit Fans der Staatssicherheit, die „fundamentalistische Bewegungen“ in der Türkei auf dem Vormarsch sehen. Über alle politischen Unterschiede hinweg finden sich hier Nationalisten vereint im Verlangen nach einer türkischen Heimat, der sie sich zugehörig fühlen wollen, aber unmöglich fühlen können, wenn sich die Werteordnung der AKP im Staatswesen durchsetzt.

6. Das Gericht hat gesprochen: Die vorläufige Sistierung des Machtkampfes

Soweit haben die Konfliktparteien in der Türkei es schon gebracht: Der Verdacht eines geplanten Staatsstreichs steht im Raum; die Feinde der Regierung sehen mit der AKP den Polizeistaat alter Tage wiederkehren. Die Instrumentalisierung der staatlichen Institutionen gegeneinander löst ihren Konflikt nicht: Die Spaltung der staatlichen Bürokratie in Anhänger beider Seiten führt dazu, dass es keiner Partei gelingt, die andere zur Unterordnung zu zwingen; jedes Scheitern dabei provoziert sie dazu, nach neuen Wegen der Durchsetzung ihres politischen Willens zu suchen. In dem Bewusstsein, in der Sache im Recht zu sein, fühlen sich beide Seiten durch den Ausgang jedes einzelnen Konfliktfalls nur bestärkt.

In diese Lage hinein fällt das Oberste Gericht seinen mit Spannung erwarteten Urteilsspruch. Der hätte salomonischer nicht ausfallen können. Nachdem zunächst feststeht, dass die AKP eigentlich verboten gehört –

„Nur ein einziger Richter sei für einen Freispruch gewesen, 6 hätten sich für ein Verbot ausgesprochen und 4 für eine Verwarnung. Letztere hätten zwar die AKP ebenfalls für schuldig gehalten. Die Verfehlungen seien aber nicht für gravierend genug gehalten worden, um ein Parteiverbot auszusprechen. So habe man sich auf die Verwarnung geeinigt“ (NZZ, 31. 7. 08) –,

ringt sich das Gericht dann doch mehrheitlich zu dem Beschluss durch, die AKP nicht zu verbieten. Schuldig, aber nicht verboten, heißt der mehrheitliche Befund – da hat das Gericht offenbar schwer mit sich gerungen, wie es seine Botschaft rüberbringen kann, ohne gleich das ganze Land in Aufruhr zu stürzen. Die Lösung ist zwar etwas merkwürdig: Der Verdacht der Staatsfeindschaft bleibt, aber das soll kein Hinderungsgrund dafür sein, dass die AKP als Regierungspartei weitermacht; das soll die Partei andererseits nicht dahingehend missverstehen, dass sie einfach weitermachen darf wie bisher. Auch, dass das Urteil mit der denkbar knappsten Mehrheit gefällt wurde, verdeutlicht, dass sie mit ihrer Linie keineswegs ins Recht gesetzt ist. Und einfach ungestraft kommt die Partei auch nicht davon: Sie wird verwarnt, es mit ihrem islamischen Treiben nicht zu übertreiben, und ihr werden die Hälfte der staatlichen Fördergelder gestrichen. Ganz offensichtlich will das Gericht nicht dazu beitragen, das Land in eine offene politische Krise zu treiben. Also bemüht es sich um Deeskalation - in einem Streit zwischen nach wie vor unversöhnlichen Parteien.

[1] Freunde des alten türkischen Establishment verstehen denn auch die Welt nicht mehr:

Ein perfekter Sturm der Feindschaft entlädt sich über den türkischen Säkularisten, die sich ohne Freunde wieder finden. Dies ist eine Tragödie, deren Konsequenzen sich weit über die türkischen Grenzen bemerkbar machen werden, denn das säkulare Modell, das Kemal Atatürk nach dem 1. Weltkrieg etabliert hat, war die beste Hoffnung für Muslime, den Weg in die Moderne zu finden. Viele Jahre Fehlverhalten des türkischen Militärs und der Sicherheitskräfte, der zentralen Institutionen säkularer Macht, haben deren Fähigkeit untergraben, einer islamistischen Übernahme zu widerstehen. Das US State Department hat unterdessen eine zweifelhafte Brauchbarkeit für eine Abteilung des politischen Islam entdeckt, die es für gemäßigt hält. Offenbar hofft Washington, die Türkei in einen regionalen Block hineinsteuern zu können, mit dem kurzfristigen Ziel, den Irak zu beruhigen, und dem langfristigen Ziel, eine sunnitische Allianz gegen die Absicht des Iran zu unterstützen, eine schiitische Revolution im Nahen Osten aufzurühren. („Turkey in the throes of Islamic revolution?“, Asia Times, 22.07.08)

[2] Als zweites Ziel seiner außenpolitischen Vision nannte Gül, in der Region eine ‚weiche Machtzu sein, die Sicherheit und Stabilität schaffe, eine Atmosphäre der Freundschaft und der Zusammenarbeit erzeuge. (FAZ, 29.8.07)

[3] Der nach allgemeiner Ansicht wichtigste Berater der türkischen Regierung in außenpolitischen Belangen, Ahmet Davutoglu, gilt als Architekt der so genannten mehrdimensionalen Außenpolitik Erdogans ... Als muslimischer und zugleich westlich-säkularer Staat, der Islam und Demokratie miteinander verbindet, ist die Türkei in der Sicht Davutoglus prädestiniert für die Rolle einer Vermittlerin im Nahen und Mittleren Osten. Je grösser der Einfluss Ankaras in dieser Krisenregion ist, desto wichtiger wird das Land für die EU und die USA. Hinzu kommt, dass die Türkei als Transitland für Erdöl und Erdgas aus Iran und dem Kaspischen Meer an Bedeutung gewonnen hat. Umgekehrt ist die Türkei für liberale Araber und Iraner heute ein Modell. Sie verfolgen genau, was in der Türkei geschieht und wie die religiöse Regierungspartei Erdogans versucht, Islam und Moderne zusammenzubringen. (NZZ 15.8.08)

[4] Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Freitag dem Parlament das Programm seiner neuen Regierung unterbreitet. Es stand unter dem Motto ‚Mehr Demokratie und mehr Wohlstand für die türkischen Bürger‘. Das Hauptziel und zugleich die größte Herausforderung für seine neue Regierung sei ein neues Grundgesetz, sagte Erdogan ... Die bestehende Verfassung stammt aus dem Jahr 1980 und schreibt das Recht der Armeeführung, in die Politik einzugreifen, fest ... Erdogan kündigte eine Anpassung der türkischen Gesetzgebung im Bereich der Grundfreiheiten an die Normen der EU an. Alle Türken sollten die fundamentalen Rechte und Freiheiten genießen können, sagte Erdogan. Ab nun gelte ‚null Toleranz‘ gegenüber Folter und für außergerichtliche Exekutionen. Die Justiz müsse unabhängig und neutral sein. Der Geist des neuen Programms sei durchtränkt von der Vision eines Staates, der die Menschenrechte respektiere, führte der Regierungschef aus. (NZZ, ebd.)

[5] Die Türkei hat keine andere Alternative als die Vollmitgliedschaft in der EU, sie kann keine andere Alternative haben ... Die Türkei befindet sich seit 1963 vertraglich im Prozess der europäischen Einigung ... Die Türkei war geduldig. Mit Geduld sind wir weit gekommen ... Wir werden diesen Weg fortsetzen. (Recep Erdogan, Rede in Köln , welt-online 11.2.08)

[6] In seiner Antrittsrede als Regierungschef hatte Erdogan noch den Irak vor einer Teilung (gewarnt). Die Einheit des Zweistromlandes sei aus Sicherheitsgründen für die Türkei von besonderer Bedeutung. Der Erdölreichtum des Nordiraks dürfe nicht nur einer Ethnie (den Kurden), sondern müsse allen Bevölkerungsteilen zur Verfügung stehen. (NZZ, 1.9.07)

[7] Für diesen Verdacht verweisen die Gegner der AKP gerne darauf, dass sich die Islamisten im Allgemeinen und Erdogan im Besonderen zu dieser staatsmännischen Auffassung ihrer Religion in der Tat erst haben hinarbeiten müssen. Die AKP wurde 2001 als Nachfolgepartei der verbotenen „Tugendpartei“ gegründet, die ihrerseits 1998 als „Auffangpartei“ für die 1997 gestürzte, 1998 verbotene islamistische „Wohlfahrtpartei“ des Necmettin Erbakan gegründet wurden war. Führende Mitglieder der AKP waren in den Vorgängerparteien politisch aktiv und traten für eine am Islam orientierte Türkei ein. Wegen entsprechender Äußerungen wurde Erdogan selbst zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und durfte mehrere Jahre kein politisches Amt innehaben.

[8] Bei den Wahlen 2002 hatten viele der erst ein Jahr zuvor gegründeten Partei Erdogans aus Protest gegen das Versagen der traditionellen politischen Kräfte die Stimme gegeben. Diese hatten das Land an den Rand des Ruins getrieben. Diesmal war die Situation eine andere. Die Regierung Erdogan, die islamische Werte mit einer liberalen Wirtschaftspolitik zu verbinden versucht, hat Leistungen erbracht, die auch von manchen Gegnern anerkannt werden. Sie hat das Land in größerem Masse modernisiert und reformiert als ihre säkularen Vorgängerinnen... Die Führung der AKP hatte nach ihrem Wahlsieg 2002 beweisen wollen, dass Islam und Demokratie vereinbare Begriffe seien. In den letzten vier Jahren hat sie die Todesstrafe abgeschafft, ein neues, liberales Strafgesetzbuch ratifiziert und zahlreiche Verbote aus der Verfassung gestrichen. Das Wirtschaftswachstum lag seit 2003 jährlich bei mindestens sechs Prozent, und das jährliche Pro-Kopf-Einkommen ist in diesem Zeitraum von 3400 auf über 5000 Dollar gestiegen. (NZZ 23.7.07)

[9] Diese Überzeugungsarbeit ist der AKP einige Millionen aus dem Staatshaushalt wert. Wie die amerikanische Presse angesichts wieder steigender Inflationsraten missbilligend vermerkt, hat die AKP letztes Jahr im Vorfeld der Wahlen unter Bruch einer Vereinbarung mit dem IWF die Staatsausgaben erhöht, um isolierte Dörfer mit Trinkwasser zu versorgen und an 500 000 Bewohner Ankaras kostenlose Nahrungsmittel zu verteilen ... Erdogan erhöht jetzt die Ausgaben für Infrastruktur ... Die Regierung hat verkündet, in den nächsten 5 Jahren 15Mrd. $ für Bewässerungssysteme und neue Straßen im Südosten der Türkei, das weitgehend kurdisches Gebiet ist, investieren zu wollen. (IHT 28.8.08)

[10] Erdogan scheut sich denn auch nicht, seinen Kampf um die Etablierung des Islam als nützlichen Integrationshebel zum Gegenprogramm zu einem oppositionellen Islamismus zu erklären, dem darüber gerade das Wasser abgegraben werde. Wobei unübersehbar ist, dass zwischen der Parteiführung und den unteren Chargen gewisse Differenzen in der Frage aufkommen, wie weit das Programm der Anerkennung islamischer Sitten und Gebräuche gehen muss bzw. darf, um als zweckdienliches Mittel zur Integration der Massen zu taugen ...

[11] Die Opposition besteht nicht nur aus den kemalistischen Generälen, die bis jetzt schweigen. Neben den Linken, Sozialdemokraten und Kurden im Parlament gehören einflussreiche Kreise wie das hohe, kemalistische Beamtentum, die Mehrheit der Akademiker, der urbane Mittelstand mit seinen Berufsorganisationen, die linken Gewerkschaften, aber auch der Arbeitgeberverband Tüsiad dazu. (Spiegel online, 9.2.2008).

[12] Dass der Erdogan-Klientel vom Standpunkt der Staatssicherheit nicht zu trauen ist, belegt dem Militär augenfällig die Statistik: So schätzt der türkische Verfassungsschutz (2004) den Anteil der Fundamentalisten auf 10 % oder 7,6 % der Gesamtbevölkerung ein. 1 - 3 % davon soll mit militanten Gruppen sympathisieren.

[13] „Die Opposition wirft Erdogan vor, seine Reformen nicht in ein allgemeines Paket der bürgerlichen Freiheiten einzubetten. Dazu gehörten nicht nur das Kopftuch, sondern die längst fälligen Rechte der Minderheiten oder eine Reform des Strafrechts für eine größere Meinungsfreiheit – Reformen, die die EU seit Jahren anmahnt. Stattdessen plant Erdogan einen zweiten umstrittenen Schritt: Die Absolventen der sogenannten Imam- und Predigerschulen sollen beim Zugang zum Studium mit den säkular erzogenen Gymnasiasten gleichgestellt werden. Die linksliberale Birgün kommentiert: ‚Damit wird ein religiöser Bildungsstrang geschaffen, der später die säkulare Schule übernehmen soll‘. Die Zahlen geben Erdogans Gegnern recht: Obwohl der Bedarf an Imamen minimal ist, besuchen heute 58 000 männliche und 62 000 weibliche Schüler diese Schulen. ‚Verhüllte Mädchen, die ihr Kopftuch von der Grundschule bis zum Universitätsabschluss nicht ablegen, werden später auch damit arbeiten wollen‘, sagt die Opposition weiter. Die Journalistin Sükran Soner weist darauf hin, dass es in den Vororten der Großstädte ‚kein einziges unverhülltes Mädchen mehr‘ gibt. Der renommierte Sozialwissenschaftler Ersin Kalaycioglu sieht die Gefahr woanders:’Im Hörsaal verbringt eine Studentin gar nicht so viel Zeit‘, sagt er, ‚aber in den Studentenheimen gibt es Tausende von Mädchen. Ich fürchte, in wenigen Jahren werden wir dort keine unverhüllte Studentin mehr antreffen.‘“ (Spiegel online, 9.2.08)

[14] Die Generalstaatsanwaltschaft stützt sich in ihrer Anklage auf die Paragrafen 2 und 4 der türkischen Verfassung, die besagen, dass die Türkei laizistisch ist (§ 2) – also eine strenge Trennung von Kirche und Staat einzuhalten ist – und dass diese Festlegung endgültig ist, eine Änderung des Paragrafen 2 also nicht einmal versucht werden darf (§ 4). (Spiegel Wissen)

[15] In diesem Sinne ist die Anklage bemüht, der Bande die Urheberschaft für alle politischen Attentate anzuhängen, die in der letzten Zeit in der Türkei begangen worden sind. Propagandistisch besonders wertvoll ist es da natürlich, dass es angeblich Beweise dafür gibt, dass die Bande auch Attentate von Islamisten fingiert hat – da sieht man endlich mal, wer die wirklichen Staatsgefährder im Lande sind!