Das Volk: eine furchtbare Abstraktion

Volk: das ist, folgt man der praktisch verbindlichen Festlegung moderner Gesetzgeber, nichts weiter als die Gesamtheit der Bewohner eines Landes, die eine zuständige Staatsmacht zu ihren Angehörigen erklärt. Diese bilden – ungeachtet ihrer natürlichen wie gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze – ein politisches Kollektiv, indem sie ein und derselben Staatsgewalt untergeordnet sind. Ihre Verpflichtung auf dieselbe Herrschaft und deren Programm ist die gemeinsame Sache, für die sie als Volk einstehen.

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Das Volk: eine furchtbare Abstraktion

Volk: das ist, folgt man der praktisch verbindlichen Festlegung moderner Gesetzgeber, nichts weiter als die Gesamtheit der Bewohner eines Landes, die eine zuständige Staatsmacht zu ihren Angehörigen erklärt. Diese bilden – ungeachtet ihrer natürlichen wie gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze – ein politisches Kollektiv, indem sie ein und derselben Staatsgewalt untergeordnet sind. Ihre Verpflichtung auf dieselbe Herrschaft und deren Programm ist die gemeinsame Sache, für die sie als Volk einstehen.

1. Produkt und Basis von Herrschaft

Die Etablierung eines Gewaltmonopols über ein Territorium und die auf ihm lebenden Menschen erfolgt nicht, um sie zu unterdrücken. Ihre Ernennung zu Untertanen oder Bürgern zielt auf ihre Benutzung, fordert tätige Anerkennung der Herrschaft, also Einsatz für deren Belange. Das Interesse an menschlichem Inventar war und ist für keinen Staat mit der Formalität erledigt, die heutzutage in der Ausstellung eines fälschungssicheren Passes zelebriert wird. Umgekehrt: Als Volk bewähren sich Reichs- und Staatsangehörige dadurch, dass sie ihr gesellschaftliches Leben – ihre Arbeit und ihren Erwerb, die Einteilung ihrer Bedürfnisse, damit ihren Verkehr untereinander – so einrichten, wie es die öffentliche Gewalt vorsieht. Deren Maßgaben für das Zusammenwirken der Bürgerschaft, die sich allemal um die Mehrung von Reichtum und Macht der Nation drehen, heißen ‚Recht und Ordnung‘ und organisieren die Lebensverhältnisse der Landsleute, um aus ihren Leistungen nützliche Dienste für das Programm der Nation zu machen.

Diese Dienste stellen sich zuverlässig ein, wenn die in die Pflicht genommenen Massen kein Aufhebens davon machen, dass ihnen eine Obrigkeit kraft ihrer Gewalt nicht nur manchen Tribut auferlegt und – je nach Konjunkturen „der Geschichte“ – ihr Leben und dessen Mittel in Beschlag nimmt; dass die Herrschaft mit ihrer Ordnung auch als Platzanweiser amtiert und mit der Zuteilung von allerlei Rechten und Pflichten die Gesellschaft gründlich sortiert, in Arme und Reiche, Stände und Klassen … , also über Art und Umfang der Interessen entscheidet, die sich die verschiedenen Abteilungen der Staatsangehörigen herausnehmen können. Dazu bedarf es „nur“ der Wahrnehmung all der Werke, die politische Souveräne bei der Gestaltung und Betreuung der regierten Gesellschaft so vollbringen, aus der Perspektive der ohnmächtig Betroffenen. Diese Perspektive ist keineswegs eine Schöpfung moderner Beschwerdeführer, sondern der historisch bewährte Leitfaden für die Praxis des Volkes: In der staatlich verfügten Geschäftsordnung finden die Untertanen eines Kurfürsten wie die Wähler einer gesetzgebenden Versammlung nicht mehr und nicht weniger vor als ihre Lebensbedingungen, mit denen es zurechtzukommen gilt. Die Gewohnheit, die Taten und Einrichtungen der Herrschaft als ‚die herrschenden Verhältnisse‘ zu nehmen, sich in ihnen abzumühen und ihnen anzupassen, sich mit den Möglichkeiten und Schranken der eigenen sozialen Stellung abzufinden bzw. herumzuschlagen, zeichnet ein nachhaltig brauchbares Volk zu allen Zeiten aus. Damit beschäftigt, mit Interessen fertig zu werden, die den eigenen entgegengesetzt sind und nur allzu oft überlegene Mittel zur Verfügung haben; stets gewärtig, von der maßgeblichen Ordnungsmacht mit neuen Pflichten und Opfern bedacht zu werden: haust es sich in seiner Abhängigkeit von den Entscheidungen der Staatsgewalt ein. Völker gehen davon aus, dass eine übergeordnete Instanz ‚Ordnung schafft‘; nicht nur, weil sie es gar nicht anders kennen – angesichts der Schwierigkeiten, die ihnen im Rahmen der jeweiligen Ordnung erwachsen, lernen sie ihre Herren durchaus schätzen. Wo das (Über-)Leben zum Kampf gerät, weil es dauernd mit den Interessen anderer Angehöriger des Gemeinwesens kollidiert, halten Untertanen jeglicher Art eine überlegene Aufsichtsmacht für nützlich. Die ‚Sicherheit‘, die da angestrebt wird – dass das eigene Interesse den Rang eines hoheitlich geschützten Rechts genießt –, bildet sich glatt zum gemeinsamen Bedürfnis aus, das die unterschiedlichsten sozialen Charaktere zum Volk eint. Im passiven wie aktiven Bezug auf ‚ihre‘ Herrschaft abstrahieren gebeutelte Untertanen wie mündige Bürger von den gegensätzlichen Interessen und Mitteln, mit denen eine staatliche Regie sie ausstattet, und setzen auf die Segnungen einer machtvollen Regie.

Damit ist ein jedes Volk auch bestens gerüstet für die Erfüllung der Spezialaufgabe, die kein durch Herrschaft gestiftetes Gemeinwesen seinen Leuten erspart. Der Bedarf an Reichtum und Macht beschränkt sich – das ist geschichtlich verbürgt – nicht auf die Benützung des einmal in Besitz genommenen Territoriums und der Leistungen seiner Bewohner. Die seit Menschengedenken in Richtung ‚Globalisierung‘ zielenden Ansprüche von Staaten bringen diese in Konflikte, in denen manchmal gleich, immer aber letztlich die Gewalt entscheidet. Dafür und ebenso für alle unterhalb des Krieges anstehenden Auseinandersetzungen pflegen die Staatenlenker ihre Völker heranzuziehen – wen denn auch sonst. Und wo die Staatsangehörigen die Garantie einer inneren Geschäftsordnung quasi als ein Lebensmittel akzeptieren, für dessen Bereitstellung eine hoheitliche Gewalt zuständig ist, bleiben die fälligen Dienste nicht aus. Ein intaktes Willensverhältnis zwischen Herrschaft und Volk wird nicht dadurch erschüttert, dass für die Vorbereitung und Durchführung von Waffengängen pure Opfer – ohne den geringsten Schein eines Lohnes – anstehen. Im Gegenteil: Der Zusammenschluss von Führung und Geführten zum nationalen „Wir“ ist nötig, weil es um die Alternative ‚Bestand oder Untergang des Gemeinwesens‘ geht. Ein Volk kämpft um sein Überleben, wenn die Herrschaft ‚vitale Interessen‘ bedroht sieht.

Die Identität, die sich im Umgang mit fremden Staaten und Völkern bewährt, ist ersichtlich dieselbe Abstraktion, die sich ein Volk im zivilen heimatlichen Betrieb genehmigt. Die kleine Steigerung, die im Kriegsfall zu verzeichnen ist, besteht darin, dass dann das Engagement der Bürgerschaft pur dem Erfolg der Herrschaft im Kräftemessen mit ihren Feinden gilt, während sonst, im zivilen Leben, die Befürwortung der staatlichen Gewalt und das Eintreten für sie stets unter Berufung auf das besondere Interesse stattfinden, das einem die politische Geschäftsführung selbst zugestanden hat – als Bauer, Arbeiter etc. klagt man Leistungen der Herrschaft ein. Das gilt auch für deren Händel mit dem Ausland, die in friedlicher Konkurrenz abgewickelt werden: Wenn Handelskonflikte auf der Tagesordnung stehen, dann weiß ein aufgewecktes Volk – an diesbezüglicher Aufklärung hat es auch früher nie gefehlt – sich von den Machenschaften des Auslands durchaus in seinen Eigenschaften als Lohnempfänger, Landwirt oder Handwerker betroffen; freilich mit dem landsmannschaftlichen Adjektiv vorneweg. Damit diese Abstraktion, durch die sich Untertanen mit den auswärtigen Interessen ihrer Herrschaft gemein machen, deutlich wird und zugleich als ureigenstes Bedürfnis der ‚Basis‘ daherkommt, kursieren in allen Ländern Lob und Preis der eigenen Identität, die vom Ausland und den Ausländern bedroht ist. Was es da so zu bewahren und bis in die Tage der ‚Globalisierung‘ zu verteidigen gilt, reicht von der Lebensart und dem traditionellen Brauchtum über den Glauben und die Abstammung bis zur Sprache: Sämtliche nicht- und vorstaatlichen Charakteristika eines Volkes[1] werden angeführt, um wirklich gute, unschuldige Gründe für einen polemischen, zumindest risikobewussten Umgang mit fremden Unarten zu liefern – als ob kultureller Artenschutz quer durch alle Epochen der Motor für politische Herrschaft (gewesen) wäre!

2. Der Ruf nach guten Herren

(a)

Für ein anständiges Volk ist es keine Schande, als Basis einer politischen Gewalt zu dienen und die Konjunkturen eines ganzen Menschenlebens als abhängige Variable der Bedürfnisse und Entscheidungen durchzumachen, die eine Herrschaft für notwendig hält. Seinen Willen, sich an die Regie einer übergeordneten Macht zu halten und in lebenslänglicher Gefolgschaft gemeinsame Sache mit anderen zu machen, weiß ein Volksangehöriger nämlich zu begründen und gutzuheißen:

  • Stets angemessen und auch heute bestens brauchbar ist der Verweis auf die unbestreitbare ‚Realität‘ von Herrschaften samt dazugehörigen Völkern, welche sich überall und schon immer vorfindet; woraus nach dem Motto: „Was wirklich ist, ist allemal notwendig!“ glasklar folgt, dass einem das staatenbildende Wirken der Natur und/oder eines göttlichen Willens unmöglich erspart bleibt.[2]
  • Dem Verdacht, gar der verlautbarten Kritik daran, als Volk würde man sich glatt diktieren lassen, welche gesellschaftlichen Beziehungen man eingeht; man ließe sich vorschreiben, ob und wie man mit seinen Zeitgenossen einen wechselseitigen Nutzen zustande bringt, und dass die einen zum Be- und Ausnutzen anderer ermächtigt sind; man würde von seiner Herrschaft gründlich in Arm und Reich sortiert, etc.: solchen sozialkritischen Einwänden gegen die Leistungen der hoheitlichen Gewalt wissen die Stimmen des Volkes nicht minder schlagend entgegenzutreten. Die ‚Realität‘ von Herren und Knechten, Hütten und Palästen, Elend und Reichtum streiten sie gar nicht ab; umgekehrt: Jeder ‚soziale Missstand‘ beweist ihnen die Notwendigkeit einer Herrschaft, die sich seiner Betreuung und Bewältigung annimmt. Völker denken sich ihre ‚Lebensbedingungen‘ eben gerne ohne deren Urheber – um diesen zur Abhilfe von Übeln aller Art zu ermächtigen. Das lassen sich Reichsfürsten wie moderne Parteivorsitzende nicht zweimal sagen und rufen, argumentativ unterstützt von zeitgenössischen Aufklärern aus der Intelligenzia, das ultimative Staatsprogramm aus: Herrschaft ist dazu da, der Not zu steuern, mit deren Zustandekommen sie nichts zu tun hat! Dafür wird sie gebraucht![3]
  • Überhaupt keine Schwierigkeiten bereitet schließlich die rückhaltlose Befürwortung des Vorgehens gegen das Ausland, das die Regenten eines Gemeinwesens ihren Bürgern schulden. Macht und Herrlichkeit der Herrschaften, denen die Leistungen und Entbehrungen des beaufsichtigten Volkes als Quelle zu Gebote stehen, die davon auch ausgiebig Gebrauch machen und nie genug kriegen können, schließen sich ja tatsächlich wechselseitig aus – schließlich müssen sie sich gegen ihresgleichen durchsetzen. Deswegen tut ein Volk gut daran, auch diese ‚Realität‘ anzuerkennen und nicht der Utopie anzuhängen, seine Arbeit und seine Produkte könnten sich mit den Mühen und Reichtümern anderer Völker sowie den Mitteln der Natur in anderen Breiten ergänzen; sodass sie alle – unter höflichem Respekt vor fremden Sprachen und bei wechselseitiger kultureller Befruchtung – in den Genuss eines gemeinsam erarbeiteten und verwalteten Reichtums kämen. Solchen Träumen steht eindeutig die Tatsache entgegen, dass das „Schicksal“ eines Volkes nun einmal damit steht und fällt, was seine Herrschaft in der Konkurrenz der Reiche und Nationen auszurichten vermag. Ein Volk weiß das aus Erfahrung, steht zur Verfügung, wenn es seinen Herren um die Eroberung zusätzlicher Reichtumsquellen in der näheren und ferneren Umgebung geht, und leistet den ihm zugedachten Beitrag dazu, dass seiner Regierung weder die Waffe des Geldes noch das Geld für Waffen noch das Personal für deren Bedienung ausgehen. Der Dank des Vaterlandes macht den fälligen Einsatz zwar nicht lohnend, ist aber gewiss.

(b)

Andererseits kommt kein Volk, das in unverbrüchlicher Einheit zu seiner Obrigkeit steht, daran vorbei, immer wieder Bilanz zu ziehen und zu prüfen, was die Führung aus seinen Mühen und Opfern macht. Patrioten leiden nie Mangel an schlechten Erfahrungen, die ihnen gleichermaßen Anlass und Recht zur Kritik an der Herrschaft geben. Ihre ‚Identität‘ – das zeigen die Zeugnisse aus Geschichte und Gegenwart – brauchen sie dafür nicht zu verraten, wenn sie aufgrund ihrer Enttäuschungen die Mächtigen schlecht machen. Die Einschränkungen und Lebensnöte, denen sie, ihren hohen Erwartungen an die sozialen Verpflichtungen ihrer Obrigkeit zum Trotz, unentwegt ausgesetzt sind, deuten sie nämlich nicht als deren Werk, sondern als Folge von deren Fehlern und Unterlassungen; die eigenen Entbehrungen entspringen nicht der Dienstbarkeit, auf die sich ein Volk einlässt, sondern deren falscher Bewirtschaftung durch die Mächtigen. Wenn Völker kritisch werden, ergänzen sie ihren ‚Realismus‘ – die Unterwerfung unter eine politische Gewalt ist einfach immer und überall fällig – um einen gestandenen Idealismus: Sie klagen gute Herrschaft ein; und mit dieser Forderung bestehen sie darauf, sich mit ihren Diensten an den Herren des Reichtums und denen der Macht des Gemeinwesens eine gute Behandlung verdient zu haben. Ganz als wären sie in der Lage und überhaupt willens, einen Preis dafür festzusetzen, dass sie sich benützen und regieren lassen und den Bedürfnissen ihrer Herren entsprechen. Der Preis, den sie kriegen, fällt gar nicht zufällig nie übermäßig hoch aus; denn er wird von der anderen Seite ermittelt und festgelegt.

  • Einem kritischen Volk ist bei seinem Willen, zwischen guten und schlechten Herren zu unterscheiden, die Übung geläufig, entschieden tätige Herrschaft zu vermissen. Die modernen, in Redaktionssitzungen per Brain-storming fürs Volk aufbereiteten Vorwürfe, die ‚Verantwortlichen‘ in der Regierung wären untätig und würden alles „aussitzen“, hat durchaus ihre historischen Vorläufer. Auch Könige und Päpste sollen in den Augen mancher Zeitgenossen unschicklichen Beschäftigungen nachgegangen sein, statt – Herrschaft auszuüben, nämlich über die Pflichten ihres Gefolges zu entscheiden. Und sooft in einem Gemeinwesen aufgrund äußerer Bedrängnis und/oder innerer Wirren das Regieren nicht gescheit funktionierte, waren Völker weder ratlos noch darauf aus, sich ein brauchbares gesellschaftliches Leben nach ihren Bedürfnissen und Mitteln einzurichten und dafür auf eine sie kommandierende Gewalt zu verzichten. Stets haben sie ihr Heil darin gesucht, sich einer neuen Obrigkeit zur Verfügung zu stellen – gewöhnlich gleich als Truppe in unentschiedenen Machtkämpfen. Letzteres insbesondere da, wo sie sich als Opfer einer nicht bloß schlechten, weil versagenden, sondern – weit schlimmer als das – einer unerträglichen, weil fremden Herrschaft sehen, einer, die eine feindliche Übermacht dem besiegten Volk auferlegt hat, was zuzeiten ja tatsächlich Tributpflicht oder sogar Sklaverei bedeutet hat. Für einen aktiven Separatismus – auch der kein Vorrecht der Moderne – kommt es aber noch nicht einmal besonders darauf an, wie schlecht die Betroffenen und ob sie überhaupt extra schlecht von ihrer fremdstämmigen Obrigkeit behandelt werden. Ehrgeizige Volksführer haben es in solcher Lage immer verstanden, unzufriedenen Volksteilen die in beinahe beliebig weit zurückliegenden Zeiten verloren gegangene und seither vorenthaltene eigene Herrschaft, das „fremde Joch“, als die Ursache aller Übel, eine wiederhergestellte Autonomie als Garantie, ja als Inbegriff guter Herrschaft vorstellig zu machen und den Leuten ein Grundbedürfnis nach Herren aufzureden, die von Haus aus die eigene Sprache sprechen – was auch immer sie darin mitzuteilen und vorzuschreiben haben.
  • In dem gleichen Geist kritischen Verlangens nach guter Behandlung durch diejenigen, die das Sagen haben, gehen Patrioten mit Ausbeutung und Armut um. Die Auseinandersetzungen mit den ökonomisch Mächtigen, die der Mehrheit des Volkes das (Über-)Leben schwer machen, liefern für die Geschichtsschreibung über die niederen Stände mehr Stoff als deren alltägliche Dienste: Kämpfende Bauern und Arbeiter genießen hohes Ansehen, wenn Rückschau gehalten wird. Das hat gleich zwei Gründe. Der eine liegt im Standpunkt der Betrachter, die alle älteren und jüngeren Vorkommnisse, in denen gesellschaftliche Klassen aneinander geraten sind, darauf hin beurteilen, was sie an zu- und abträglichen Beiträgen zur aktuellen Verfassung des Gemeinwesens beigesteuert haben, in dem sie leben und das sie hoch schätzen. Von da her kommen sie nicht umhin, veritable Klassenkämpfe nicht nur als Erschütterung respektabler Herrscherhäuser und als retardierende Momente in einem unaufhaltsamen Entwicklungsprozess zu würdigen, sondern auch als Wegbereiter eines Fortschritts. Der führt nämlich schnurstracks hin zur Entstehung der Ordnung, die heute herrscht und ihren Vorläufern überlegen ist.

Der zweite Grund für die gnadenlose Vereinnahmung von Bewegungen, in denen Kritik in Kampf umgeschlagen ist, für das Lob heutiger Herrschaft liegt in den Bewegungen selbst. Denn so wenig die aufständischen Massen eine Ahnung hatten von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in deren Herstellung ihr Einsatz angeblich seine Erfüllung gefunden hat – in einer Hinsicht liefern sie den Liebhabern modernen Staatskunst durchaus eine Bestätigung: In ihren Kämpfen zur Durchsetzung von Klasseninteressen sind die ‚Erniedrigten und Beleidigten‘ stets Volk geblieben. Sie haben sich dem hohen Ziel der Gerechtigkeit verschrieben und dessen Einlösung von der amtierenden höchsten Gewalt verlangt. Die mag noch so unmissverständlich und schlagkräftig demonstriert haben, wie viel ihr an der effektiven Benutzung der armen Leute gelegen war – die ‚historischen‘ Bewegungen haben darauf bestanden, die politische Gewalt als Parteigänger für ihre Anliegen zu gewinnen. Von der erwarteten sie Rücksichtnahme auf die dringendsten Bedürfnisse der gebeutelten Stände, die nur gefordert haben, was ihnen billigerweise zustünde – ihren Stand und die Herrschaft loszuwerden, war nicht im Programm. Nicht einmal in dem der erfolgreichen Arbeiterbewegung, die ihre kommunistischen Anwandlungen überwunden und dafür gesorgt hat, dass alle ‚sozialen Fragen‘ samt ihrer Lösung zum Regierungsauftrag geworden sind.

Insofern ist den Vertretern und Bewunderern moderner Nationalstaaten nicht abzustreiten, dass diese nicht nur die Territorien früherer Herrschaften unter ihre Regie gebracht haben: Ihr Erbe schließt auch den unbeirrbaren Willen der regierten Menschen ein, ihre materielle Lage auch und gerade dann, wenn sie unerträglich wird, den Entscheidungen der herrschenden Staatsgewalt zu überantworten. Ein Volk weiß nicht nur, dass sein Wohl davon abhängt, welche Notwendigkeiten die Obrigkeit verfügt – es anerkennt diese Zuständigkeit und lässt sich das nützliche Maß an Leistung und Armut verordnen, das sich aus den Rechnungen seiner Führung ergibt. Weil die ihm gewöhnlich zu wenig gewährt, erstreckt sich seine Unzufriedenheit nicht nur auf seine Lage, sondern auch auf die Regierung. Doch mit diesem chronischen Leiden wird ein Volk, das seine materiellen Interessen am Bedarf seiner Führung zu relativieren gewohnt ist, gut fertig: Gerne macht es sich an Vergleichen zu schaffen, in denen die Zumutungen seiner Herrschaft mit den Drangsalen, denen Untertanen früher oder anderswo ausgesetzt waren bzw. noch sind, schön kontrastieren. Was zwar nichts an den Gründen seiner Unzufriedenheit, wohl aber einiges an seinen Ansprüchen ändert.

(c)

Die gewissenhafte Unterscheidung zwischen guten, besseren und schlechteren Herren ist der Motor aller volkstümlichen Kritik, die von den Schäden der praktizierten Gefolgschaft ihren Ausgang nimmt, aber die Anhängerschaft, die bedingungslose Zugehörigkeit zum „eigenen“ Gemeinwesen partout nicht kündigen will. Diese Kunst bewährt sich bestens auch in der Bewertung der Leistungen, die eine Führung ihrem Volk bietet, wenn sie sich mit dem Ausland herumschlägt.

  • Dass die Unternehmungen der Souveräne auf diesem Feld von Vorteil für die Bürger im Lande sind, mag selbst manches moderne Volk nicht gleich glauben, wenn seine Regierung die Grenzen für Waren, Geld, Kapital und Personen öffnet. Der gesunde Nationalismus und Rassismus, der vor kurzem auch in höchst zivilisierten Weltgegenden noch gepflegt wurde und für Waffengänge sehr brauchbar war, ist bisweilen so lebendig, dass die Staatsmänner den Nutzen der Völkerfreundschaft, die sie anzetteln, ausgiebig propagieren müssen. Damit rufen sie die misstrauische Begutachtung aller internationalen Geschäfte auf den Plan, die sie so tätigen – und das brave, also betroffene Volk wird unentwegt fündig. Ohne die geringste Befassung mit den Tücken des Welthandels, auf den ihre Regierung so große Stücke hält, stellen Hausfrauen und Ladenbesitzer, Konzernlenker und Arbeitnehmer ihre Nutzen- und Nachteilsrechnungen an, über die sie nie so richtig ins Schwärmen geraten. Nie decken sich die Verheißungen, die mit den Initiativen der Nation in Sachen Weltmarkt unter die Leute gebracht werden, mit den Erfahrungen, welche die guten Leute so machen mit dem grenzüberschreitenden Verkehr. Nicht einmal die Erschließung des Auslands für allerlei Urlaubsfreuden ist ein reines Vergnügen, sodass sich die Führung aus allen Teilen des Volkes heftige Schelte einfängt. Der Schaden, den Volkes Stimme anrichtet, lässt sich freilich leicht verschmerzen: Einmal mit der Abhängigkeit des Konsums und der Arbeitsplätze, der Warensortimente und -preise, des Gangs der Wirtschaft insgesamt vom Welthandel vertraut gemacht, übersetzt ein aufgeklärtes Volk seine Unzufriedenheit in einen denkbar schlichten Auftrag an seine Regierung. Die muss sich durchsetzen gegen das Ausland; auf „unsere“ Kosten dürfen die Beziehungen nicht gehen; für Verhandlungen, die scheitern, sind die anderen verantwortlich, deren Insistieren auf eigenen Vorteilen an längst überwunden geglaubten Nationalismus gemahnt, was „wir uns“ nicht gefallen lassen dürfen … An auswärtigen Regierungen und den Ansprüchen ihrer Industrie, ihrer Arbeiter und Bauern entdecken ganz fortschrittliche und gar nicht ewig gestrige Völker genau die Unarten, die sie selbst an den Tag legen. In ihrer Entrüstung darüber bleiben sie der eigenen Führung, die sie unter Anleitung der nationalen Medien zur Unnachgiebigkeit anspornen, als verlässliches Mittel einer Konkurrenz erhalten, als deren Nutznießer sie nie vorgesehen waren.
  • Recht viel haben Völker für Gewalt übrig; jedenfalls für die, die von ihrer Herrschaft ausgeht und ihr dient. Was sie in den Kriegen gekrönter, adliger und frei gewählter Oberhäupter geleistet haben, verdient allen Respekt; desgleichen, was sie erlitten haben – womit der dual use von Gedenktagen und Denkmälern in Ordnung geht. Peinlich dagegen sind die scheuen Anläufe, die sie immer wieder unternehmen, um sich von Krieg zu distanzieren und als Anhänger des Friedens zu präsentieren. Unter Verweis auf die Opfer, die geschlagene Schlachten – insbesondere im Falle zweifelhaften Erfolgs – gekostet haben, werden Untertanen demonstrativ gelehrig. Sie stellen einen Vergleich der Lebensqualität auf dem Feld der Ehre mit der in der häuslichen Umgebung auf dem Feld der Arbeit an und geben zu Protokoll, dass ihnen jedenfalls das zivile Leben lieber ist. So machen sie ihre Führung für die Gemetzel verantwortlich, bei denen sie nur als Geführte und unter Zwang mitgemacht haben.[4] Der Führung das Handwerk zu legen, kommt ihnen nicht in den Sinn – sie ersuchen sie höchstens und bitten den Höchsten um Frieden, lassen also die Befugnis zur Entscheidung über Krieg und Frieden genau dort, wo sie hingehört. Folglich ermitteln ein ums andere Mal die Reichs- und Republikvorstände, wann die Umtriebe einer anderen Herrschaft unvereinbar sind mit den ‚vitalen Interessen‘ ihres Ladens und damit auch mit der zivilen Fortexistenz ihres Gefolges. Wenn sich dann herausstellt, dass sich an besagter Existenz nichts zum Besseren wendet und womöglich noch nicht einmal an der Macht und Herrlichkeit des Gemeinwesens, um deretwillen der Frieden gekündigt werden musste, dann weiß sich die Unterscheidungskunst des Volkes schon wieder gefordert. Der gute Bürger kennt die Gattung des sinnlosen – vergeblichen, überflüssigen – Krieges und verliert wenig Worte über die anderen Gattungen. Allerdings kennt er bis in die Postmoderne auch gerechte Kriege, in denen das Volk nicht „verheizt“ wird, sondern mit seinen Opfern der Freiheit Bahn bricht. Wenn ein solch kostbares Gut den Zweck ausmacht, wird aus dem Krieg auch die passende Maßnahme zur Schaffung des Friedens; des Friedens jedenfalls, der jeden Krieg lohnend macht. Es sei denn, seine Wirkung ließe sich durch ‚politische Lösungen‘ ebenso gut erzielen. Ob das geht, entscheidet eine gute Herrschaft nach sorgfältiger Abwägung – den Auftrag, andere Souveräne zur Nachgiebigkeit zu bewegen, hat sie gerade bei einem kritischen Volk sicher. Was eine solche Gefolgschaft jedoch überhaupt nicht verträgt, sind verlorene Kriege: Dieser Unterart entnimmt eine kluge Gemeinde sogar die Erkenntnis, dass sie auf erlogene Feindbilder hereingefallen ist und missbraucht wurde. Wobei dem enttäuschten Volk meist die Pflicht erspart bleibt, seiner treulosen Herrschaft das Mandat zu entziehen: Deren Macht wird ja vom siegreichen Feind gebrochen …

*

Ganz und gar verkehrt wäre es, einem Volk wegen der paar Widersprüche, die es sich in seinem Willen zur Herrschaft leistet, Inkonsequenz vorzuwerfen. Die Abstraktion, die es lebt: der gewohnheitsmäßige und sture, entschieden positive Bezug auf seine Herrschaft, seine zur ‚zweiten Natur‘ ausgebildete Bereitschaft zur Unterwerfung unter eine mit Gewalt bewehrte Autorität: diese seine Qualität bringt es sehr unbedingt zum Einsatz. Nämlich ohne Vorbehalte gegen die Art der Autorität, ohne Rücksichten auf Grund und Wirkungsweise der Herrschaft, ohne Bedenken bezüglich der Feinheiten der jeweiligen ‚Staatsräson‘. Demokratisch oder diktatorisch, republikanisch oder „von Gottes Gnaden“, mehr auf Religion begründet oder konstitutionell, erfolgreich oder notorisch am kürzeren Hebel: Alles – auch neben- und nacheinander – darf eine Herrschaft sein, wenn das Volk nur eine eigene hat.

3. Demokratie & Marktwirtschaft

Einen Epoche machenden Fortschritt haben die Völker der ‚westlichen‘ Welt allerdings zuwege gebracht. Mit dem Entschluss, den Maximen der abendländischen Aufklärung zu folgen und die Staatsmacht in die Hände frei, gleich und geheim gewählter Deputierter zu legen, haben sie sich, ihrer bescheidenen Selbstinterpretation zufolge, von Knechtschaft und Tyrannei befreit und regieren gewissermaßen sich selbst: Bei ihnen herrscht Demokratie. Damit, das geht aus dem Namen ihrer Staatsform auch schon hervor, haben die politisch emanzipierten Bürger der ‚freien Welt‘ freilich weder der politischen Gewalt, die unter ihnen eine Ordnung und einen gesellschaftlichen Zusammenhang stiftet, ein Ende bereitet noch selber aufgehört, auf eine monopolisierte Gewalt zur Herstellung und Regulierung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen festgelegt und angewiesen und der dafür zuständigen Staatsmacht für deren Belange dienstbar, also: Volk zu sein. Vielmehr haben sie eine schwer zu überbietende Perfektion darin erreicht, Zwang und Freiheit, Wollen und Müssen objektiv wie subjektiv zur Deckung zu bringen und sich mit ihrer ganzen bürgerlichen Existenz selbstbewusst und angepasst als Produkt und Basis der über sie Regie führenden Herrschaft zu betätigen: Sie haben es zu sachzwanghaften gesellschaftlichen Verhältnissen und zu einer äußerst herrschaftsdienlichen Sorte Freiheit gebracht.

(a)

Was die politischen Sitten und Verfahrensweisen angeht, so zeichnet sich der moderne Staat ‚westlicher‘ Prägung dadurch aus, dass er dem Volksbedürfnis nach guter Herrschaft in ganz radikaler Weise recht gibt und Recht verschafft: nicht bloß im Sinne einer hohen moralischen Verpflichtung der Herrschenden und einer gewissen praktischen Notwendigkeit, die Untertanen bei Laune zu halten. Die Demokratie nimmt das Volk in seiner notorischen Unzufriedenheit mit seinen Existenzbedingungen und der dafür zuständigen Herrschaft quasi beim Wort und überträgt ihm die Entscheidung darüber, wie und vor allem von wem es regiert werden will. Sein mehrheitliches Urteil über seine amtierende Regierung und die allzeit bereit stehenden Ersatzleute bleibt kein folgenloses Gemurmel, sondern mündet nach festen Verfahrensregeln periodisch in den wählerischen Entscheid, ob die aktuellen Machthaber ihre Sache gut genug gemacht haben, um weiterzumachen, oder ob eine andere Mannschaft die Staatsführung übernehmen soll. In diesen Wahlakt geht als selbstverständliche Voraussetzung die Festlegung mit ein, dass das Management der dauernd so schlecht bedienten Interessen des Volkes, die Regulierung seiner Bedürfnisse und die Reglementierung seiner produktiven Anstrengungen, natürlich in die Hände einer höheren Gewalt gehört; dass es, anders gesagt, für ein freies, selbstbestimmtes Volk auch nur einen Weg gibt, sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz zu befassen und auf sie Einfluss zu nehmen, nämlich indem es sie einer guten Herrschaft überantwortet. Von dem politischen Gewaltverhältnis als solchem: davon, dass das Volk eine Herrschaft über sich hat und von deren Entscheidungen abhängt, was es darf und muss, nimmt die Demokratie nichts zurück; das lässt sie im Gegenteil das Volk mit jedem Wahlakt, in dem die alten oder neue Führungskandidaten – auf Zeit und dann wieder von neuem, also ad infinitum – zur Regentschaft ermächtigt werden, bestätigen und bekräftigen. Mit der Wahrnehmung seiner politischen Freiheit in der Wahl bekennt ein modernes Volk sich dazu, dass es – Volk, das es ist – Führung braucht. Und die kriegt es dann auch todsicher: Machthaber, die durch ihren Wahlsieg bis zum nächsten Termin als die gute Herrschaft beglaubigt sind, auf die das Volk ein Recht hat. Ausgerechnet dadurch, dass sie in eine neue Ermächtigung einmündet, ist alle Unzufriedenheit bis auf weiteres abgegolten.

Das große Angebot der Demokratie an ein freies Volk besteht in den Alternativen, an denen es seine Wahlfreiheit austobt – also in dem Machtkampf der Parteien und Figuren, die sich berufen fühlen, dem Volk die Fortentwicklung seiner Lebensverhältnisse und Bedürfnisse, Interessen und Verpflichtungen zu diktieren. Machtkämpfe dieses Inhalts sind keine Erfindung der Demokratie; sie gehören zur politischen Herrschaft allemal dazu. Die Demokratie jedoch macht daraus eine durchorganisierte Dauerveranstaltung: einen zivilen Konkurrenzkampf – versuchten und bisweilen vollendeten wechselseitigen Rufmord eingeschlossen – mit äußerst konstruktivem, staatsdienlichem Inhalt. Die politischen Gegner tun nämlich alles, um einander in glaubwürdig demonstrierter Führungsstärke zu überbieten – praktizieren also vollständige Einigkeit in dem Hauptpunkt, dass es in der Regierung um nichts anderes als darum geht, den Dienst des Volkes an der ‚nationalen Sache‘ mit aller verfügbaren Gewalt effektiv und erfolgreich zu organisieren: Sie kämpfen darum, dem Volk nach diesem Kriterium mehr als alle andern zu imponieren.

(b)

Die ‚gemeinsame Sache‘, der materielle Inhalt der Herrschaft, um die demokratisch konkurrierende Politiker sich vor und bei ihrem Volk bewerben, hat im Zuge dieses zivilisatorischen Fortschritts gleichfalls eine moderne Fassung erfahren: Zur ‚westlichen‘ Demokratie gehört als politökonomischer Zwilling die Marktwirtschaft. Wo das Volk mit seinen hoheitlich zurechtgerückten und beschränkten Bedürfnissen, seinem Geldbedarf, seinen gesetzlich geforderten Dienstleistungen und seiner Unzufriedenheit offizielle Anerkennung genießt – im Hinblick nämlich auf den daraus folgenden resp. zu folgernden Willen, so gut wie möglich und möglichst immer besser regiert zu werden –, da schließt auch die nationale ‚Sache‘, auf die es verpflichtet wird, die förmliche Anerkennung seiner Interessen ein – unter dem einen generellen, abstrakt allgemein geltenden Vorbehalt des staatlich herbeigeführten Gemeinwohls. Da dürfen und sollen die Bürger im Bemühen um ihren Lebensunterhalt grundsätzlich frei und gleich zu Werk gehen, ganz auf sich und die Mittel gestellt, die das unpersönliche Regelwerk der Gesetze ihnen als ihr Eigentum garantiert. Sie dürfen nicht nur, sondern sollen für sich und die Ihren sorgen, so gut sie es eben vermögen, und sich durch keine praktischen Hindernisse und Niederlagen davon abbringen lassen. „Bereichert euch!“ lautet die erste ökonomische Devise des demokratischen Staates.

Das lässt ein Volk sich nicht zweimal sagen. Nach den Regeln der Marktwirtschaft, die sein Gesetzgeber ihm als sein Betätigungsfeld vor- und freigibt, stürzt es sich in den Beruf des Gelderwerbs – und macht da die Erfahrung, dass die gleiche rechtliche Anerkennung, die alle regelkonformen ökonomischen Interessen genießen, etwas ganz anderes ist als die Gleichheit der ökonomischen Interessen selber und dass die Freiheit eines jeden, im Bemühen um Eigentum nur auf sich zu schauen, ihre kaum auszuhaltenden Härten hat. Quasi automatisch nämlich verteilt sich das aus politökonomischer Knechtschaft befreite Volk in höchst unterschiedlicher Proportion grundsätzlich auf die zwei komplementär zusammengehörigen gegensätzlichen Weisen, durch Arbeit Eigentum zu schaffen und Geld zu verdienen. Eine sehr kleine Klasse von Geschäftsleuten nutzt die private Kommandogewalt, die das freiheitliche Staatswesen mit seiner egalitären Eigentumsgarantie dem Geld verleiht, so aus, dass sie andere für die Vermehrung ihres Vermögens arbeiten lässt – sie hat genug davon, um sich diese schöne ökonomische Dienstleistung zu kaufen; und mehr als genug Geld ist in einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht nötig, um reicher zu werden. Die große Mehrheit verwirklicht ihr materialistisches Erfolgsstreben umgekehrt mit Arbeit für die vermögende Elite; gegen ein Entgelt, das nicht reich macht, sondern die Notwendigkeit reproduziert, in Abhängigkeit vom Vorteil eines Arbeitgebers Geld fürs Lebensnotwendige zu beschaffen. Sie fungiert als nationale Arbeitskraft in der peinlichen Doppelrolle des Produktionsfaktors – nämlich der ergiebig auszubeutenden Quelle frisch geschaffenen Eigentums – und des herabzudrückenden Kostenfaktors; und nicht einmal darauf kann der einzelne in seiner freien Selbstverantwortung sicher rechnen, in dieser Funktion überhaupt gebraucht und entlohnt zu werden. Und auch die Erfahrung bleibt dem so eifrig in erlaubtem Eigennutz um sein Eigentum bemühten modernen Bürger nicht erspart: Das Mittun im allgemeinen Konkurrenzkampf ums Geld kostet einen gehörigen Anteil an Steuern und Abgaben. Die Staatsgewalt lässt ihre Angehörigen dafür bezahlen, dass sie ihnen ein antagonistisches Zusammenwirken beim Geldverdienen aufnötigt – schließlich schafft sie sich so ein kapitalistisch durchsortiertes Volk, um sich dessen eigennütziger ökonomischer Anstrengungen als Quelle ihrer Machtmittel und Instrument ihres Erfolgs im Kreis der staatlichen Souveräne zu bedienen.

Die lebenspraktischen Auswirkungen dieses Dreiecks-Verhältnisses zwischen Staatsmacht, privater ökonomischer Kommandogewalt und produktivem Dienst an fremdem Eigentum – Auswirkungen, denen auch der irgendwo zwischen Lohnarbeit und Kapitalakkumulation angesiedelte ‚Mittelstand‘ mit seinen Bemühungen um hinreichenden Gelderwerb nicht entgeht –, sind für die große Masse der Bevölkerung eines modernen Kapitalstandorts nicht schön. Ein freies Volk geht der politökonomischen Notwendigkeit seiner Existenznöte aber nicht weiter auf den Grund. Es hält seine Freiheit, die förmliche egalitäre Anerkennung seiner materiellen Interessen durch die herrschende Ordnungsmacht, sein gewährtes Recht auf Bereicherung gegen alle schlechten Erfahrungen hoch, die es damit macht, und denkt konstruktiv „nach vorn“. Nämlich erstens und vor allem so, dass es die erfolgreiche Bewältigung seines allgemeinen politökonomischen Schicksals als die quasi naturgegebene, jedenfalls nicht sinnvoll zu kritisierende Lebensaufgabe jedes Einzelnen „begreift“ und alle Konsequenzen auf das Konto individuellen Gelingens oder Versagens verbucht. Und soweit die mündige Bürgerschaft sich zweitens doch um „die sozialen Verhältnisse“ kümmert, unter denen die verschiedenen Klassen und Schichten ihren Lebenskampf zu führen haben, blickt sie mit dem Recht des braven Volkes im Allgemeinen und einer freien Wählerschaft im Besonderen voller Unzufriedenheit auf ihre Obrigkeit, verlangt von der Verbesserungen ihrer Lebenslage – und bringt dabei Kriterien zur Anwendung, die sich von den Erfolgsmaximen der marktwirtschaftlich regierenden Staatsmacht überhaupt nicht unterscheiden: Wenn schon alles so eingerichtet ist, dass Gelderwerb die allgemeine Existenzbedingung ist, aber nur in Abhängigkeit von einem erfolgreichen Wachstum des Vermögens der Kapitalistenklasse gelingen kann, dann muss der Staat als Hüter des Gemeinwohls mit dem sachgerechten Einsatz seiner Gewalt für solches Wachstum sorgen; und wenn er dafür und außerdem für die in dem Zusammenhang nötig werdenden sozialen Betreuungsleistungen Geld braucht, dann liegt die Mehrung des in Geld bemessenen Reichtums sogar ganz besonders im Interesse derer, die davon ausgeschlossen sind und bleiben. Der ökonomische Erfolg der Klasse, die mit ihrem Geld zu ihren Gunsten die gesellschaftliche Arbeit kommandiert, ist die gemeinsame Sorge der Nation, einschließlich des kommandierten Volkes selber.

(c)

So bleibt es natürlich bei den höchst unterschiedlichen Chancen, Beschränkungen und Zumutungen, die das Gemeinwohl einer kapitalistischen Gesellschaft deren diversen Abteilungen beschert. Die haben dementsprechend bei allem guten Willen höchst verschiedenartige Schwierigkeiten, sich mit ihrem prinzipiell anerkannten Geld-Materialismus in den allgemein verbindlichen Konsens über das marktwirtschaftliche ‚bonum commune‘ einzuklinken, verbinden damit auch konträre und in der Mehrheit immer wieder enttäuschte Erwartungen, halten sich gegenseitig für Problemfälle oder sogar Feinde des allgemeinen Besten, so wie sie es interessiert verstehen.

An derlei Gegensätzen beweist nun wiederum die demokratische Staatsverfassung ihre politische Produktivkraft. Sie erteilt allen Fraktionen der Klassengesellschaft – im Prinzip überhaupt jedem ihrer Bürger – die Lizenz, eine Partei zu gründen, in die Konkurrenz um die Staatsmacht einzusteigen und Korrekturen an der Handhabung des Gewaltmonopols zwecks passender Ausgestaltung der jeweiligen Geschäftsbedingungen resp. Lebensverhältnisse anzustreben; unter der einzigen, im Grunde selbstverständlichen und nicht weiter beschränkenden Bedingung, dass es bei der Wahrnehmung dieser Lizenz eben darum geht und nicht um systemgefährdende Eingriffe in die Freiheit, zu wählen und Geld zu verdienen. Dieses Angebot ergeht, wie gesagt, nicht bloß an die Protagonisten der herrschenden politökonomischen Interessen, sondern ebenso an die Vertreter der in Lohnabhängigkeit verstrickten Mehrheit des Volkes; und es wird auch allseits gerne wahrgenommen, von der Lobby der ‚Besserverdienenden‘ ebenso wie von den politischen Anwälten des ‚einfachen Volkes‘, die allesamt an den jeweils Regierenden einiges auszusetzen haben. Für die bessere Gesellschaft fällt das Gemeinwohl mit dem Wachstum ihres Privatvermögens zwar grundsätzlich zusammen; Friktionen können aber schon deswegen nicht ausbleiben, weil die herrschende Klasse ihrerseits aus konkurrierenden Fraktionen besteht, die beim Staat nie gleichermaßen auf ihre Kosten kommen; außerdem werden auch die Reichen zur Bestreitung der Unkosten ihrer Standortverwaltung herangezogen, was den Zweck ihres Reichtums, dessen Vermehrung, empfindlich stört. Da setzt es Kritik; und es finden sich allemal politische Interessenvertreter, die im Sinne ‚der Wirtschaft‘ Programme einer effektiveren Staatsführung verfertigen, mit denen sie auch beim gar nicht so vermögenden Publikum Eindruck machen. Die politischen Vorkämpfer der lohnabhängigen Mehrheit haben erst recht viele Anlässe, aber auch viel damit zu tun, die mit dem Erfolg des Kapitalstandorts so schlecht zu vereinbarenden materiellen Bedürfnisse ihrer Klientel passend zurecht- und ins gemeine Wohl hineinzudefinieren: Aus den stereotypen Notlagen der ‚kleinen Leute‘ stellen sie einen Katalog von Anträgen an die öffentliche Gewalt zusammen, proklamieren Rücksichtnahme auf die nationale Arbeitskraft als unerlässliche Bedingung für dauerhaften Wachstumserfolg und nehmen mit entsprechenden Herrschaftsprogrammen die Konkurrenz mit ihren ‚bürgerlichen‘ Gegnern um den Beifall einer Mehrheit für ihre Führungskompetenz auf.

So werden die gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen politisiert, nämlich den politischen Notwendigkeiten einer marktwirtschaftlich agierenden Staatsführung subsumiert; unvereinbare Standpunkte werden als Varianten des Gleichen: als verschiedene Lesarten der gemeinsamen ‚nationalen Sache‘ und konkurrierende Führungsangebote kommensurabel gemacht – mit durchaus gegensätzlichen Konsequenzen für die so auf einen gemeinsamen Nenner gebrachten Klasseninteressen. Den „Schlechterverdienenden“ wird ihre systematische Schädigung als die bleibende Voraussetzung und unverrückbare Schranke aller Verbesserungen vorbuchstabiert, die eine ihnen wohl gesonnene Herrschaft daran allenfalls anbringen kann; sie werden darüber belehrt, darauf festgelegt und zur wählerischen Anerkennung der Paradoxie aufgefordert, dass ihre ganze Erfolgsperspektive die Beschränkung ihrer Lebensbedürfnisse aufs ‚politisch Machbare‘, nämlich auf ein Leben und Arbeiten nach den Maßstäben kapitalistischer Rentabilität einschließt und keine Chance ohne Verzicht zu haben ist. Den besser Situierten wird die Einsicht zugemutet, dass die praktisch wirksame Verallgemeinerung ihres privaten Nutzens eine Garantie in Gestalt eines Recht setzenden Souveräns benötigt, dessen Entscheidungen sie auch selber gehorchen und für dessen ‚faux frais‘ sie mit aufkommen müssen. Vom Standpunkt der demokratischen Kultur heißt das aber nur, dass alle ‚Abstriche machen‘ und ‚mit Kompromissen leben‘ müssen. So befriedet die Demokratie die Klassengegensätze, die sie einrichtet: Alle gesellschaftlich relevanten Standpunkte koexistieren im Pluralismus konkurrierender Konzepte fürs politische Management der Nation.

Für die demokratische Staatsgewalt bedeutet das die Emanzipation von allen Vorhaben und Anforderungen, überhaupt von allen Inhalten eines Herrscherwillens, die nicht im Sinne einer effektiven Standort-Verwaltung funktional sind. Im parteipolitischen Zusammenwirken der Klassen und Interessengruppen setzt sie den Gewaltbedarf des Kapitals absolut; sie setzt sich selbst als die notwendige verselbstständigte Gewalt der Klassengesellschaft und nimmt als solche den Konkurrenzkampf mit ihresgleichen auf – jede andere Sorte Herrschaft wird weltweit niedergemacht. Komplementär dazu emanzipiert sich das Volk aus seinen überkommenen, nicht mehr funktionalen Abhängigkeiten und Autoritätsverhältnissen; es ist selber nichts weiter mehr als das zweckmäßige, auf gewaltsame Abstraktion von allen Unvereinbarkeiten und Gegensätzen gegründete, selbsttätige Zusammenwirken funktionaler Unterabteilungen des nationalen Kapitalismus und richtet seinen ganzen in freien Wahlen betätigten politischen Willen darauf, nichts anderes zu sein.

(d)

Ihre demokratisch-marktwirtschaftlichen Freiheiten haben die Völker des christlichen Abendlands nicht einfach geschenkt gekriegt. Die überkommenen, durch hohe Geburt und ‚Gottes Gnaden‘ legitimierten Obrigkeiten im kapitalistisch fortschrittlichen Europa haben nämlich lange nicht einsehen wollen, dass sie als Herren im Land gerade um ihrer Herrschaft willen den materiellen Interessen ihrer Untertanen nach marktwirtschaftlichem Reglement Recht geben und mit Garantien für Freiheit und Eigentum zu Diensten sein sollten. In der neuen Klasse kapitalistischer Geschäftemacher mochten sie erst einmal nichts anderes erkennen als einen ehrgeizig aufstrebenden ‚3. Stand‘; die überlegenen Machtmittel, auf die in dieser Hinsicht aufgeschlossenere Regime sich stützen konnten, mussten hier erst die Einsicht verallgemeinern, dass der Souverän an einer geschäftstüchtigen Bourgeoisie eine äußerst wertvolle Stütze hat: eine gesellschaftliche Klasse, die aus purem Eigennutz, daher in zuverlässiger und entsprechend förderungswürdiger Weise das ganze Volk in eine große Geldvermehrungsmaschinerie verwandelt und in ungeahnten Quantitäten abstrakten Reichtum herstellt, an dem die Herrschaft sich für ihre Belange bedienen kann. Noch härter haben sich die Herrscherhäuser damit getan, den armseligen ‚4. Stand‘ völlig eigentumsloser Lohnarbeiter als unentbehrliche Größe in der neuen politischen Ökonomie des Kapitalwachstums zu sehen und als vollwertigen Teil der nationalen Bürgerschaft anzuerkennen, was ja auch nicht unbedingt im Interesse der neuen herrschenden Klasse war; da mussten schon die Proletarier selbst den Aufstand proben und sich ihre staatsbürgerliche Gleichberechtigung erstreiten. Das haben sie dann auch getan und schließlich geschafft; unter Anleitung sozialdemokratischer Parteien, die ihr anfängliches Programm eines vollständigen Umsturzes der herrschenden Verhältnisse sehr bald dahingehend revidiert oder klargestellt haben, dass es ihnen dabei nicht auf die Beseitigung der kapitalistischen Klassenverhältnisse ankam, sondern um Mitwirkung an deren Beherrschung und Fortentwicklung im Sinne des Erhalts der nationalen Arbeitskraft ging. Für die Lizenz, in diesem Sinne mitzumachen und sich im Pluralismus der Staatsparteien ihren Platz zu erobern, hat ‚die Linke‘ sich in der angemessenen Weise bedankt und das Ihre getan, die Arbeiterbewegung in eine Wählergemeinde zu verwandeln.

Exkurs zur ‚kommunistischen‘ ‚Volksdemokratie‘ und den linken ‚Volksbefreiungsbewegungen‘

Im Gegensatz zur Sozialdemokratie haben die einstigen kommunistischen Parteien sich nicht damit begnügt, dem Proletariat sein Recht als unentbehrlicher Teil des Volkes im demokratischen Klassenstaat zu verschaffen. Ihnen galten die ‚Werktätigen‘ – lohnabhängige Industriearbeiter, selbstausbeutende Kleingewerbetreibende und Bauern samt Knechten –, die brav und ehrbar das Volksvermögen schaffen, ohne selber viel davon abzukriegen, als das ganze und eigentliche Volk, die wirkliche Basis des Gemeinwesens, die wahren Citoyens. Der Klasse der nicht arbeitenden Eigentümer, nach denselben hohen Begriffen müßige Schmarotzer am Fleiß der Massen, wurde jedes Recht, sich auch nur als Teil des Volksganzen zu verstehen und einen festen Platz darin zu beanspruchen, rundweg bestritten. Eine wahrhaft demokratische Staatsführung, nicht gekauft und korrumpiert von der Bourgeoisie, sondern der produktiv tätigen wirklichen Quelle ihrer Macht verpflichtet, hatte dem werktätigen Volk sein Recht als alleiniger Schöpfer des gesellschaftlichen Reichtums zu verschaffen, den „Stand“ der Ausbeuter aus der Welt zu schaffen und ein Gemeinwesen der ‚Arbeiter und Bauern‘ zu verwirklichen.

Eine Kritik am politischen und ökonomischen Beruf des Volkes, bereitwillig und ohne großen eigenen Nutzen am Gemeinwesen Dienst zu tun, ist diesen seltsamen Umstürzlern nicht in den Sinn gekommen. Genau diesen Dienst haben sie im Gegenteil für den Ehrenpunkt der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, für die Grundlage ihres Rechts auf alleinige Inbesitznahme des Staatswesens gehalten und für ein System der gerechten Vergütung ihres selbstlosen Einsatzes gekämpft; im zusammengebrochenen Zarenreich mit Erfolg. Dort und in ihrem einen Weltkrieg später aufgemachten ‚sozialistischen Lager‘ haben sie konsequenterweise den staatlichen Herrschaftsapparat den ‚Kräften der Reaktion‘ entrissen und mit dessen Gewaltmitteln den Zynismus der Freiheit des Geldverdienens – wenig mit eigener, umso mehr mit gekaufter Lohn-Arbeit – durch eine neue politische Ökonomie ersetzt. Die verband eine Indienstnahme des ganzen Volkes nach dem als Methode der Mehrwertproduktion geschätzten Muster kapitalistischer Ausbeutung, aber ohne Kapitalisten, mit einem System der Versorgung und sozialen Betreuung der Massen, mit dem die Erwirtschaftung eines maximalen Mehrwerts dann doch nur herzlich schlecht zu vereinbaren war. Für einen Pluralismus politischer Parteien war in diesem System kein Platz, weil das geeinte werktätige Volk nur ein politisches Interesse kennt: eben dies, Mehrwert-Wirtschaft und soziale Versorgung effektiv zu kombinieren und sich damit in der Konkurrenz der Nationen durchzusetzen: einem ‚Wettkampf der Systeme‘, der fortan nicht mehr bloß um den schlagkräftigsten Reichtum und die imponierendste Macht geführt werden sollte, sondern um die wahrhaft demokratische Zustimmung der Völker zu ihrem Staat. Die unausbleibliche Unzufriedenheit der eigenen Massen fand damit freilich auch nur noch einen einzigen Adressaten, nämlich in den Funktionären der alternativlos herrschenden ‚Partei des Proletariats‘ bzw. der von dieser geschmiedeten ‚Volksfront‘, was für die gewünschte Zustimmung zur großen ‚sozialistischen Sache‘ nicht gerade von Vorteil war; dass das nach dem Parteiprogramm fällige, in der Realität aber fehlende zufriedene bis begeisterte Einverständnis des Volkes organisiert wurde, machte die Angelegenheit nicht besser. – Immerhin, auch so lässt sich Staat machen und ein Volk regieren. Die wirkliche Konkurrenz mit den kapitalistischen Imperien und nach deren Maßstäben haben die alternativen Volks-Demokratien allerdings nicht gewonnen und sich schließlich geschlagen gegeben.

Dass „ein geeintes Volk niemals besiegt“ wird – auch da ist das „wahre“, nämlich ehrlich und selbstlos schuftende „einfache“ Volk der Arbeiter und Bauern gemeint –, klingt auch auf spanisch und portugiesisch sehr gut; und der Glaube daran hat über einige Jahrzehnte vor allem Südamerikas Linke zum phasenweise militanten Aufbegehren gegen brutale Militärdiktaturen animiert. Die hatten allerdings die stärkeren Waffen und die nordamerikanische Weltmacht auf ihrer Seite – resp. zum Auftraggeber –; deshalb sind die Sozialrevolutionäre unter ihrer hoffnungsfrohen Losung ein ums andere Mal in Niederlagen hineinmarschiert. Das entschuldigt jedoch nicht den politischen Fehler, der in der Parole von der unbesiegbaren Volkseinheit seine manches Herz erwärmende Kurzfassung gefunden hat. Der Glaube daran setzt sich in wohlmeinendem Idealismus über die Tatsache hinweg, dass das Volk auch in südamerikanischen Diktaturen aus gesellschaftlichen Gruppen mit sehr unterschiedlichen bis gegensätzlichen Interessen zusammengesetzt ist, die den staatlichen Zwang zu produktivem Zusammenwirken keineswegs allesamt und schon gar nicht alle im gleichen Sinn als Unterdrückung erfahren. Das „einfache“ Volk, dessen Einheit die Linke beschwört, ist zudem erst einmal – notgedrungen – vor allem damit befasst, mit Anpassungsleistungen über die Runden zu kommen, hat sich überdies daran gewöhnt, sein unausbleibliches Scheitern zu ertragen und wegzustecken; von dieser schlechten Gewohnheit muss es zuerst abgebracht, seinem Gemeinwesen, in dem es so treu als Volk zusammenlebt, abspenstig gemacht und für ein wirklich lohnendes, wirklich gemeinsames Ziel agitiert werden, wenn seine „unbesiegbare“ Einheit mehr sein soll als die pure Abstraktion von allen sozialen und politischen Differenzen, also auch von all den besonderen materiellen Bedürfnissen und politischen Interessen, die die Leute im besten Fall wirklich zum Widerstand bewegen. Eine so abstrakte Einigkeit lässt ja lauter Unvereinbares fortbestehen, ist deswegen allenfalls so lange haltbar, wie das bekämpfte Regime selber undifferenziert gegen Opposition aller Art vorgeht. Und im Erfolgsfall – tatsächlich sind die Militärdiktatoren mittlerweile abgetreten, freilich aus ganz anderen Gründen und unter ganz anderen Vorzeichen als infolge einer revolutionären Emanzipation der unterdrückten Massen – geht sie äußerst folgerichtig in die Volkseinheit über, die eine erneuerte Staatsgewalt stiftet, indem sie alle Klassen und Fraktionen ihrer Gesellschaft für die von ihr neu definierten nationalen Belange in die Pflicht nimmt.

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Nach und nach haben sich alle konkurrierenden Interessengruppen, die im bürgerlichen Gemeinwesen eine wichtige Rolle spielen, als Parteien organisiert und ihren Anteil an der Gestaltung des Gemeinwohls durch die Staatsgewalt erstritten. In dem Maße, wie ihnen das gelungen ist, haben nicht zuletzt die Aktivisten dieses politischen Pluralismus selber die Forderung aufgebracht, alle Fraktionen des Volkes müssten sich untereinander über alles Trennende hinweg in ihrem gemeinsamen Staatswillen unbedingt einig werden. Die Parteienvielfalt hat sich durch umso mehr gewusste und gewollte Einigkeit der passiv wie aktiv Wahlberechtigten zu rechtfertigen – steht also unter Verdacht, dieses kostbare Gut zu gefährden; der Dialektik ihres Herrschaftssystems: der politischen Anerkennung divergierender Interessen und unzufriedener Meinungen als Methode ihrer politischen Befriedung und Einbindung, trauen Demokraten auch heute nicht hundertprozentig. Das entsprechende Misstrauen richtet sich seit jeher vor allem gegen linke Parteien, die sich programmatisch für die besonderen, partikularen Bedürfnisse einer Klasse einsetzen, die eindeutig das schlechteste Los in der Volksgemeinschaft gezogen hat, also alle Gründe zur Ablehnung der herrschenden Ordnung hätte und anfangs ja auch ziemlich starke Tendenzen in dieser Richtung gezeigt hat. Dass die Sozialdemokratie mit ihrem Einsatz für politische Gleichberechtigung und soziale Betreuung der ‚Unterprivilegierten‘ einen entscheidenden Beitrag zur Einbindung dieser Leute in die ‚Volksgemeinschaft‘, in der sie den Platz der Unterschicht besetzen dürfen, und zum Erfolg des demokratisch verfassten Klassenstaats leistet, stand noch nicht einmal für alle Sozialdemokraten gleich außer Zweifel; für ihre politischen Gegner war sofort klar, dass ihre Politik dazu angetan oder sogar darauf angelegt wäre, brav und genügsam arbeitendes Volk seiner Bestimmung zu entfremden, es mit der Erzeugung eines – „künstlichen!“ – Klassenbewusstseins in einen Gegensatz zum Gemeinwesen und dessen besseren Ständen hineinzumanövrieren, ‚Sozialneid‘ zu wecken – der Vorwurf trifft bekanntlich noch heute jeden, dem es nicht auf Anhieb gefällt, dass die Reichen immer reicher und Arme immer ärmer werden – und so die nationale Gemeinschaft zu zersetzen.

Den Verdacht, es würden, statt die Reihen des Volkes hinter seiner Führung zu schließen, lauter Sonderinteressen gefördert, Entzweiung zugelassen, ‚Politikverdrossenheit‘ produziert und andere dem nationalen Gemeinsinn abträgliche Haltungen freigesetzt, pflegen patriotische Gemüter und kritische Anwälte einer durchsetzungsfähigen Staatsgewalt auf die Demokratie insgesamt – auf die Lizenz, Interessen politisch zu organisieren, und auf die Institution freier Wahlen – auszudehnen, sobald sie einen Anlass zu ernsterer Sorge finden. Wenn eine gewählte Regierung nach der anderen ihnen zu schwach vorkommt, die Opposition zu frech, die Nation zu erfolglos, das Volk zu zerstritten, dann erteilen sie nicht bloß den gerade amtierenden Amtsträgern eine Absage, sondern erklären ihr Misstrauen gegen das ganze System: Staatsführer, die um die Gunst einer Mehrheit des egalitär wahlberechtigten Volkes „buhlen“ müssen, nähmen viel zu viel Rücksicht auf einzelne Gruppen und vor allem auf die problematischen Bedürfnisse der Massen; Parteimenschen wären im Grunde überhaupt nicht geeignet, das Volk zu einen und zu neuen nationalen Erfolgen zu führen.[5] Wenn es ganz schlimm kommt, ist nicht einmal die politische Ökonomie des Gemeinwesens, die freie Marktwirtschaft, vor politischer Verdächtigung sicher: Mit ihrer Art, allenthalben egoistische Geldinteressen zu sollizitieren und rücksichtsloses Konkurrieren zu belohnen, wäre diese Wirtschaftsweise – die heißt dann wieder ‚Kapitalismus‘, und der kriegt noch hässliche Eigenschaftswörter verpasst – an der Zerrüttung der andernfalls ganz harmonischen Volksgemeinschaft mit schuld.

Anmerkung zur faschistischen Apotheose der Volksgemeinschaft

Mit den geläufigen Bedenken gegen den demokratischen Pluralismus, gegen linke Verfechter einer von der Sache der Nation unterschiedenen ‚Arbeitersache‘ und gegen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Moral des Volkes machen Faschisten programmatisch ernst. Das Volk: sein Lebensrecht, sein Erfolg in der Weltgeschichte, die Macht, die es unter der richtigen Führung darstellt, seine Einigkeit, die dafür nötig ist – das geht ihnen über alles. Deswegen sind sie geschworene Feinde von allem, was nach Proletariat und Arbeiterbewegung klingt: Sie kennen keine Klassen, nur deren staatlich erzwungenes Zusammenwirken als dienstbares Volk und den Unterschied zwischen willigen und unwilligen Dienstkräften. Unter diesem Gesichtspunkt sind sie freilich bekennende und tatkräftige Anhänger des ‚einfachen‘ Volkes – insofern da nämlich tüchtige, arm gebliebene und trotzdem redlich engagierte, also offenkundig uneigennützig dienstbereite Arbeiter das Große Ganze in Schwung halten. Diese Wertschätzung unterscheidet sich von derjenigen ihrer sozialistischen und kommunistischen Feinde gar nicht groß, zielt allerdings in die genau entgegengesetzte Richtung: Wo die radikale Linke die ‚Werktätigen‘ als das wahre und eigentliche Bürgervolk und deren soziale Belange als das ganze staatlich durchzusetzende Gemeinwohl identifiziert, da subsumieren Faschisten umgekehrt das arbeitende Volk unter den Beitrag, den es für die Sache des ganzen Volkes leistet: für den Welterfolg der Macht, die in ihm steckt. Sie lassen nicht locker, bis die Lohnabhängigen ihre abhängig-dienstbare Stellung im Ganzen als ihren Lebensberuf anerkennen und das auf ihre Kosten und zu ihren Lasten für große Taten mobilisierte Gemeinwesen als ihre ureigene Heimat lieben. Das Volk, so wie Faschisten es mögen, hat keine höheren Ansprüche als den auf eine Führung, die das Äußerste aus ihm herausholt. Es hat ein Recht auf eine Herrschaft, die nichts seinem Belieben anheim stellt; die vielmehr in dem Sinn für Gerechtigkeit sorgt, dass ein jeder in seinem ‚Stand‘ seinen standesgemäßen Dienst an der Macht des Volkes tut. Deswegen sind Faschisten Gegner der Demokratie, die nach ihrem – und nicht nur ihrem – Urteil das Belieben berechnender Interessengruppen – dies das Gegenbild zum ehrenhaften ‚Stand‘ – zur Richtschnur der Politik erhebt und damit ihr eigenes Ideal kraftvoller Führung verrät. Mit kritischem Unterscheidungsvermögen begegnen sie schließlich auch den kapitalistischen Benutzungsverhältnissen, in die ihr verehrtes Volk tatsächlich funktionell hineinsortiert ist: ‚Raffendes Kapital‘ – nämlich Kapitalisten, in deren Geschäft sie keinen Beitrag zum Reichtum der Nation erkennen mögen, sondern nichts als unproduktive Selbstbedienung – bekämpfen sie zugunsten der ‚schaffenden‘ Konkurrenz – derjenigen, denen sie den Bonus zubilligen, mit der Privatmacht ihres Eigentums als wahre Führer ihres kleinen oder großen Firmenimperiums aufzutreten und im Dienst der Allgemeinheit das Optimum an Leistung aus ihren Belegschaften herauszuwirtschaften.

Ziel aller Bemühungen der Faschisten ist die „Läuterung“ des Volkes zur schlagkräftigen Kampfgemeinschaft, mit der der berufene, durch seine gelungene Machtergreifung als solcher ausgewiesene Führer in der imperialistischen Konkurrenz, nach faschistischer Lesart ein Überlebenskampf zwischen und eine harte „natürliche Auslese“ unter den Völkern, Großes vollbringt. Ihr Programm umfasst daher ein gewaltiges moralisches Reinemachen: die Säuberung aller Stände und Schichten von „Elementen“, die den volkseigenen Kampfgeist vermissen lassen oder gar sabotieren – Klassenkämpfer in erster Linie; aber auch Paupers, die „nicht arbeiten wollen“, verwahrloste Müßiggänger, Lebensuntüchtige geraten auf die Abschussliste, zudem unliebsam auffällige Kapitalisten, hartnäckige Liberale, allzu kritisch distanzierte Intellektuelle, Menschen ohne patriotisches Gewissen: volksfremde Figuren allesamt; denn Faschisten bestehen unerbittlich auf dem Wahn, den auch Demokraten gerne als Interpretationsvorschlag in Betracht ziehen, der Mensch wäre ganz ohne eigene Willensentscheidung, durch seine angeborene Naturausstattung zu unbedingter Parteilichkeit für sein Volk determiniert und nur durch Betrug und Verführung davon abzubringen. Faschisten haben hier – vor, neben und zusätzlich zu dem Einsatz ihres Volkes im internationalen „Völkerringen“ – einen inneren Feind zu bekämpfen, für dessen volkstumsmäßige Zuordnung Deutschlands Nazis die traditionsreiche Ausgrenzung der Juden aus Europas autochthonen Volksgemeinschaften neu interpretiert und zum Äußersten radikalisiert haben; Nationalisten neueren Datums entdecken nach der gleichen Logik „die Ausländer“ im eigenen Land, ausgerechnet dessen armseligste Bevölkerungsgruppe, als Hindernis dafür, dass das eigene Volk zu seinem Recht kommt. Bei diesem handelt es sich um eine ‚Herrenrasse‘, der der Vorrang vor den anderen Völkern als waldursprüngliches natürliches Recht buchstäblich im Blut liegt; ihr ideales Volk denken Faschisten sich gern als naturwüchsige Schicksalsgemeinschaft von der Art eines welthistorischen Raubtierrudels.

Im unzufriedenen demokratischen Bürgervolk finden sie immer ihre Anhänger; an willigen Helfern hat es nicht einmal Hitler gefehlt, weder für seinen ‚großdeutschen Befreiungskrieg‘ gegen die Sowjetunion und seine imperialistischen Konkurrenten noch für seinen inneren Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Für den Übergang, alle erlittenen oder befürchteten Schädigungen allgemeiner wie privater Art einem mangelhaften Führerangebot der Demokratie zur Last zu legen, nach einem „starken Mann“ zu seufzen, unter dessen Kommando auf namhaft gemachte Volksschädlinge loszugehen und sich mit ungerecht bevorteilten Nachbarn zu schlagen, braucht ein anständiges Volk sich nicht groß umzustellen. Ihren Weltkrieg haben die großen Faschisten des 20. Jahrhunderts allerdings verloren; gegen die Rote Armee, was die Verlierer mit Revanchismus quittiert haben, sowie gegen die fortschrittlichste Demokratie, was den besiegten Völkern nachhaltig Eindruck macht: Sie hat den Faschismus immerhin an dessen eigenen Maßstäben gründlich blamiert.

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Auf die skeptischen Bedenken – vor allem ihre eigenen – gegen den demokratischen Pluralismus haben die demokratischen Parteien im Laufe der Zeit, zuerst und vorbildlich in den USA, die passende Antwort gefunden. Sie haben sich zu Volksparteien entwickelt; in dem Sinn, dass sie ausdrücklich keine speziellen Gruppen- – geschweige denn Klassen- – Interessen vertreten, sondern für alle Abteilungen des Volkes ‚wählbar‘ sein wollen; alle gesellschaftlichen Anliegen von einigem Gewicht sollen sich in ihrem programmatischen und personellen Angebot ‚wiederfinden können‘. Die Notwendigkeit, untereinander unvereinbare Forderungen und unversöhnlich widerstreitende Standpunkte zu Momenten des allgemeinen Besten, zu Erfolgsbedingungen des Kapitalstandorts zurechtzudefinieren und so ihre Anhängerschaft zu „integrieren“, haben diese Parteien bewältigt und hinter sich gelassen. Sie konstruieren Angebote für längst politisierte Interessen. Dabei gehen sie von der marktwirtschaftlichen und imperialistischen Bedarfslage ihres Gemeinwesens aus, buchstabieren von da her jeder Unterabteilung ihres kapitalistisch durchsortierten Volkes ihre Funktion und ihren Stellenwert im Ganzen vor, loben die Kapitalisten für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Masse der Lohnabhängigen für ihre verständnisvolle Anpassungsbereitschaft, überhaupt einen jeden für den Dienst, den das Gemeinwesen von ihm verlangt, und empfehlen sich als über allen Partikularinteressen stehende Führungsmannschaft, die alle und alles erfolgreich zusammenwirken lässt. Dabei achten sie auf parteieigene „Alleinstellungsmerkmale“, die ihnen einerseits eine eingeschworene Stammwählerschaft, andererseits eine Mehrheit bei den nicht festgelegten ‚Wechselwählern‘ sichern sollen. In diesem Sinne pflegen sie ihre besondere politische Kultur, zusammengesetzt aus einem ideologischen Wertehimmel und einem gepflegten parteiinternen Umgangston, einem besonderen Stil des werbewirksamen Auftretens und einem Vorrat an Traditionen, Symbolen, erinnerungswürdigen Repräsentanten und Vorbildern; in dem Zusammenhang kommen sie berechnend auf die Sonderinteressen und partikularen Standpunkte zurück, als deren Vorkämpfer sie ursprünglich einmal angetreten sind. Damit und mit ihren entsprechend durchgestylten Führungsfiguren sorgen moderne Volksparteien für das Maß an politischer Alternative, das – unter geordneten Verhältnissen – nötig ist, um das demokratische Volk für die Konkurrenz der Macht-Aspiranten zu interessieren und all die Unzufriedenheit zu absorbieren, die der Fortschritt des kapitalistischen Gemeinwesens auch unter noch so anpassungswilligen Staatsbürgern unweigerlich immer wieder erzeugt. Denn denen werden im Zuge des universellen Konkurrenzkampfes der kapitalistischen Firmen und der Staaten beständig neue Bedingungen fürs Arbeiten, Geldverdienen und Geldausgeben gesetzt – meist schlechtere; immer neue Dienste werden ihnen abverlangt – in der Regel härtere, in zunehmendem Maße aber auch gar keine mehr, was für die Betroffenen den Absturz in eine Verelendungskarriere bedeutet. Die paar Lebenskünste, mit denen das Fußvolk trotz allem durchs Leben und auf seine Kosten zu kommen versucht, werden regelmäßig durchkreuzt, der Wille, trotzdem mitzumachen, wird einigermaßen strapaziert. Den immer wieder „aufgestauten“ Volkszorn holen die Volksparteien ab, funktionalisieren ihn für ihren erbitterten Konkurrenzkampf um die Macht, sorgen also dafür, dass er sich am Führungspersonal der jeweils anderen Parteien abreagiert; so hilft er planmäßig neuen Machthabern oder den alten neu ins Amt.

(e)

Die Überzeugungsarbeit, die ausgereifte demokratische Parteien dafür leisten, ist ein eigenes Kapitel dialektischer Volksbildung, zusammengesetzt aus berechnender Verehrung und offener Verachtung der „niederen“ Volksmassen.

Bedingungslos geachtet werden „die Menschen draußen im Lande“ von ihren demokratischen Politikern als Träger eines Staatswillens, soweit den die jeweilige Partei als Wahlstimme für sich verbuchen kann. Problematisch wird die Wertschätzung der wahlberechtigten Bürgerschaft bereits, wenn deren politische Sympathien sich mehrheitlich dem politischen Gegner zuwenden; nach der festen Überzeugung regierungswilliger Demokraten hat das Volk dann nicht einfach von seiner Wahlfreiheit Gebrauch gemacht, sondern einen Fehler begangen. Der wiegt dann richtig schwer, die Zeit bis zum nächsten Wahltermin, zu dem er korrigiert werden kann, wird fast schon zu lang, und die Sympathie der enttäuschten Machthaber und -aspiranten für ihre Basis leidet, wenn ein nennenswerter, nämlich irgendwie wahlwirksamer Protest gegen sozialpolitische oder auch andere Fortschritte des Gemeinwesens laut wird, die von den Volksparteien ansonsten einvernehmlich für fällig erachtet und durchgesetzt werden. Und mit einem Widerstand, der über eine letztlich folgenlose Proteststimme hinausgeht, macht das Volk sich schon arg unbeliebt.

In einem solchen Fall – gottlob eine Ausnahme in funktionierenden Demokratien mit wohlerzogenen Wählern – gestaltet sich der herrschaftsfreie Diskurs, den die Verantwortlichen mit ihren für nichts verantwortlichen Bürgern führen, etwas ruppig. Gegen die protestierende Basis wird mit dem Verdikt ‚Realitätsverweigerung‘ zugeschlagen: Ohne jeden weiteren gedanklichen Zwischenschritt, ohne jedes noch so verkehrte Argument wird die traurige Wirklichkeit, gegen die der Protest sich richtet und zu der von den Machthabern Alternativen erbeten werden, als Beweis für die Unmöglichkeit jeglicher Alternative und Instanz gegen jede sachliche Berechtigung des Protestes geltend gemacht. Der Gegensatz zwischen der praktizierten Staatsräson und der Bedürfnislage der Massen wird, sobald die sich störend zu Wort melden, umstandslos den ‚Störern‘ als grobe Dummheit und die Dummheit als böse Absicht: als ‚Verweigerung‘ zur Last gelegt. Friedfertige Demonstranten werden aus der Bürgerschaft ausgegrenzt, die in Gestalt ihrer Obrigkeit sich selbst beherrscht; gelten als ‚die Straße‘, der gewählte Mandatsträger schon deswegen nicht nachgeben dürfen, weil sie damit den wahren Volkswillen verraten würden, der sich in ihrer Wahl verbindlich manifestiert hat. Demokratische Parteien haben die Pflicht, gegen jede Unzufriedenheit von unten, die sich mit den gebotenen Wahlalternativen nicht bedient findet, immun zu bleiben und gegen widerspenstige Opfer einer für alternativlos befundenen Politik unnachsichtig vorzugehen. Politiker, die eine derart geächtete Aufgeregtheit des Volkes für sich auszunutzen suchen, werden von ihren realitätstüchtigen Kollegen und einer empörten Öffentlichkeit als ‚Rattenfänger‘ entlarvt: eine Bezichtigung, die einiges von der Verachtung verrät, die die herrschende Elite in der Demokratie für den Teil des Volkes hegt, der, aus welchen Gründen und mit welchen Anliegen auch immer, mit der geltenden Staatsräson in Konflikt gerät, also weder zu den Besserverdienenden gehört, deren notorischer Ärger über Steuern und Bürokratie voll in Ordnung geht, noch zu den Idealbildern der modernen ‚Zivilgesellschaft‘, den „genussfreudigen Citoyens“, die mit ihrer Obrigkeit ganz locker auf gutem Fuß stehen, weil sie sich durch die nirgends wirklich eingeschränkt finden auf ihrem höchstpersönlichen Erfolgsweg. Freilich sollen sich die ärmeren Leute, auch wenn sie mal verdrießlich sind und für ‚Protestparteien‘ votieren, keineswegs als Ratten beschimpft fühlen; solange jedenfalls nicht, wie sie für eine der Volksparteien, die jeweils auf ihrer Seite im politischen Spektrum ‚die Ränder abdecken‘, noch ‚erreichbar‘ sind. Sie sollen nur daran erinnert werden, dass es rattenmäßig verkehrt und verwerflich ist, Demagogen nachzulaufen – das heißt wörtlich zwar nur „Volksführer“, meint aber die falschen, die ohne Lizenz durch den Konsens der ausgewiesenen Demokraten, und macht deutlich, dass ehrliche Anti-Demagogen ihr Volk für einen unmündigen, leicht manipulierbaren Haufen halten, der eben deswegen unbedingt von den Richtigen geführt werden muss, um nicht von den Falschen verführt zu werden.

Die elitäre Verachtung des gemeinen Volkes durch seine politischen Repräsentanten hat ihren Grund allemal in dem Befund, dass dessen rohe Bedürfnisse, auch wenn sie im Prinzip schon politisiert sind, also so gut es geht am Gemeinwohl Maß nehmen, von sich aus nie wirklich hundertprozentig zu den Erfordernissen eines erfolgreichen Kapitalstandorts und Weltordnungssubjekts passen. Vom Gegensatz zwischen Volksbedürfnissen und Staatsnotwendigkeiten ist dann aber gar nicht weiter die Rede; den einmal festgestellt, geht es für demokratische Volksvertreter nurmehr darum, wie man dem Volk mit dessen Zustimmung die passende ‚Orientierung‘ verpasst, so dass es zuverlässig will, was es muss. Deshalb werden Parteien, die mit einem Plädoyer für eine volksfreundlichere Politik von der herrschenden Generallinie abweichen, so wenig einer sachlichen Auseinandersetzung gewürdigt und so viel lieber mit dem Vorwurf angegriffen, sie würden sich, nur um Anklang zu finden und das Volk anschließend bevormunden zu können, mit Volksbedürfnissen gemein machen, über die man doch schon längst einvernehmlich das Urteil gefällt hat, dass sie verkehrt, abwegig, verwerflich, „dumpf“ etc. sind. Demgegenüber bemühen sich die Volksparteien mit der richtigen Linie um Anklang beim Wähler, um es im richtigen Sinn bevormunden zu können, was dann eben keine Bevormundung und schon gar keine Ver-, sondern Führung ist. Die Auseinandersetzung mit ihren Gegnern betreiben Demokraten als Streit um die einzig richtige Stellung zum Volk; nämlich eine solche, die beim Wähler-Betören der Unmündigkeit der Massen und der Verkehrtheit ihrer Bedürfnisse umsichtig Rechnung trägt und ihre politischen Meinungen vereinnahmend bedient, um sie zu korrigieren, nicht um sie auszunutzen.

Den Streit führen die Parteien nicht bloß mit gerechter Erbitterung gegen linke wie rechte Abweichler, sondern auch als in der Sache gleich gesinnte Konkurrenten gegeneinander. Keineswegs erst da, wo Selbstverständlichkeiten der staatlichen Agenda in Frage gestellt werden, sondern wo immer der politische Gegner ‚Themen besetzt‘ und damit allzu viel Resonanz findet oder auch nur finden könnte, greifen demokratische Volksparteien zu der Bezichtigung, die andern wollten doch bloß den ‚niederen Instinkten‘ des Volkes – ganz gleich welchen – zu Gefallen sein, anstatt, wie es sich nach dem Sittenkodex demokratischer Herrschaft gehört, den sie da einander vorhalten, im Werben um des Volkes Wahlstimme die grundsätzliche Distanz der Herrschaft zu den Beherrschten und deren verantwortungslosen Wünschen kenntlich zu machen. Die Anklage lautet auf ‚Populismus‘ – ein bemerkenswerter Vorwurf für die Anhänger und Verfechter einer Herrschaftsform, die statt dem lateinischen Wort für „Volk“ das griechische im Namen führt. Das demokratische Ethos verlangt, dass die Politik ihren Gegensatz zum Volk nicht bloß durchzieht, sondern auch nicht verschweigt. Emanzipation der Herrschenden von Massenbedürfnissen aller Art ist die unerlässliche Bedingung, eine erkennbare Absage an deren Unvernunft der Prüfstein für das Recht, sich aufs Volk und dessen politischen Willen stürzen zu dürfen, um ihn für die eigene Partei zu vereinnahmen. Nur wer beteuert, im Interesse des allgemeinen Besten auch vor unpopulären Maßnahmen nicht zurückzuschrecken – worin die bestehen sollen, ist dann schon gar nicht mehr so sehr von Interesse –, hat ein Recht auf Popularität; nur wer den Abstand wahrt, in dem die ‚Raison‘ des Staates ein für allemal zur beschränkten Fassungskraft des Volkes steht, darf sich mit dem gewöhnlichen Wahlvolk gemein machen und sich auf Volksfesten als volksnaher Landesvater und volkstümlicher Machtmensch feiern lassen. Wem das gelingt, dessen Demagogie zeugt von Charisma – eine Anleihe beim Vokabular der altgriechischen Götterverehrung, die die Kunst argumentloser Überzeugungskraft preist und insofern ganz gut auf Politiker passt, die für ihren Machtgebrauch die Zustimmung derer finden, zu deren Lasten er geht.

Auch daran ändert die Demokratie also nichts: Die Einheit zwischen Regierung und Regierten, die sie stiftet, beruht in letzter Instanz darauf, dass die Herrschaft ihren Untertanen mit ihrer Gewalt imponiert.

Erinnerung an die Verfallsgeschichte einer seltsamen Protestparole: „Wir sind das Volk!“

In der Endphase der DDR gehen unzufriedene Bürger dieses Staates protestierend auf die Straße; mit ihren immer größeren Demonstrationen führen sie, der offiziellen deutschen ‚Wiedervereinigungs‘-Historie zufolge, das Ende ihrer Republik herbei. Interessanterweise enthält die berühmt gewordene Losung, unter der sie sich in zunehmender Menge zusammenfinden, gar keine umstürzlerische Zielsetzung, noch nicht einmal eine Forderung – sie lautet schlicht: Wir sind das Volk! Schon das reicht, um eine prinzipielle Absage an die bestehende Herrschaft deutlich zu machen – ein Zusammenhang, der sich nur über die besonders hohe Bedeutung erschließt, die die ‚realsozialistische‘ Staatspartei ihrem Volk beimisst: Nicht bloß der formelle Souverän soll es sein, der seinen politischen Beruf mit der Ermächtigung des wirklichen Souveräns in einem freien Wahlakt erledigt, sondern als ‚werktätige‘ Basis zugleich die Seele des Gemeinwesens, das leibhaftige einzige Staatsziel des ‚Arbeiter- und Bauern-Staats‘; nicht bloß ideelle Berufungsinstanz der Regierenden, sondern wirklicher Nutznießer einer gerechten Ordnung; einzig und allein durch die Erfüllung des Volksbedürfnisses nach sozialer Gerechtigkeit, soll die Inbesitznahme des Staatsapparats durch die ‚Partei des Proletariats‘ und ihre Verbündeten gerechtfertigt sein. Dass die in so hohen Ehren gehaltene, fortwährend als legitimierender Staatszweck angerufene und zu expliziter Zustimmung angehaltene Basis sich überhaupt eigenmächtig zu Wort meldet und als die Größe in Erinnerung bringt, um deren Wohlfahrt sich doch alle Politik drehen soll, stellt bereits die bruchlose Einheit zwischen Volk und Führung in Frage, die die SED für sich in Anspruch nimmt; entlarvt das immer wieder abgerufene Einverständnis der Massen mit ihrer Republik als organisierten Schwindel. Das allein ist schon gleichbedeutend mit einer Kündigung der Legitimation, die die Staatspartei für sich reklamiert, durch die legitimierende Instanz.

Das ist einerseits nicht eben viel. Abgesehen davon, dass auch das Volk der DDR bis zum Schluss noch ein wenig geteilter Meinung ist über Sinn und Zweck seines ‚Arbeiter- und Bauern-Staates‘: Auch die Demonstranten kündigen ihren Status als Volk im Sinne des ‚realsozialistischen‘ Grundgesetzes, als Basis des Gemeinwesens und leibhaftige Rechtfertigung einer herrschenden Gewalt, nicht. Im Gegenteil: Sie beharren auf ihrer Stellung als dienstbare ‚werktätige‘ Mannschaft, auf deren Wohlergehen Partei und Staatsmacht sich verpflichtet hätten. Ihr Slogan ist ein Ordnungsruf an die Obrigkeit; eingeklagt wird Herrschaft im Sinne der zugesagten Einigkeit zwischen Volk und Führung – gerade in seinem Protest und seiner Absage erweist sich das Volk der DDR als das politische Geschöpf seiner ‚führenden Partei‘. Eben deswegen trifft es damit aber auch den neuralgischen Punkt nicht bloß der Herrschaftsideologie, sondern der Staatsräson der SED. Mit der gesamten komplizierten Einrichtung ihres Staatswesens – einer mit quasi geldwirtschaftlichen Kennziffern operierenden „Planwirtschaft“ und einer Kultur der unerbittlichen Belehrung und moralischen Hebung der Massen, einer überall eingemischten Partei und einem für bürgerliche Begriffe luxuriös ausgebauten Sozialwesen usw. usw. – haben die regierenden ‚Kommunisten‘ ja tatsächlich eine ‚klassenlose‘ Alternative zum Kapitalismus realisieren wollen und darauf bestanden, dass deren Erfolg sich in der ungebrochenen Zustimmung der ‚Werktätigen‘ widerspiegeln müsse, die sie als Nutznießer des ganzen Unternehmens vorgesehen haben.

Das bisschen manifeste Ablehnung, das sich unter der Wir sind …-Parole meldet, hätte die DDR dennoch nicht umgeworfen, wenn das schon der ganze Einwand gegen die Daseinsberechtigung der SED-Republik gewesen und geblieben wäre – oder wenn die Staatsparteien des Sowjet-„Blocks“ ihrer alternativen Sache treu geblieben wären. Doch die sind schon längst dabei, ihre eigenen Kriterien staatlichen Erfolgs durch diejenigen ihrer imperialistischen Feinde zu ersetzen und ihre altehrwürdige Parteiräson als historische Zwischenetappe, wenn nicht sogar als Verirrung auf dem Weg ihrer Nationen zu staatlicher Macht und Herrlichkeit ad acta zu legen; auf höchster Ebene werden Sowjetmacht und ‚freie Welt‘ sich über die friedliche Kapitulation des ‚sozialistischen Lagers‘ handelseinig. Kein Wunder daher, dass die ‚realsozialistisch‘ regierten Völker schon gar nicht mehr an die Chance glauben mögen, irgendwann einmal besser dazustehen als die Reklamefiguren, nach denen sie sich ihr Bild vom goldenen Westen zurechtgelegt haben. Das Staatsvolk der DDR sieht sich überdies vom mächtigeren deutschen Nachbarstaat zum Absprung eingeladen und nimmt das als seine große Lebenschance wahr, als es an ‚Republikflucht‘ kaum und dann gar nicht mehr gehindert wird.

An einer freiheitlich ausdiskutierten Beschlussfassung der demonstrierenden Massen liegt es also nicht, dass deren selbstbewusste Wortmeldung mit dem Übergang vom bestimmten Artikel zum eindeutigen Zahlwort – Wir sind ein Volk! – eine neue Bedeutung und Stoßrichtung bekommt. Der Misstrauensantrag gegen die alte DDR-Führung, die ein so erstklassiges Volk gar nicht verdient; der laut verkündete Standpunkt, ein Grundrecht auf eine ganz andere und viel bessere Herrschaft zu haben; das Volksbegehren nach einer Obrigkeit, die das Ideal einer wahrhaft den braven Bürgern gewidmeten Demokratie ernst nehmen und in die Tat umsetzen würde: Das alles wird vom westdeutschen Bundesstaat erhört und dahingehend entschieden, dass den DDR-Bürgern ihr Herzenswunsch erfüllt werden soll, dem einen gesamtdeutschen Volk anzugehören. Dem volkseigenen Staatswillen wird ein neuer Gegenstand und Inhalt spendiert – ganz nebenbei übrigens auch dem der altgedienten Bundesbürger. Die neuen dürfen sich einbilden, sie hätten aus eigener Kraft einen Staat abgeschafft und sich die BRD angeeignet.

Die doppelte Enttäuschung lässt nicht lange auf sich warten. Es stellt sich heraus, dass für die wirklich wichtigen Bedürfnisse des nunmehr gesamtdeutschen Kapitalstandorts so viel zusätzliches ‚werktätiges‘ Volk gar nicht gebraucht wird; zusammen mit der ehemals volkseigenen Industrie erweist sich die unter ‚realsozialistischen‘ Produktionsbedingungen so tüchtige ostdeutsche Arbeitskraft als ziemlich komplett überflüssig. Die materielle Existenz, die sich im neuen Staat und unter kompetentem kapitalistischem Kommando durchgreifend verbessern sollte, ist schlagartig ziemlich flächendeckend in Frage gestellt – und nicht nur die. Das eingemeindete Volk macht außerdem die Erfahrung, dass auch von seiner moralischen Existenz: seinen erworbenen Einstellungen und Auffassungen, seinen akkumulierten Erfahrungen und Lebensgewohnheiten, seinen alltäglichen wie feiertäglichen Sitten und seinen Anstandsregeln im neuen Staat nichts mehr gültig ist – es war eben nicht nur mit seinen Arbeits- und Überlebensbedingungen die abhängige Variable der ‚realsozialistischen‘ Staats- und Wirtschaftsmacht, sondern ist noch immer mit seiner ganzen Lebensart und Sittlichkeit das Produkt der Herrschaft, deren Basis es nicht mehr hat sein wollen. In ihrer Beschwerde über „entwertete Biographien“ legen die auf ihre Art „entwurzelten“ Intellektuellen des liquidierten Staates Zeugnis davon ab, was es heißt, Volk zu sein – und das Volk, das man bis neulich noch war, nicht mehr sein zu können und zu dürfen: Die rückwirkende moralische Ächtung der SED-Herrschaft tangiert das Leben, das man als deren Volk, in selbstverständlicher tätiger Dienstbarkeit für den abgeschafften Staat gelebt hat, fundamental.

Umstellung ist also angesagt – auf Kritik der Herrschaft und der Subsumtion des eigenen Daseins unter deren Belange verfällt das eingemeindete „Zonen“-Volk unter seinen neuen Herren so wenig wie unter den alten. Es liefert stattdessen in kondensierter Form ein Beispiel dafür, wie das geht, dass eine Staatsmacht sich ihr Volk schafft: Der politische Produktionsprozess läuft ab in Form unablässiger, den Alltag ausfüllender und auch die Sonntage ergreifender Bemühungen der regierten Leute, sich die institutionellen und habituellen Vorgaben des neuen Gemeinwesens, die Notwendigkeiten und Gepflogenheiten eines Lebens in einer kapitalistischen Weltwirtschaftsmacht zueigen zu machen. Eben das scheitert jedoch oft genug; teils und einerseits an mangelndem Arbeitskräftebedarf, womit für viele Bewohner zunehmend entvölkerter Landstriche die paradoxe Karriere als Übervölkerung des nationalen Standorts beginnt. Andere werden mit ihrer erhofften bürgerlichen Existenz unter das ‚Verbrechen‘ der einstigen SED subsumiert, ein alternatives Staatswesen aufgemacht und vier Jahrzehnte lang aufrechterhalten zu haben, und finden sich aus der erweiterten Volksgemeinschaft ausgegrenzt.

So wird dann doch einiger Widerspruchsgeist herausgefordert – und zwar genau der alte: Man findet sich nicht gerecht gewürdigt, als willige Basis verschmäht, unter Wert regiert, kurzum: als Volk zweiter Klasse behandelt. Dann wird den Sozialpolitikern der Nation auch noch der Unterhalt ihrer nutzlosen Überbevölkerung zu teuer – kein Wunder: er wurde für Verhältnisse zurechtkonstruiert, als mit Arbeitslosigkeit noch eine begründete Hoffnung auf Wiederbenutzung verbunden war –; eine radikale Reform passt die Unterstützung, von der viele ostdeutsche Ex-‚Werktätige‘ leben müssen, deren aussichtsloser Lage an. Und die Betroffenen raffen sich für ein paar symbolträchtige Montage zu einer Reaktion auf, die das imaginäre Recht, als nützliche resp. unbedingt nützlich sein wollende Basis der Nation auch gebraucht, anerkannt und gerecht bezahlt zu werden, mit der Vorstellung verbindet, als demonstrierendes Volk eine imposante Macht, die ‚die SED-Diktatur‘ in die Knie gezwungen hätte, gewesen zu sein und das unter demokratisch-freiheitlichen Bedingungen erst recht ganz leicht wieder sein zu können. Das alte Motto wird aufgefrischt; man versammelt sich zu Protestdemonstrationen unter der Parole: Das Volk sind wir … – so umgestellt, reimt sich darauf die bescheidene und längst für unerfüllbar erklärte Forderung: … weg mit Hartz IV!

Das ist eine Steilvorlage für eine unter ziemlich großem Getöse durchexerzierte Klarstellung, wie ein drangsaliertes, unzufriedenes Volk in der Demokratie zu funktionieren hat. Dem ist, ganz anders als unter SED-Herrschaft, das Protestieren und Demonstrieren erlaubt; die Regierung besteht keineswegs mit Stasi und Polizeigewalt darauf, dass Betroffene mit ihren Maßnahmen einverstanden sind und Zufriedenheit kundtun. Dafür verlangt der freiheitliche Staat aber auch eine kleine Gegenleistung, dass nämlich die abgelehnten Maßnahmen hingenommen werden. Und das nicht, weil die Staatsmacht mit ihrer Versicherung, sie wären erstens unausweichlich und zweitens vernünftig, letztlich doch überzeugend wäre; das darf, wie gesagt, umstritten bleiben. Beschlossenes muss hingenommen werden allein auf Grund seines verfassungsgemäßen Zustandekommens, rechtmäßig und per Mehrheitsbeschluss der Zuständigen. Das Verfahren heiligt das Ergebnis: An dem Grundsatz darf nicht gerüttelt werden. Proteste gegen rechtmäßiges Regierungshandeln werden deswegen in der Demokratie nicht zum Auftakt eines ergebnisoffenen Dialogs zwischen Amtsträgern und Opfern über die strittige Sache. Die rechtsstaatlich einzig angemessene Antwort besteht in der Prüfung, ob die Einwände sich im Rahmen des Erlaubten halten, nämlich dem Kriterium des bedingungslosen Respekts vor den Formvorschriften korrekten Regierens und der Unanfechtbarkeit vorschriftsmäßig gefällter Entscheidungen genügen, also nicht auf praktische Einflussnahme zielen. Bezüglich der „Montags-Demos“ gegen die Sozialreformen der Schröder-Regierung sind da starke Zweifel angebracht. Zum einen schon deswegen, weil sie mit dem absichtsvoll gewählten Wochentag die Erinnerung an jenen Aufruhr wecken wollen, der nach allgemein akzeptierter Lesart drastische praktische Folgen hatte, nämlich eine Regierung entmachtet und am Ende einen ganzen Staat beseitigt hat – was damals, gegen das ‚Unrechtsregime‘ der SED, nur gerecht war, heute aber, unter freiheitlichen Verhältnissen, absolut unzulässig wäre und strikt unterbunden werden müsste. Gleiches gilt zum andern für die wiederbelebte Losung des Protests: Eine Minderheit, die sich als „das Volk“ zu Wort meldet, begeht in der Demokratie fast schon eine Amtsanmaßung und auf alle Fälle eine Grenzüberschreitung, wenn sie damit praktisch Einfluss nehmen und die Regierenden zum Nachgeben nötigen will. Denn in einer demokratischen Verfassung ist die Einflussnahme des nominellen Souveräns auf das souveräne Regierungshandeln genau kodifiziert und festgelegt – das ist ja gerade die in dieser Herrschaftsform institutionalisierte Freiheitsgarantie –: Einflussnahme von unten findet am Wahltag statt und ist mit der Ermächtigung einer Regierungsmannschaft abgeschlossen. Sich außerhalb dieser Veranstaltung einer gewählten Regierung als Volk, also wie der souveräne Auftraggeber aufzudrängen, ist ein Verstoß gegen die wahren demokratischen Freiheitsrechte des Volkes.

Immerhin ist der Protest höflich und folgenlos genug, um von amtlicher Seite unter der Rubrik „zulässige Meinungsäußerung“ abgelegt zu werden; ärgerliche Konsequenzen zeitigt er bloß für ein paar Wahlkämpfe von geringerer Bedeutung. Die kritische Öffentlichkeit jedoch, der bissige Wachhund der Demokratie, ist nicht so schnell damit fertig. Sie kann sich gar nicht genug darüber empören, dass die Symbole des Kampfes, den die DDR-Opposition für die Freiheit geführt hat, nun in den Schmutz eines Kampfes um Geld gezogen werden. Sie schmettert den Unzufriedenen ein herzhaftes So nicht! entgegen und erteilt ausgiebig Nachhilfeunterricht in der Frage, wie viel und welchen Protest eine Demokratie verträgt und wo das Recht endet, öffentlich unzufrieden zu sein. Und weil zum Trauerspiel bekanntlich die Farce gehört, meldet sich auch noch die Geschäfts- und Geisteselite der Nation mit einer Zeitungsannonce zu Wort, in der sie ihre Unzufriedenheit mit der Unzufriedenheit der Zonis und deren unzulässiger Wortwahl bekannt gibt: Prominente, die sich einen Effekt ausrechnen, weil sie alles andere als bloßes Volk sind und mit dem ‚gewöhnlichen‘ schon gleich nicht verwechselt werden wollen und können, verkünden ihr Einverständnis mit der Schröder’schen Reformpolitik unter der fetten Überschrift Auch wir sind das Volk! Von ganz oben herab bestreiten sie den Anti-Hartz-Demonstranten deren fragwürdigen letzten Ehrentitel – und leisten ganz nebenher noch einen kleinen Beitrag zur demokratischen Volkskunde: Eine aktionsfähige Einheit kann ein Volk von sich aus schon deswegen nicht sein, weil es mit seiner so ungleich verteilten Unzufriedenheit ohnehin nie auf einen Nenner kommt – außer auf den, auf den die zuständige Herrschaft es herunterbricht.

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(f)

So eng Demokratie und Marktwirtschaft zusammengehören: Ein anständiges Volk funktioniert natürlich auch ohne Demokratie marktwirtschaftlich, als kapitalistische Geldschöpfungsmaschine im Interesse seines Staates. So war es schon im christlichen Abendland und in der Neuen Welt, wo die moderne Klassengesellschaft am Ende in der Demokratie ihre adäquate Herrschaftsform gefunden hat. Um ihre Völker dem so eindeutig doppelsinnigen Imperativ gefügig zu machen, jedermann habe mit Lohnarbeit Geld zu verdienen, hat es Parteienpluralismus und freie Wahlen nicht nur nicht gebraucht; mit solchen Errungenschaften haben die zuständigen Herrschaften sich in der Regel Zeit gelassen, auf einschlägige Forderungen aus ihrer Gesellschaft höchst umsichtig, nämlich so reagiert, dass durch ihre Erfüllung die produktive Eigentumsordnung auf keinen Fall in Unordnung geraten durfte. Im Rest der Welt, der dann bis zur vorigen Jahrtausendwende komplett in die kapitalistische Weltwirtschaft ‚integriert‘ worden ist, haben die Regierungen ebenso allerlei gar nicht demokratische Methoden angewandt, um ihre Massen kapitalistischen Verhältnissen zu unterwerfen. Gerade in den prominentesten Fällen der letzten Jahrzehnte haben unangefochten allein regierende Staatsparteien die politökonomischen Verfahrensweisen der großen Weltwirtschaftsmächte als ihr eigenes Erfolgsrezept übernommen und einem Volk oktroyiert, mit dem sie zuvor, ihrem offiziellen Selbstverständnis zufolge, über das „Stadium“ kapitalistischer Ausbeutung schon mal hinausgekommen waren: Ohne groß zu fragen, haben sie ihren ‚Werktätigen‘ die aus ‚realsozialistischen‘ Zeiten überkommene Fürsorge gekündigt und den Status freier Lohnarbeiter auferlegt, aus Funktionären Manager und Eigentümer gemacht und ihr Volk auf die Vorstellung eingeschworen, der neue Erfolgsweg der Nation würde irgendwann auch den ‚kleinen Leuten‘ etwas von dem Lebensstandard bescheren, den sie an einer neu geschaffenen ‚jeunesse dorée‘ bereits bewundern dürfen. Weltweit bewunderte Erfolge erzielt vor allem die Regierung der VR China damit, dass sie sich von ihrer Kontrolle über ihre neu formierte Klassengesellschaft nichts abhandeln lässt: Sie setzt alles daran, kapitalistische Ausbeutung und Konkurrenz als die ‚Realität‘ durchzusetzen, zu der es keine Alternative gibt, mit der ihre Bürger also leben müssen, und geht gar nicht erst das Risiko ein, dass, solange private Bereicherung und produktive Verelendung nicht fest etabliert und als ‚Gegebenheiten‘ akzeptiert sind, die politische Anerkennung aller gesellschaftlichen Interessen, Parteienpluralismus und freie Wahlen größere Teile ihres Volkes auf den Gedanken bringen könnten, die neuen Verhältnisse stünden selber noch zur Wahl, oder zumindest die notwendig damit verbundenen „sozialen Missstände“ ließen sich womöglich weg-wählen.

Umgekehrt ist es nämlich so, dass Völker ohne flächendeckende kapitalistische Ausbeutung sich schwer tun, demokratisch zu funktionieren. Das zeigt sich schon in den Fällen, wo ehemals ‚kommunistische‘ Staatsparteien mit den politökonomischen Erfolgsrezepten ihrer einstigen Gegner auch deren Herrschaftstechniken übernommen haben, ohne dass sich mit der neuen nationalen Marktwirtschaft nationale Erfolge, geschweige denn neue Überlebenschancen für die darunter subsumierten Massen abgezeichnet oder gar schon eingestellt hätten. Im nach-sowjetischen Russland z.B. mangelt es weder an einem dringlichen Volksbedürfnis nach guter Herrschaft noch an konkurrierenden Parteien, die es bedienen wollen, doch unter Politikern wie in dem mit neuer Armut und neuestem Reichtum bekannt gemachten Volk fehlt es an der alternativlos selbstverständlichen Gewissheit, dass die Nation mit ihrer marktwirtschaftlichen ‚Transformation‘ ungeachtet deren ruinöser Folgen auf dem einzig richtigen Weg ist. Es gibt konträre Vorstellungen von einem allgemeinen Wohl, aber erst seit der Regentschaft des zweiten Präsidenten Ansätze zu einem Gewaltmonopol, das eine Staatsräson des allseitigen marktwirtschaftlichen Geldverdienens auch praktisch als verbindliches Allgemeinwohl durchsetzt, an dem alle Partei- und Gruppeninteressen Maß nehmen müssen. Unter Präsident Nr. 1 jedenfalls haben der ‚Rückzug des Staates‘ und die in der westlichen Welt gefeierte Demokratisierung des Landes mehr Anarchie herbeigeführt, als demokratische Notstandspolitiker je zulassen würden.

In ganz vielen anderen Staaten herrschen ‚Marktwirtschaft & Demokratie‘, ohne dass auch nur eins von beiden berechnend oder gar auf Antrag der einheimischen Bevölkerung von den Landesherren selber eingeführt worden wäre; und das Ergebnis sieht entsprechend aus. Das kapitalistische Weltgeschäft, an dem die zuständige Staatsgewalt sich nach Kräften beteiligt, macht dort von dem Land und seinen Ressourcen einen gewissen Gebrauch, schließt aber größere Teile der Landesbevölkerung von jeder kapitalistischen Benutzung und damit auch von jeder nennenswerten Teilhabe am kapitalistischen Weltmarkt aus, degradiert halbe Völker zur ‚relativen Übervölkerung‘ des Erdballs, bezogen nämlich auf das alles entscheidende Kriterium des Bedarfs der globalen Marktwirtschaft. Von einem Gemeinwohl kann da überhaupt nicht die Rede sein: Die Herrschaft hat ihren Untertanen keine politische Ökonomie zu bieten, die den Leuten einen Sachzwang zu gemeinnütziger Selbsterhaltung per Geldvermehrung und -erwerb auferlegen würde; ihre wirkliche materielle Basis hat sie gar nicht in den Massen, die sie formell regiert, sondern in den Interessen auswärtiger Geschäftsleute und imperialistischer Machthaber, bei deren Befriedigung das einheimische Publikum im Wesentlichen nur stört.[6] Natürlich lassen sich auch unter solchen Umständen die Leute für wahlberechtigt erklären, Clanchefs, Warlords, Prediger und andere Honoratioren auf Wahllisten erfassen, Urnen aufstellen und die Massen zur Abstimmung anhand einprägsamer Symbole bitten. Was sich in einer solchen Wahl äußert, ist aber alles andere als ein pluralistisch-einheitlicher Staatswille, geschweige denn ein solcher, der in den politisierten Interessen einer befriedeten ‚Zivilgesellschaft‘ seine materielle Grundlage hätte. Solche Abstimmungen spiegeln vielmehr Sippschaftsbeziehungen, Stammesloyalitäten, religiöse Gehorsamsverhältnisse – also lauter Entzweiungen vor-politischer Art – oder auch nur das Elend von Menschen wider, die sich ihre Stimme, von der sie ohnehin nichts haben, gerne für eine warme Mahlzeit abkaufen lassen. Wenn unter solchen Verhältnissen umgekehrt eine Partei aufgeklärter Politiker einen ernsthaften Staatswillen an den Tag legt, über alle Abgrenzungen und Fronten hinweg Massen für sich mobilisiert und eine gemeinsame politökonomische ‚Sache des Volkes‘ definiert, in deren Dienst die Bevölkerung womöglich eine Existenzgrundlage finden könnte, dann stellt sie sich damit unweigerlich in Gegensatz zu der Funktion, die ihr Land im System des globalen Kapitalismus längst verpasst bekommen hat – und zu den Normen einer freiheitlichen Demokratie mit Meinungs- und Parteienvielfalt, auf deren Einhaltung die Sittenwächter der ‚einen Welt‘ heutzutage unnachsichtig achten. Zu dem menschenrechtlichen Fortschritt haben sich die führenden Mitglieder der Völkerfamilie nach dem politischen Selbstmord ihres ‚realsozialistischen‘ Feindes nämlich durchgerungen: Sie raten den Herren „unsicherer“ Staaten nicht mehr von freien Wahlen ab, in denen womöglich linke Parteien mit einem Programm zur Schaffung eines autonomen Staatsvolkes zum Zuge kommen könnten – den ortsansässigen Völkern wurde seinerzeit bescheinigt, sie seien ‚noch nicht reif für die Demokratie‘ –; vielmehr spielen sie sich als Protagonisten der Freiheitssehnsucht fremder Völkerschaften auf, bestehen auf der Erfüllung demokratischer Formvorschriften in Ländern, die über gar kein allgemein verbindliches ‚bonum commune‘ und keinerlei ‚res publica‘ verfügen, um deren Pflege ehrgeizige Politiker konkurrieren könnten, und entsenden Wahlbeobachter, die vor lauter Aufmerksamkeit auf ein formvollendetes Procedere höflich übersehen, was für einen Irrsinn sie da inszenieren helfen.

Eine funktionierende Demokratie setzt eben ein marktwirtschaftlich funktionierendes Volk voraus. Den negativen Beweis liefern die vielen Völker, deren Herren mit dieser Staatsform nicht so gut zurechtkommen; den positiven all die aufgeklärten Bürger, die den Zwang zum Geldverdienen für ihren verwirklichten Materialismus, das Recht dazu für wahr gewordene Gleichheit, die staatliche Aufsicht darüber für die Garantie ihrer Freiheit halten und gar nichts weiter dabei finden, ihrer Herrschaft, unzufrieden wählerisch, ein ums andere Mal zuzustimmen.

4. Nationale Identität im Zeitalter der ‚Globalisierung‘

(a)

Demokratische Volksführer, -pädagogen und -anwälte halten große Stücke auf ihre Methode, das Volk an seiner eigenen Beherrschung zu beteiligen. Im ‚Vergleich der Systeme‘, den sie sogar zu einer eigenen Disziplin in ihrem wissenschaftlichen Kosmos ausgebildet haben, preisen sie die politische Freiheit als menschheitsgeschichtlichen Höchstwert, ohne zu verschweigen, dass sie die wichtigsten oder jedenfalls handfestesten Vorzüge des einschlägigen Verfassungsgrundsatzes in dem Beitrag sehen, den er zur Kontinuität und Stabilität der politischen Herrschaft über alle Personalwechsel hinweg und gegen allerlei Anfechtungen von unten leistet. Von „bloßem“ ‚Verfassungspatriotismus‘ halten sie andererseits ganz wenig: Eine Parteinahme fürs heimische Gemeinwesen, die die gewährte Freiheit als wichtiges oder sogar entscheidendes Argument ins Feld führt, kommt ihnen matt, oberflächlich, unzuverlässig, auf jeden Fall völlig ungenügend vor. Nicht, dass sie ein besseres Argument parat hätten: Ihnen passt es nicht, wenn für die richtige Einstellung zum Vaterland überhaupt argumentiert werden soll oder sogar muss. Was sie fordern, ist keine – und sei es noch so schlecht – begründete Parteinahme, sondern eine begründungslos selbstverständliche Parteilichkeit, ein Partei-Standpunkt, der ohne weitere Vermittlung mit der Volkszugehörigkeit zusammenfällt. Für die soll man nicht Partei ergreifen, so als gäbe es da etwas zu wählen und erst noch zu entscheiden; von seiner Volks-Mitgliedschaft soll man ergriffen sein wie von einer natürlichen Regung. Dabei soll selbstverständlich auch kein ‚Hurra-Patriotismus‘ herauskommen, schon gar kein ‚blinder‘, der sich so leicht von Nicht- und Anti-Demokraten ‚missbrauchen‘ lässt – unter Kontrolle, nämlich derjenigen der berufenen Obrigkeit, soll das urmenschliche Mitfiebern mit dem Schicksal des nationalen Kapitalstandorts schon bleiben und keine hässlichen Seiten zeigen, die Investoren aus anderen Ländern abschrecken und überhaupt das Image des Vaterlands beschädigen könnten. Ein wenig Stolz darf aber schon sein: die empfundene totale Affirmation der eigenen Persönlichkeit – hier soll sie der denkbar unpersönlichen Tatsache gelten, dass man der Nation angehört, der man eben angehört. Sogar von der intimsten aller anerkennenden Gefühlsregungen ist die Rede: von Liebe – zu einem so durch und durch a-sexuellen Gebilde wie dem Vaterland. Zustimmung zu einem durch Gewalt vermittelten Verhältnis der Ein- und Unterordnung im Modus einer ebenso besonnenen wie spontan empfundenen Unmittelbarkeit: diese Absurdität schwebt den demokratisch-freiheitlichen Volkserziehern als verbindliche Norm vor, der ein anständiges Volk zu genügen hat.[7]

Für die Vermittlung dieser spontanen Empfindung wird einiges getan. Zuerst und vor allem, nämlich permanent und so unüberhör- wie unübersehbar, von einer kritischen Öffentlichkeit, die in ihrer freiheitlich-demokratischen Fassung, als autonom agierende ‚4. Gewalt‘, alles in den Schatten stellt, was diktatorisch gelenkte Staats-Medien an Stimmungsmache für die Herrschaft zustande bringen. Ganz frei und aus eigener Initiative stellt sie sich schon in ihrer wertfreien, sachlichen Berichterstattung auf den Standpunkt einer 1. Person Plural, die ideell nicht mehr und nicht weniger umfasst als die Nation: Sie agiert als Wahrnehmungsorgan des Volkes und vereinnahmt mit größter Selbstverständlichkeit ihr Publikum für einen Blick auf die Welt, der schon parteiisch ist, noch bevor es ans Urteilen und Kommentieren geht. Denn mit der Perspektive des kollektiven Subjekts verbinden sich wie von selbst eine fein abgestufte Betroffenheit durch den ins Blickfeld gerückten Gang der Dinge und das Interesse, dass „wir“ möglichst gut davon kommen – sei es bei einer kriegerischen Verwicklung oder beim Wetter –, dass „uns“ gelingt, was „wir uns“ vornehmen – die Vermehrung der Kinderzahl pro Frau, die Senkung der Arbeitslosenziffern… –, dass „die Unsern“ Erfolg haben – beim Fußballspielen wie beim Flugzeugbau – usw. Ob das der Fall ist, wie gut oder schlecht der Lauf der Welt sich in „unserem“ Sinne fügt, darüber dürfen die ausdrücklich als solche deklarierten Meinungen und Lagebeurteilungen dann durchaus auseinander gehen; hier kommt dann auch jede partikulare Unzufriedenheit zu ihrem Recht, wird nämlich von irgendwem mit dem passenden kritischen Kommentar – über widrige Umstände, hinterlistige Konkurrenten, Versager in den eigenen Reihen… – bedient. Der Standpunkt, dass es in allem Weltgeschehen letztlich und entscheidend auf „unser aller“ Bestes ankommt, bleibt dabei voll in Kraft; er durchzieht als gemeinsamer Nenner die vielen freien Meinungen, ist die selbstverständliche Grundlage aller ernstzunehmenden Urteile und markiert so den Umkreis dessen, was als ehrbare Ansicht gelten kann.[8]

Die alltägliche Gewöhnung an einen parteilich voreingenommenen vaterländischen Blick auf die Welt reicht den Advokaten eines echten Patriotismus allerdings noch lange nicht; zumal sie in der Vielfalt besorgter Auffassungen gleich schon wieder Interessen-Partikularismus am Werk sehen und Entzweiung befürchten. Sie möchten eine fraglos selbstverständliche und zugleich ausdrückliche Identifizierung des Volkes mit der nationalen Sache haben, eine explizite Parteinahme für das nie in Frage gestellte, jeder Parteinahme zugrunde liegende nationale „Wir“. Der Widerspruch in diesem Verlangen stört sie nicht: Sie setzen ihn methodisch in die Tat um, indem sie für ein entschlossenes Bekenntnis zu naturwüchsiger Vaterlandsliebe werben und Gelegenheiten dafür inszenieren. Dabei greifen ausgewiesene Demokraten zielstrebig zu den Mitteln, die schon immer und überall in Gebrauch sind, wo eine Herrschaft ihre Identität mit ihren Untertanen beschwört. Sie präsentieren dem Volk den höchsten Amtsträger des Staates, gerne eine Symbolfigur außerhalb und oberhalb jeden Parteienzwistes, als Repräsentanten des allgemeinen, tief im Volk selbst verwurzelten Staatswillens und treiben um die Person einen Kult, den eine allzeit zu Kritik aufgelegte Öffentlichkeit im Falle mangelnder Überzeugungskraft sowie in fremden Ländern als ‚Personenkult‘ durchschaut und verachtet; zum Beispiel lassen sie die Spitzenfigur an hohen Festtagen Reden halten, die sie schon vorher für ‚groß‘ erklären, Bauwerke von nationaler Bedeutung ihrer Bestimmung übergeben, Orden verteilen, mit denen das Gemeinwesen bewährte Bürger und in diesen sich selber ehrt, usw. So verschaffen die Hüter der rechten Gesinnung der Macht einen ‚Sympathieträger‘; etliche moderne Demokratien halten sich für diesen Zweck sogar eigens eine Monarchie mit einer unendlichen Familiengeschichte, in deren Höhen und Tiefen das bürgerliche Familientier sein eigenes Privatleben in gehobener, zur Staatsaffäre verallgemeinerter Fassung wiederentdecken und die Herrschaft menschlich und sogar liebenswert finden kann. An nationalen Feiertagen, einem unentbehrlichen Requisit patriotischer Volksbildung, werden große Stunden der nationalen Geschichte, vorzugsweise bedeutende Siege, zu Gegenständen kollektiver Erinnerung aufbereitet, so als hätte das Publikum sie als eigenes Schicksal miterlebt. Der Opfer wird gedacht wie eigener Vertrauter; so fungieren sie als Beweisstücke für die Großartigkeit des Vaterlands, für das sie nicht geopfert wurden, sondern sich geopfert haben und das man als Nachfahre schon deswegen, um der opferbereiten Vorfahren willen, in höchsten Ehren zu halten hat. Nach der in der Praxis doch recht wirksamen volkspädagogischen Maxime, dass der demonstrative Vollzug ehrerbietiger Rituale – solange niemand lacht – auf die Gesinnung abfärbt und für ehrerbietige Gefühle sorgt, wird bei solchen und anderen Gelegenheiten ein immer gleiches Loblied auf die Nation intoniert und ein unverwechselbar buntes Tuch verglimpft: lauter Dinge, mit denen man gar nicht früh genug anfangen kann, damit sich schon im Stadium kindlicher Befangenheit, wenn die Kleinen sich an alles Mögliche gewöhnen müssen, ohne die Gründe dafür zu kapieren, die richtige Einstellung herausbildet, in der der Mensch dann auch als Erwachsener befangen bleibt.

Wirkungen bleiben nicht aus. Es bleibt nicht dabei, dass die Bürger sich an ihre Subsumtion unter eine nationale Staatsmacht gewöhnen und mit den dadurch gesetzten Lebensbedingungen gewohnheitsmäßig affirmativ umgehen. Die „Prägung“, die sie so erfahren und die ihnen zur ‚zweiten Natur‘ wird, erkennen sie als ihr kollektives volksgemeinschaftliches „Wesen“ und Teil ihrer Persönlichkeit an. Sie verstehen sich als besonderer, durch Geschichte und Landschaft, Sprache und Tradition und anderes mehr verbundener und herausgehobener Menschenschlag, ganz jenseits ihrer alles andere als gemeinschaftsdienlichen wirklichen sozialen Verhältnisse. Darin bekommt das Volk von seiner intellektuellen Elite auch voll Recht und erfährt Ermunterung und umfassende Anleitung. Die Geistesgrößen der Nation attestieren ihm einen Charakter, der sich in allerlei spezifischen Tugenden, aber auch Untugenden äußert und in einer ganz eigenen Lebensart verwirklicht. Sich selbst begreifen und stilisieren sie als die kritisch reflektierenden Repräsentanten der nationalen Kultur; einerseits voll „verwurzelt“ im Heimatlichen, in der heimischen Sprache vor allem, deren unübersetzbare Tiefsinnigkeiten niemand so herauszufühlen vermag wie sie, und überhaupt in der Kontinuität wie den tragischen Diskontinuitäten der geistigen Tradition ihres Volkes. Die Distanz zu den Massen kommt dabei andererseits nicht zu kurz: All die großmütigen Wortzusammensetzungen von der Volkshochschule bis zum Volkstanz, von den Volksbräuchen bis zum Volkstheater und vom Volksbad bis zur Volksbank machen schon im Sprachgebrauch deutlich, dass es sich beim Volk eben doch nicht einfach um die eine, alle Volksgenossen vereinende große Sippschaft handelt, sondern, Demokratie hin oder her, um die niedere Basis eines Herrschaftssystems. Soweit diese sich aber ihre Indienstnahme nicht nur gefallen lässt, sondern als ihre Volksnatur akzeptiert, wird ihr alle Ehre zuteil. Ihre volkstümlichen Sitten werden nicht bloß im Volkskundemuseum ausgestellt, sondern ebenso wie im Aussterben begriffene Dialekte gepflegt – ungeachtet des kleinen Widerspruchs, der nun einmal darin liegt, ein Brauchtum zu inszenieren, um es zu erhalten. Je weniger die nationale Klassengesellschaft noch mit einer ‚Ethnie‘ zu tun hat – nicht einmal Ethnologen würden dieses Etikett ganz im Ernst auf eine moderne ‚Zivilgesellschaft‘ anwenden –, umso intensiver bemüht sich die tonangebende Elite um eine Volkskultur: den Schein urwüchsiger Zusammengehörigkeit des Volkskörpers.

Und beim bloßen Schein bleibt es nicht. Die Staatsgewalt höchstselbst belässt es nicht bei der Forderung nach einer volkseigenen ‚Leitkultur‘ und deren Pflege. Sie betrachtet und behandelt ihre Eingeborenen als ihre „geborene“ Basis; nicht nur im Sinne der gesetzlichen Festlegung, dass die Abkömmlinge von Staatsangehörigen oder auf ihrem Staatsgebiet zur Welt gekommene Kinder per se dazugehören und nicht erst extra eingebürgert werden müssen. Auf nationalen Nachwuchs, auf eine Reproduktion ihres Volkskörpers aus eigener Aufzucht kommt es noch der modernsten Kapitalstandortverwaltung dermaßen an, dass sie beim Eintreffen problematischer Bevölkerungsstatistiken glatt um den Fortbestand ihres angestammten Volkes fürchtet und für eine ‚aktive Bevölkerungspolitik‘ sogar gutes „Geld in die Hand nimmt“, um es an werdende Mütter und gewordene Eltern zu verschenken. Ganz so, wie ein anständiges Volk auf seiner Herrschaft besteht, so besteht eine nationale Herrschaft auf ihrem Volk; gerade so, als könnte sie sich auf ihre Bürger nur dann hundertprozentig verlassen, wenn die per Geschlechtsverkehr zwischen Landeskindern zustande gekommen sind.[9] Auch der bürgerliche Staat des 21. Jahrhunderts will offenbar nicht bloß durch das gewohnheitsmäßige treue Mitmachen seiner Leute tagaus tagein politisch und ökonomisch reproduziert werden, sondern auch biologisch durch deren Gebärverhalten und Familienleben; nicht bloß bestimmende Umwelt seines Volkes, sondern in dessen Genen verankert sein. In diesem Sinne wirkt er jedenfalls auf seine Massen ein: gesetzlich, finanziell, und agitatorisch sowieso.

So kriegt der Bürger seine nationale Identität. Und die fühlt er regelrecht spätestens dann, wenn er es mit Fremden zu tun bekommt.

(b)

Es gab Zeiten, in denen die Bevölkerung eines Landes Angehörige anderer Völker kaum je zu Gesicht bekam, vielleicht noch nicht einmal von der Existenz von Völkerschaften jenseits der engsten Nachbarschaft viel Ahnung hatte und mit den Untertanen auswärtiger Herrschaften nur dann in näheren Kontakt geriet, wenn sie von denen in kriegerischer Absicht Besuch bekam oder von der eigenen Obrigkeit zu einem Überfall der weiträumigeren Art ausgeschickt wurde: Die Völker waren einander fremd, und mit der Fremdheit waren Gefahr und Feindschaft verbunden. Wie auch immer: Die Zeiten sind vorbei. Grenzen sind durchlässig; nicht nur für Waren, Geld und Kapital, sondern – bedingt und gut kontrolliert – auch für Menschen; auswärtige Arbeitskräfte werden bisweilen sogar von Amts wegen angeworben und treiben sich nicht nur an ihren Arbeitsplätzen, sondern in aller Öffentlichkeit herum. Die Völker wissen voneinander; man kennt Menschen anderer Nationalität, begegnet ihnen im ganz normalen Alltag. Die Bewohner der weltpolitisch wichtigen Nationen werden über das Geschehen auf dem gesamten Globus, notfalls „in Echtzeit“, informiert; viele fahren zum Vergnügen in fernes Ausland und kehren mit Videos zurück. Umgekehrt wissen die Eingeborenen der weniger bedeutenden Weltgegenden, in welchen fernen Regionen Macht und Reichtum zu Hause sind; nicht wenige versuchen alles, um in Länder mit einem besser als daheim funktionierenden Wirtschaftsleben zu gelangen, und treten dort, wenn sie ankommen und man sie lässt, als unterste Abteilung des Proletariats in Erscheinung. Und so weiter: Von Fremdheit in dem Sinn kann kaum mehr die Rede sein; auch nicht davon, dass die Erfahrungen mit Auswärtigen hauptsächlich kriegerischer Art wären. Ganz nüchtern betrachtet kennt der Inländer „die Ausländer“ als Seinesgleichen: ums Zurechtkommen im marktwirtschaftlichen Lebenskampf bemüht; von Geld- und anderen wohlbekannten privaten Sorgen geplagt; dabei ähnlich unterschiedlich situiert, wie man es von den verschiedenen Milieus im heimischen Kulturkreis kennt. Wenn es darauf ankommt, gelingt mit Infinitiv und englischen Sprachbrocken sogar eine Verständigung über das Nötigste.

Der Standpunkt, dass es sich bei den Bürgern anderer Länder grundsätzlich um Fremde handelt, ist damit freilich überhaupt nicht ausgestorben. Von Staats wegen sowieso nicht: Ein spezielles Ausländerrecht verfügt die grundsätzliche Aus- und bedingte Eingrenzung von Menschen mit fremdem – oder gar ohne – Pass, und spezielle Behörden passen auf solche Leute auf, die zum Besitzstand einer fremden Macht gehören. Im Volk hat dieser Standpunkt sich genauso wenig relativiert, vielmehr auf seinen elementaren Inhalt zusammengezogen und zugespitzt: In „den Ausländern“, ob er sie in seiner Umgebung als solche identifiziert oder auch nur von ihnen weiß und einen Gedanken auf sie verschwendet, nimmt der moderne Inländer komplementär zu sich selber das andere Wir wahr; einen Menschenschlag, der sich vom eigenen im Grunde nur darin, darin aber ganz wesentlich unterscheidet, dass er mit seinen Rechten und Pflichten, seiner gewohnheitsmäßigen Anspruchshaltung und grundsätzlichen Parteilichkeit außerhalb des Gemeinwesens steht, dem der Einheimische sich zugehörig, außerhalb des Gemeinwohls, dem er sich verpflichtet weiß. Fremd sind die „Fremden“ nicht, weil sie Fremdartiges treiben – da dürften verschiedene Volksgenossen einander erheblich stärker befremden –, sondern weil sie dasselbe wie man selber in prinzipieller Parteilichkeit für ein anderes Land tun, in anerkennender Orientierung an Ordnungsmaximen, die – gar nicht viel anders als die eigenen das eigene, aber eben: – ein anderes nationales Zusammenleben regulieren und die Menschen als Basis für eine andere politische Körperschaft vereinnahmen. Unter dieses andere „Wir“ mit seinem eigenen interessierten Verhältnis zur Welt wird der Ausländer, ob er will oder nicht, subsumiert; nicht bloß das eine oder andere eventuell tatsächlich abweichende Verhalten und der fremdartige Tonfall, sondern der Mensch insgesamt. Als Repräsentant eines Standpunkts und einer Moral, die der eigenen aufs Haar gleichen, aber ein für allemal nicht die eigenen sind, weil sie einer anderen nationalen Sache zugehören, ist er ein Fremder. Den „Befund“ verdeutlicht der Inländer sich mit Vorstellungsbildern aus dem Fundus seiner nationalen Leitkultur über die eigentümliche Sorte Mensch, mit der man es da zu tun hätte, und hält das Ergebnis glatt für Erfahrungen, die „man“ mit „denen“ gemacht hätte.

Das muss nicht immer gleich polemisch sein. Durch Begegnungen mit Ausländern findet sich ein zivilisierter Inländer erst einmal zu einer Reflexion auf die eigene Volkszugehörigkeit herausgefordert. Er versteht und fühlt sich als Partei, als Vertreter der eigenen Nation und ihres Menschenschlags; verpflichtet, dafür einzustehen, auch wenn er mit dem, was seine Regierung gerade treibt oder was als Wesensmerkmal seines Volkes gilt, gar nicht einverstanden ist und dafür auch gar nicht haftbar gemacht werden will. Fremden gegenüber lässt ein anständiger Bürger auf seine Heimat nichts kommen; was zu kritisieren ist, kritisiert er selber und legt damit Zeugnis ab für die besseren, nämlich selbstkritischen Tugenden seiner Heimatmannschaft. Überhaupt meint er, man dürfte der Nation keine Schande machen, und bringt es fertig, sich für ungezogene Landsleute zu schämen. Allen Ernstes stolz ist er dafür auf Tugenden, Leistungen und Heldentaten seines Volkes, auf Baudenkmäler und die Küchenkultur, sogar auf Landschaften und andere Dinge, wie sie z.B. die 2. Strophe des Deutschlandlieds aufzuzählen weiß. Dabei wird dem Ausländer durchaus auch ein Recht auf Wertschätzung der eigenen Heimat zugestanden; man würde sich wundern über einen, der es erkennbar an prinzipieller Voreingenommenheit für sein Land und Volk fehlen ließe.[10] So viel ist aber klar, dass man sich von einem Fremden die eigene Nation und Nationalität nicht schlecht machen lässt, auch nicht vergleichsweise dadurch, dass man sich im Vergleich der Vaterländer übertrumpfen ließe. Die Überzeugung lässt ein anständiges Volk sich nicht nehmen – auch wenn es von der ausnahmsweise einmal keinen offensiven Gebrauch macht –, dass ihm letztlich, zumindest in irgendeiner besonders wertvollen Hinsicht, kein anderes das Wasser reichen kann. Bei der Völkerverständigung zwischen Patrioten ist insofern allemal eine Portion Verachtung dabei. Die ist jedenfalls keine Entgleisung, sondern notwendig: Indem die Völker ihr je eigenes Gemeinwesen als verpflichtendes höchstes Gut in Ehren halten, sind und bleiben sie befangen in einem grundsätzlichen wechselseitigen Unvereinbarkeitsbeschluss.

Das muss, wie gesagt, nicht unbedingt gleich Fremdenhass bedeuten. Aber in letzter Instanz weiß jedes Volk sich im Recht, gegen den ganzen Rest. Und dieses Rechtsbewusstsein ist jederzeit bereit, in Feindschaft umzuschlagen.

(c)

Wann, gegen wen und wie das geschieht: Auch da folgt das Volk mit seinem fundamentalistischen Ehrbewusstsein und seiner unerschütterlich parteiischen Weltkenntnis getreu den politischen Vorgaben seiner Herrschaft. Die setzt ihre Bürger über ihre Vorhaben und Taten ja ausgiebig in Kenntnis, erläutert ihnen Notwendigkeit und Gerechtigkeit des Konkurrenzkampfes, den sie unablässig um ihre Weltgeltung und um deren harte Grundlagen – Reichtumsquellen und Gewaltpotential – gegen andere Nationen führt; je gewalttätiger ihre Aktionen, umso lieber empfehlen Politiker diese als Vollstreckung des Rechts, das ihrem Volk aufgrund seiner grandiosen Stellung zusteht, die es sich kraft seiner Natur, mit Gottes Segen und im Auftrag der Vorsehung erobert oder alsbald zu erobern hat.[11] So gibt sie mit den Fakten, die sie schafft, und mit deren parteiischer, Parteilichkeit voraussetzender und einfordernder Interpretation dem nach außen gewendeten Nationalismus von unten, der Volksstimmung in Sachen Ausland und Ausländer, die Leitlinie vor. Die Basis ihrerseits in ihrer Einbildung, einen Wettkampf der Volkscharaktere zu führen und um ihr Naturrecht auf Erfolg zu streiten, bewährt sich – ganz besonders da, wo sie durch eine freie pluralistische ‚4. Gewalt‘ kundig angeleitet wird – als mehr oder weniger sachgerechtes Echo der Berechnungen, Strategien, Erfolge und Misserfolge ihrer politischen Führer, die sich heutzutage, speziell wenn sie einen Standort in einem der Zentren des ‚globalisierten‘ Kapitalismus regieren, ihre internationalen Freund- und Feindschaften sehr differenziert einteilen.

  • Mit ihresgleichen und im Verkehr mit vielen weniger geschäftstüchtigen Kapitalstandorten führen die maßgeblichen Mächte ihren Konkurrenzkampf derzeit auf dem Wege der Kooperation, der berechnend und erpresserisch gestalteten wechselseitigen ‚Öffnung‘ ihrer Geld- und Warenmärkte; sie versprechen sich mehr von der Beteiligung ihrer nationalen Geschäftswelt am Wachstum anderswo als von gegenseitigem Ausschluss von Geschäftsgelegenheiten, der daneben freilich auch nicht aus der Mode gekommen ist.[12] Für die Masse ihres Volkes, auch für Teile der Kapitalistenklasse ist das mit Härten verbunden, die deswegen ausschweifend erklärt werden: als Bedingungen langfristiger Vorteile für alle; als Notwendigkeiten, denen man sich einfach nicht entziehen kann; und was die Nachteile angeht, die auch die Nation als ganze betreffen, als ungute Machenschaften der Konkurrenz. Das Volk lässt sich über die Schuldigen belehren, wird in seinem Konkurrenzgeist kräftig angestachelt, muss sich in seiner nationalistischen Abneigung gegen letztlich doch nützliche Nachbarn aber bremsen lassen. Gleiches gilt in verschärfter Form, wenn Staaten Ausländer ins Land lassen, die nicht bloß Geld bringen und da lassen, sondern welches verdienen wollen. In den Zentren des kapitalistischen Weltgeschäfts handelt es sich dabei zwar überwiegend um die armseligsten Glücksritter des ‚globalisierten‘ Kapitalismus; aber dessen notwendige Gemeinheiten und Sachzwänge sind das Letzte, wogegen sich die Abneigung und der kritische Geist eines modernen Kulturvolks richten. Das folgt viel lieber – von seinen Volksvertretern mit sachdienlichen Hinweisen berechnend unterstützt – seiner Grundüberzeugung, dass ‚Fremde‘ sowieso nicht „hierher“ gehören, bildet sich ein, „die“ würden mit ihrem Bedürfnis nach Gelderwerb und einem Privatleben nur den Eingeborenen Arbeitsplätze, Weiber und überhaupt den Lebensraum wegnehmen – und dann wird es in seinem „aufkeimenden“ Ausländerhass von der eigenen Obrigkeit doch gar nicht einfach unterstützt, geschweige denn zu Taten ermuntert, sondern zurechtgewiesen und muss respektieren, dass seine Regierenden sich die Zulassung von Ausländern unter verschiedenen Nützlichkeitsgesichtspunkten, solchen ökonomischer wie politischer Art, vorbehalten und Eigenmächtigkeiten schon gar nicht dulden. Es muss seinen Fundamentalismus also zügeln und übt sich nach Maßgabe der politisch verbindlichen, durch freie Medien vielfältig verdolmetschten nationalen Sicht der Dinge in der Tugend der Toleranz: Es leidet ideell unter seinen fremdländischen Nachbarn; es nimmt seinen auswärtigen Konkurrenten jeden Erfolg übel – zwischen solchen bei den Wachstumsraten der Wirtschaft und denen bei Sportwettkämpfen braucht dabei nicht groß unterschieden zu werden, im Zeichen des nationalen Ehrgeizes wird fast alles kommensurabel –; es nimmt sich aber vor, sein Leiden auszuhalten, ausländische Kollegen zu ertragen und die verbündeten Konkurrenten des eigenen Standorts nicht ganz und gar unter das Foulspiel zu subsumieren, das man ihnen zu Recht vorzuwerfen hätte. Der ‚gemäßigte‘ Teil der Bürgerschaft ergänzt so seine nationale Parteilichkeit um den Stolz darauf, es damit nicht zu übertreiben – nicht so wie gewisse andere Völker… Andere Bedenkenträger haben sich, ihre Mitbürger und vor allem ihre Regierenden eher in dem Verdacht, vor lauter Toleranz das gesunde nationale Eigeninteresse zu vergessen, und wünschen sich mehr von dem unverfälscht patriotischen Selbstbewusstsein, von dem andere Nationalitäten zweifellos viel zu viel besitzen. Der große Rest hat genau dieses falsche Bewusstsein.
  • Manchmal nutzen Länder, die von den führenden Weltwirtschaftsmächten als nützliche Geschäftssphären verbucht sind, ihre Chancen in unvorhergesehener Weise aus und bereiten ihren großen Paten als Konkurrenten ernsthaft Probleme – die alten EU-Nationen machen mit ihren mittel- und osteuropäischen Neuerwerbungen, die USA mit der VR China gerade solche Erfahrungen. Die zuständigen Regierungen – nicht nur in Berlin – reagieren darauf nach dem mehrsinnigen Motto: „Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind!“ Den unliebsam auffälligen Partnern wird auf die Art eine Politik angekündigt, die den überlegenen kapitalistischen Reichtum und die akkumulierte Erpressungsmacht, über die eine „bessere“ kapitalistische Nation verfügt, zielstrebig dafür einsetzt, diese Überlegenheit zu erhalten und auszubauen. Das eigene Volk wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass und wie es als Instrument in diesem Kampf vorgesehen ist und eingesetzt wird: Soweit nicht „besser“, i.e. für überlegene Konkurrenzerfolge der heimischen Wirtschaft tauglich und nötig, wird es billiger gemacht, also ärmer; seine Chance, der Verarmung zu entgehen, liegt umgekehrt ausschließlich in den Konkurrenzerfolgen, die sich aus seinen preiswerten Arbeitsleistungen herauswirtschaften lassen. Der brutale sachliche Gehalt dieser Information tritt freilich zurück hinter dem offensiven Appell an den nationalen Dünkel: Das Volk wird daran erinnert, dass es sich doch seit jeher – inwiefern, ist eher gleichgültig: überhaupt und insgesamt – für besser hält als seine mediokre Nachbarschaft, ganz zu schweigen von der ameisenhaften Bevölkerung ferner Länder, die bloß mit Masse imponieren können. Die zugemuteten Beschränkungen stacheln so das imperialistische Überlegenheitsgefühl an, das die demokratische Führung bei ihren Mitbürgern ganz selbstverständlich voraussetzt.
  • Dieses Selbstbewusstsein findet ein noch viel schöneres Betätigungsfeld im Hinblick auf den großen Teil der Staatenwelt, der im globalen Vergleich der Kapitalstandorte definitiv zur minderwertigen bis hoffnungslosen Sorte zählt. Die maßgeblichen Nationen betätigen sich in dieser Richtung als zu jedem Eingriff befugte Aufsichtsmächte; die Souveränität der beaufsichtigten politischen Gebilde zählt für sie nichts. Den Zugriff, den sie für nötig halten, um kein ‚Machtvakuum‘ entstehen zu lassen – die Eingeborenen müssen schließlich unter Kontrolle bleiben – und um gegebenenfalls aus diesen Ländern an Ressourcen herauszuholen, was aus ihnen noch herauszuholen ist, verbuchen sie als Last, die sie sich genau einteilen. Ihren Völkern eröffnet sich damit der Blick auf eine Welt der Armut, an der nach neuesten Erkenntnissen die gescheiterten Versuche schuld sind, überall Staaten mit einer eigenen, womöglich sogar konkurrenzfähigen Nationalökonomie aufzumachen bzw. mit viel Geld und Gewalt eine Entwicklung dahin in Gang zu bringen, was unter den dort gegebenen Umständen und mit so bitterarmen Leuten gar nicht geht. Was andererseits erst recht nicht geht, sind die abenteuerlichen Versuche tatkräftiger junger Leute aus diesen Gegenden, zu „uns“ in den „reichen Norden“ zu gelangen und dort einen Job zu ergattern: Eine andere Chance haben sie zwar nicht, aber die kriegen sie nicht. Auf der Basis sind die besser gestellten Völker zu Mitleid mit den Opfern der modernen Weltordnung bereit, soweit die brav zu Hause bleiben und dort unschuldig von besonderen Katastrophen ereilt werden, auch zu Almosen, ausnahmsweise sogar zu Bedenken gegen ‚Auswüchse‘ einer ‚ungerechten Weltwirtschaftsordnung‘. Um ‚Armutsflüchtlinge‘ vor Schiffbruch im Mittelmeer und ähnlichem Unglück zu bewahren, kann man sich auch mit staatlichen Ausgaben für menschenrechtlich einwandfreie ‚heimatnahe‘ Auffanglager anfreunden. Solange die noch nicht stehen und wenn ein paar Verzweifelte es doch bis in die ‚1. Welt‘ schaffen, behalten die Zuständigen sich vor, zu ‚dulden‘ oder abzuschieben; und das Volksempfinden zieht mit: Man lehnt es ab, „das Elend der ganzen Welt“ bei sich unterzubringen, bildet sich gar ein, „überfremdet“ zu sein. Eine Minderheit hat im Übrigen nichts gegen ein bisschen bunte Folklore im Stadtbild; und jeder weiß von irgendeiner Ausländerfamilie, bei der man eine humanitäre Ausnahme von der Regel machen sollte, dass sie eigentlich wieder dorthin zurück muss, wo „wir“ im Übrigen sämtliche Menschenrechte vermissen; so viel Großzügigkeit ist eine Volk erster Klasse sich schuldig. Die hört aber ganz schnell wieder auf, wenn die Obrigkeit ihren Bürgern von der Last berichtet, die sie mit den ‚Illegalen‘ hat. Dann ist ganz schnell klar, dass die wegsortiert werden müssen. Die Selektion funktioniert ganz ohne Rassismus: Kriterium dieser Ausgrenzung ist die fremdländische Armut.
  • Bisweilen bekommen die maßgeblichen Völker es in der weniger maßgeblichen Staatenwelt nicht bloß mit mehr oder weniger ohnmächtigen Aufsichtsobjekten zu tun, sondern mit eigenständigen Regungen: nicht bestellten Gewaltaktionen, die Unruhe stiften; sogar mit einem Aufbegehren, das im Extremfall in Krieg und Terror ausartet.[13] Ihre Regierungen wissen sich dann sofort zuständig und zu gewaltsamem Eingreifen gegen Feinde ihrer Wahl herausgefordert – und die mitdenkende Bürgerschaft ist prompt erst recht zuständig, lässt sich von beamteten und den vielen nicht-amtlichen Regierungssprechern erklären, wer Recht und wer Unrecht hat, verurteilt den für verkehrt befundenen ‚Fundamentalismus‘ und kennt in ihrem universellen Gerechtigkeitssinn keine Hemmungen, ideell militant zu werden. Da imperialistische Regierungen es derzeit in der Regel nicht nötig finden, ihre Nationen regelrecht in Kriegszustand zu versetzen – kriegerische Interventionen werden als internationale Verbrechensbekämpfungsaktionen abgewickelt, durch Profis und ‚asymmetrisch‘, mit haushoch überlegenen Mitteln –, legen deren Völker eine extreme Anspruchshaltung an den Tag: Sie sind sich nicht nur sicher, dass sie das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht haben, abweichende Machthaber und deren Anhänger gewaltsam zur Räson zu bringen; von ihren Befehlshabern verlangen sie außerdem einen umstandslosen vollständigen Sieg, ohne durch die Last eines regelrechten Krieges in ihrem zivilen Leben gestört zu werden.[14] So ganz geht diese Rechnung dann doch nie auf; gerade die mit unwiderstehlicher Überlegenheit durchexerzierten Weltordnungseinsätze kosten zumindest viel Geld, das auf dem einen oder anderen Weg aus der Geld produzierenden Gesellschaft herausgeholt werden muss, sich also als Zusatzlast geltend macht; und Tote gibt es außerdem. Spätestens dann versteht ein anständiges Volk endgültig die Welt nicht mehr und besteht darauf, dass seine Regierung sie wieder in Ordnung bringt und die „Schurkenstaaten“ kurz und klein macht, die sich dem wohltuenden Regime der zur menschheitsgeschichtlichen Perfektion, zum Nonplusultra einer humanen Staatsverfassung entwickelten ‚1. Welt‘ widersetzen. Was die dazu nötigen Gewaltmittel betrifft, kennt ein entrüstetes Volk noch weniger Skrupel als seine militärischen Profis.
  • Mit ihren Weltordnungsinteressen und in ihren entsprechenden Manövern werden die maßgeblichen Mächte der demokratischen Welt allerdings nur allzu leicht einander zum Problem und zur Schranke: So, wie sie als vereinigter ‚Westen‘ den Weltfrieden organisiert haben, brauchen sie zu dessen garantierter Aufrechterhaltung und Durchsetzung die Kooperation ihrer wichtigsten Konkurrenten, denen sie zugleich laufend in die Quere kommen. Das verlangt ihren Weltordnungsstrategen einige dialektische Kunststücke ab – und auch die werden dem Volk in der gebotenen moralischen Vergröberung ausgiebig erläutert. Pluralistisch, wie es sich gehört, wägt die freie Öffentlichkeit ab, was die eigene Nation und was die anderen zur Rolle des Oberaufsehers über die weltpolitischen Sitten qualifiziert; mit welchem Recht man selber den Anspruch auf politische Vorbildlichkeit für und Vormundschaft über die übrige, einer ordnenden Hand bedürftige Staatenwelt erheben und mit welchen schlagkräftigen Argumenten man ihn untermauern kann; wie matt und fragwürdig demgegenüber die entsprechenden Ambitionen anderer aussehen. Die Völker problematisieren an der Weltordnungsmoral und -kompetenz der Konkurrenten herum, kommen zu denkbar negativen Befunden – und verbieten sich den nahe liegenden Übergang zu einem regelrechten Feindbild, weil (und solange) ihre Regierungen mit ihren Streitereien weit vor einem offenen Zerwürfnis Halt machen und sich und ihrer Nation den Übergang zu einer Feindschaft ersparen, die nach Jahrzehnten des innerimperialistischen ‚burden-sharing‘ tatsächlich alle zur Gewohnheit gewordenen Berechnungen aufkündigen würde. So kommen sich die Bürger der ‚westlichen Welt‘ inmitten ihres ideellen imperialistischen Kräftemessens auch noch äußerst friedfertig und versöhnlich vor.

5. Volk heute: Eine furchterregende Abstraktion in Reinkultur

(a)

Keine Frage: Moderne Völker, auch solche mit einer demokratischen ‚Leitkultur‘ und einer aufgeklärten Öffentlichkeit, verfügen reichlich über Heimatstolz; der Geist der nationalen Rivalität ist auf allen Gebieten lebendig, vom Sport bis zu den Wachstumsziffern des Bruttosozialprodukts, ebenso der Hang zur abschätzigen Bewertung anderer Völker; Immigranten werden ausgegrenzt, sobald man an ihnen Symptome eines abweichenden Verhaltens entdeckt; nationalistischer Dünkel und Überlegenheitsgefühle sind ebenso in Gebrauch wie bedarfsweise aktualisierte Feindbilder; und sogar für Krieg sind mündige Bürger zu haben wie eh und je. Keine Frage allerdings auch: Die Völker von heute, auf jeden Fall die mit der fortschrittlichen ‚Leitkultur‘, sind grundsätzlich weltoffen, tolerant, zivil gestimmt und zu wechselseitiger Wertschätzung bereit; ideell sind sie auf der ganzen Welt zu Hause – im Urlaub sogar leibhaftig überall dort, wo die touristische Infrastruktur stimmt –; durch Jugendaustausch und durchs Fernsehen belehrt, sind sie sich sicher – und das zu Recht –, dass der Alltag mit seinen fragwürdigen Freuden des Konsumierens und den eindeutigen Lasten des Geldverdienens zwar anderswo viel schlechter als daheim funktioniert, im Prinzip aber weltweit nach so ziemlich den gleichen Richtlinien vonstatten geht; man versteht sich, auch wenn man keine fremde Sprache versteht. Und was ihre innere Verfassung und das Zusammenleben im eigenen Gemeinwesen betrifft, so werden moderne Völker, auch das keine Frage, einander immer ähnlicher: Ihre wesentlichen gesellschaftlichen Beziehungen sind höchst sachlicher Natur, nämlich übers Geld vermittelt; Elemente des Naturwüchsigen, einer stammesmäßig-familiären Vertrautheit, einer ‚ethnischen Besonderheit‘, wie sie in der Vor- und Frühgeschichte heutiger Völker eine Rolle gespielt haben mögen, haben sich längst weggekürzt; überkommene Sitten, Gebräuche und sogar Volksreligionen sind zur Folklore, zu Objekten eines transnationalen Erbauungs-, Unterhaltungs- und Vergnügungsgewerbes, zu Werbeargumenten für Reiseunternehmer und Einzelhändler herabgesetzt. Mit ihrem Alltagsleben dementieren moderne Bürger praktisch das Gerücht, Völker würden noch immer durch die einen besonderen Menschenschlag auszeichnende Art des Zusammenlebens konstituiert und zusammengehalten; zum Gerede vom „globalen Dorf“ können sie nur nicken; und wenn manche Völkerschaften das alles noch anders sehen und sich borniert nach Vätersitte aufführen, gelten sie unter liberal denkenden Zeitgenossen als entschieden rückständig.

Tatsächlich streifen die Mitglieder der modernen Völkerfamilie in ihrer Lebenspraxis von ihrer nationalen Identität, auf die sie nach wie vor bauen und große Stücke halten, die Befangenheit in unterschiedlichen heimatlichen Lebenswelten ab; gerade die, die mit viel Aufwand jeden Überrest davon zur heimatlichen Idylle aufblasen, haben diesen Fortschritt schon so ziemlich hinter sich. Sie realisieren gewissermaßen in Reinform, was sie wirklich materiell als Völker konstituiert: Ihre Zusammengehörigkeit besteht in dem funktionalen Zusammenwirken, das eine exklusiv für sie zuständige nationale Staatsgewalt ihnen vorschreibt; ihre ‚Identität‘ liegt in ihrem Dasein als Besatzung des von ihrer Regierung verwalteten Kapital-Standorts; was sie voneinander wirklich unterscheidet, sind daher die Position, die ihr Staatswesen im Ringen um Anteile an der Akkumulation kapitalistischen Reichtums sowie um Respekt und um Einfluss aufs Weltgeschehen erreicht hat, und die Anstrengungen, die ihre Herrschaft in diesem Konkurrenzkampf unternimmt, also dem Personal ihres Standorts aufbürdet. Diese banale brutale Wahrheit über „das Wesen der Völker“ kommt zum Vorschein, wenn moderne Citoyens sich von ihrer „völkischen Natur“, den mehr oder weniger dysfunktionalen Überbleibseln der Entstehungsgeschichte ihres Gemeinwesens und den überkommenen lokalen Sonderbedingungen ihrer gesellschaftlichen Existenz, emanzipieren, ohne ihr Dasein als Volk aufzukündigen.

(b)

Volksfreunde auf der europäischen Seite des Atlantik bemerken schon seit langem Symptome dieses zivilisatorischen Fortschritts, diagnostizieren vom Standpunkt eines beleidigten Patriotismus den Ausverkauf ihrer abendländischen Hochkultur, beklagen eine fortschreitende Amerikanisierung ihrer heimatlichen Lebensumstände – und ahnen wahrscheinlich nicht einmal, worin sie recht haben, inwiefern nämlich das Volk der USA tatsächlich das perfekte Vorbild nicht bloß in Sachen ‚fast food‘ und Filmkunst, sondern für modernes ‚Volkstum‘ überhaupt ist. Dort konstituiert sich ein komplettes Staatsvolk von vornherein – einst mit Negersklaven und ein paar nicht ausgerotteten Indianern als „ethnischer“ Komponente… – als kapitalistische Klassengesellschaft aus freien Erwerbsbürgern, die ihren „Volkscharakter“, ihre nationalen Eigenarten und ihren Sektenglauben, zwar nicht in Europa bzw. Ostasien zurückgelassen, aber zu ihrer kollektiven Privatangelegenheit gemacht haben und als solche weiter pflegen und mit ihrem bis heute ungetrübten stolzen Bewusstsein, sich in den USA den zu ihnen passenden Staat geschaffen zu haben, nur ein bisschen verkehrt herum zum Ausdruck bringen, dass ihr „völkisches“ Selbstverständnis gar nichts anderes zum Inhalt hat als die Zugehörigkeit zu dieser kapitalistisch und imperialistisch so besonders erfolgreichen Macht.

Etwas neueren Datums ist das Schlagwort Globalisierung[15], das eine ganze Weltsicht einschließt, die von einem ganz allgemeinen Verlust nationaler Besonderheiten, der Überholtheit nationaler „Naturschutzparks“ für konkurrenzunfähige Gewerbe und „soziale Problemgruppen“ und einem Schwinden nationalstaatlicher Macht überhaupt als ökonomisch sachzwanghaftem Schicksal und produktiver Herausforderung zugleich wissen will. In seiner absichtsvollen Begriffslosigkeit spielt dieses Schlagwort zum einen auf die Tatsache an, dass der Kapitalismus zu Ende gebracht hat, was Marx & Engels – Ehre, wem Ehre gebührt – schon in ihrem „Kommunistischen Manifest“[16] als notwendige Leistung dieser Wirtschaftsweise erkannt haben: Die Weltbevölkerung ist mittlerweile zur globalen Klassengesellschaft hergerichtet: mit einer inter-nationalisierten Geld- und Geschäftselite – samt kulturellem Anhängsel –; mit einer gewaltigen als nutzlos verworfenen Übervölkerung ganzer Erdteile, kaum subsistenzfähige „Bauern“ zum größten Teil; mit einer nach der Rentabilität ihrer Arbeit hierarchisierten Arbeiterklasse, deren fortgeschrittenste Teile jeden weiteren technischen Fortschritt mit einer Nivellierung ihres ‚Lebensstandards‘ nach unten und der Abwanderung von überflüssig Gemachten in einen durchorganisierten Pauperismus bezahlen; mit dem Personal der gigantischen Herrschaftsapparate, die eine freie Weltwirtschaft in ihrer notorischen Abneigung gegen ‚Bürokratie‘ für ihr reibungsloses Funktionieren unbedingt braucht. Das Gerede von der „Globalisierung“ spielt auf diesen verheerenden Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie und seine Vollendung mit der Selbstaufgabe der sowjetische Systemalternative und der Totalrevision des chinesischen Sozialismus an – und nennt nichts davon beim Namen –, um eine nicht aufzuhaltende Tendenz zur Entmachtung der Nationalstaaten insbesondere hinsichtlich einer volksfreundlichen Sozialpolitik zu beschwören, die vielleicht unangenehm, aber mit einer Extraportion Verzicht und Leistung mit Gewinn zu meistern wäre; und diese zynische Botschaft ist auf ihre Art auch ganz interessant. Tatsächlich kündet sie nämlich von einer brutalen Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Staaten. Sie redet aus deren Perspektive und fordert zu neuartigen Kraftanstrengungen auf, widerlegt also schon mal die eigene Behauptung, auf die nationalstaatlichen Machtapparate käme es im Grunde kaum mehr an – alles Gerede von staatlicher Ohnmacht will darauf hinaus, dass die Staaten ihre Macht bedenkenlos gegen die überkommenen „sozialen Sicherheiten“ ihres Fußvolks einsetzen. Und mit der Unterstellung eines subjektlosen Schicksals, dem die Nationen unterworfen wären, stellt diese „Theorie“ die Sachlage, von der sie handelt, vollends auf den Kopf. Die Konkurrenz nämlich, der die Staaten sich heute nolens volens zu stellen hätten, wird tatsächlich von niemandem als ihnen selber gemacht. Sie sind die souveränen politischen Subjekte, die mit ihrer Gewalt den Bestand des globalen Ausbeutungswesens und die perfekte klassengesellschaftliche Sortierung der Menschheit leisten; und sie leisten das, indem sie permanent und auf allen Ebenen gegeneinander antreten und um ihren nationalen Ertrag aus dem „globalisierten“ Kapitalismus und um ihren Anteil an der Herrschaft über die Staatenwelt bzw. ihren Stellenwert in der „Weltordnung“ kämpfen. Die vergleichsweise idyllischen Zeiten sind nämlich vorbei – auch darauf deutet das Gerede von der „Globalisierung“ hin –, als Königreiche und Republiken extra etwas unternehmen mussten, um sich zivil oder gewaltsam aneinander zu messen und kriegerisch oder friedlich Beute zu machen. In der Welt von heute sind die Nationalstaaten immer und in allen ihren Aktionen als Konkurrenzsubjekte am Werk; auch was sie im Innern tun, tun sie für den Konkurrenzerfolg ihres Kapital-Standorts und ihrer eigenen Macht; ihr internes ziviles Leben richten sie ein als Mittel im imperialistischen Kräftemessen, das keine Pausen kennt und keine „Nischen der Geschichte“ offen lässt. Dafür nehmen sie das Stück der globalen Klassengesellschaft, über das sie gebieten, als ihre Manövriermasse in die Pflicht.

Und mit dieser „gemeinsamen Sache“ hat ein modernes Volk genug zu tun: Das ist der Inhalt seiner ‚Identität‘.

(c)

Genau dazu sagt ein Volk nicht ‚Ja‘ und nicht ‚Nein‘, sondern – WIR! Es nimmt nicht Stellung, sondern identifiziert sich mit dem Dasein als Standortbesatzung im globalen Konkurrenzkampf der Staaten, das der eigene ihm auferlegt. Als Volk verzichten die Menschen darauf, ihre eigenen materiellen Bedürfnisse konsequent und kritisch zu klären, eine konkrete Verallgemeinerung ihrer Wünsche und Vermittlung ihrer Interessen herbeizuführen, eine Ordnung zu schaffen, in der ihre Lebensbedürfnisse ohne substanzielle Abstriche im allgemein Gültigen gut aufgehoben sind – das alles lassen sie sich von ihrer Herrschaft als ihre Lebenslage vorgeben, abstrahieren insoweit von sich und ihren Belangen. Und auch was die vom Staat vorgegebene wirkliche Zweckbestimmung ihres Zusammenwirkens betrifft, legen sie ein beträchtliches Abstraktionsvermögen an den Tag. Vom Inhalt und von der Zielsetzung der Verhältnisse, die ihr Staat ihnen bereitet, von der politischen Räson, nach der ihr Alltag funktioniert und ständig reformiert wird, wollen sie nämlich auch nichts weiter wissen. Diesen „Realitäten“ begegnet ein Volk vielmehr mit dem festen idealistischen Vorurteil – das im Übrigen auch die offizielle Agitation mit der Parole „Globalisierung“ ausbeutet, wenn sie den Leuten die Machenschaften ihrer Regierung als wohlmeinende Defensive gegen unabwendbare Unannehmlichkeiten und als Kampf um „beste Lösungen“ vorstellig macht –: Das alles wäre im Prinzip eine hilfreiche Ordnung, die ein gesellschaftliches Zusammenleben mit Arbeitsteilung und wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung überhaupt erst ermögliche. Womit sie sich arrangieren müssen, weil ihre nationale Staatsmacht sich und ihre kapitalistische Reichtumsquelle voranbringen will, das machen moderne Weltbürger in ihrer Lebensführung wie ihrer Lebenseinstellung – insoweit nicht anders als alle anständigen Völker vor ihnen – zu ihrem Lebensprogramm: Weil „es“ anders nicht funktioniert, muss ihr Dasein so wie vorgegeben funktionieren und soll das dann auch zu ihrer Zufriedenheit tun. In den Existenzbedingungen, die ihnen einen Lebensweg als Werkzeuge kapitalistischen Reichtums und staatlicher Macht – und als Alternative dazu nur das absolute Elend – vorzeichnen, suchen sie lauter Werkzeuge für sich, das Rüstzeug für ihren lebenslangen Kampf ums Glück. Ihr notwendiges Scheitern quittieren sie, was den staatlichen Urheber und Garanten ihrer Lebensbedingungen betrifft, mit einer Unzufriedenheit, die stur daran festhält, von ihren wirklichen Gründen, der imperialistischen Zweckbestimmung des ganzen Ladens, abzusehen und gegen alle schlechten Erfahrungen den Standpunkt hochzuhalten, eigentlich müsste man unter den herrschenden Verhältnissen doch zu seinem Lebenserfolg kommen können; denn eigentlich wären Staat und Wirtschaft, also – ausgerechnet – Macht und Geld doch dafür da, dem einzelnen die nötigen Mittel für einen erfolgreichen „pursuit of happiness“ an die Hand zu geben – als bräuchte es, wenn es wirklich ums konkret allgemeine Wohlergehen ginge, die Privatmacht des Geldes und eine allgegenwärtige hoheitliche Gewalt. Dabei kann die jeweils amtierende Regierung im Urteil eines unzufriedenen Publikums beliebig schlecht wegkommen: Treue Bürger kleiden ihre Beschwerden in die „Wir“-Form und bleiben unverwüstlich dabei, ihre Abhängigkeit von dem Konkurrenzkampf, den ihre Staatsmacht führt, positiv zu sehen und ihre privaten Erfolgschancen dort zu suchen, wo in Wahrheit die Nation für ihre Erfolge ihr Personal verschleißt.

Ein Volk lebt also die Fiktion einer gemeinsamen Sache, die den imperialistischen Belangen der Staatsmacht und den materiellen Interessen der Leute gleichermaßen Genüge täte; und es verfügt über Gesichtspunkte, sich dazu zu bekennen: über eine Nationalideologie, die seinem dienstbaren Dasein ein vorherbestimmtes Schicksal, einen göttlichen Auftrag, eine rassische Auszeichnung – als „Volk der Dichter & Denker“ z.B. – oder sonst einen tieferen Sinn nachsagt. In diesem Punkt haben es die modernen Völker, die mit einer demokratischen ‚Leitkultur‘, zu einer bemerkenswerten Errungenschaft gebracht: Sie glauben an die demokratische Methode der Ermächtigung der Regierenden durch „den Wähler“ als die – vielleicht nicht besonders gute, aber einzige und insofern – optimale Garantie dafür, dass staatliches Handeln und Volkes Wille zur Deckung kommen, so gut es überhaupt geht; also als das fundamentale Prinzip der „gemeinsamen Sache“, in der die materiellen Erfolge der Nation und die ihrer Insassen zusammenfallen. Sie verzichten deswegen nicht auf Legenden, die mehr das Gefühl ansprechen; aber jenseits aller derartigen Einbildungen beziehen Demokraten ihre Gewissheit, dass das, was sie von Staats wegen müssen, in letzter Instanz auch das ist, was sie im Grunde ihrer staatsbürgerlichen Vernunft wollen, aus ihrer systemeigenen Einbildung, sie wären mit der Wahl einer herrschenden Figur oder Partei selber – irgendwie, letztlich… – Herr der Herrschaft geworden, die die Gewählten über sie ausüben. Durch ihr demokratisches Dogma lassen sie sich über ihre politischen Einsichten und Absichten belehren; dahingehend, dass sie in aller Freiheit so in etwa die Konkurrenzbemühungen in Auftrag gegeben haben, mit denen ihre Obrigkeit sie überrascht – wahrhaftig ein Geniestreich des abstrakten Denkens.

So leben moderne, aufgeklärte Citoyens als Volk die radikale Abstraktion von ihren materiellen Lebensbedürfnissen und ihrer politischen Unzufriedenheit. Und das tun sie – wie alle Völker vor ihnen – bis zur letzten Konsequenz. Wenn ein Staat gegen eine fremde Herrschaft losschlägt, weil er seine „vitalen Interessen“ in Gefahr sieht, sich also am Leben und den Lebensmitteln fremder Untertanen vergreift, das Leben eigener Bürger aufs Spiel setzt und nationalen Reichtum opfert, dann „erkennt“ ein Volk in seiner totalen Inanspruchnahme durch seine höchsten Gewalten seine Identität mit deren gewalttätigen Ansprüchen und will nichts weiter als den möglichst prompten „gemeinsamen“ Erfolg; und für die Gewissheit, dass es auf den auch ein abgrundtiefes Recht hat, bedient es sich nationaler Heldensagen, Kreuzzugsideen und dergleichen Sinnstiftungen mehr. Demokratische Völker krönen ihre Kriegsbereitschaft darüber hinaus mit der festen Überzeugung, als Missionare der einzig wahren Herrschaftsmethode unterwegs zu sein und den Völkern, die sie überfallen, nichts Geringeres als die Freiheit zu bringen. Dabei leisten sie sich neben und zusätzlich zu ihrer missionarischen Begeisterung den Luxus einer peniblen Prüfung – hier tut sich eine kritische Öffentlichkeit gerne hervor –, ob die Regierenden bei ihren Kriegsentscheidungen auch den rechtlich vorgeschriebenen demokratischen Verfahrensweg eingehalten haben. Davon hängt es für ein demokratisch mündiges Volk nämlich ab, ob die Regierenden wirklich seinen Kriegswillen vollstrecken, wenn sie es in ihrem Feldzug als Ressource einsetzen; ob, mit anderen Worten, das Volk wirklich in Auftrag gegeben hat, was seine Befehlshaber treiben und mit ihm anstellen – ob es also auch da tatsächlich will, was es muss. Am Ende entscheidet darüber natürlich auch in der Demokratie nichts weiter als der Sieg des Guten über das Böse. Und dafür schreckt ein demokratisches Volk vor keiner Brutalität zurück, so wenig wie irgendein anderes oder irgendein „Selbstmord-Attentäter“.

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Keine Frage: Mit all ihrer Weltoffenheit und ihrer demokratischen Kultur bleiben moderne Völker ihrem Begriff treu. Und nicht nur das: Die furchterregende Abstraktion, die sie leben, ‚arbeiten‘ sie in schwer zu überbietender Reinform heraus. Jetzt dürfen sie nur nicht den Fehler machen und aussterben. Dann lässt sich mit ihnen auch weiterhin Großes anrichten.

[1] Die Vor- und Frühgeschichte mancher Völker hat mit Stammesgemeinschaften, also wirklich naturwüchsigen Verwandtschaftsbeziehungen angefangen; und oft genug sind Sippenfürsten, Untergrundbewegungen, eine Volkskirche und ähnliche Autoritäten unter Berufung auf alle möglichen kulturellen Gemeinsamkeiten dafür eingestanden, dass ihr Volkshaufen sich als besondere Gemeinschaft mit einem eigenständigen Recht auf eine Herrschaft aus den eigenen Reihen verstanden und erhalten hat. Moderne Staaten und Völker zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass sie solche waldursprünglichen Verhältnisse unwiederbringlich hinter sich gelassen haben: Da grenzen Gewaltmonopolisten mit ihrem Staatsgebiet auch ihre Völker voneinander ab. Dass ausgerechnet in dieser Staatenwelt die Sortierung der Menschheit nach Völkern so gerne auf deren vor-politischen oder gleich einen Naturzusammenhang zurückgeführt und die Staatsgewalt als Desiderat und Produkt einer Art Stammesgemeinschaft gedeutet wird, ist ein gar nicht lustiger ideologischer Treppenwitz.

[2] Unter kritischen Bürgern gilt seit jeher die rhetorische Frage: „Wie soll es denn sonst gehen?“ als stichhaltiges Argument gegen jeden Zweifel, ob die herrschenden Gewaltverhältnisse denn wirklich sein müssen. Zu einer ernsthaften Befassung mit der Frage, warum sie tatsächlich sein müssen, welche Notwendigkeiten sie begründen, kommt es da erst gar nicht – allenfalls zu einer ‚politikwissenschaftlichen‘ Projektion der Idee einer rechtfertigenden Notwendigkeit auf „den Menschen“, der „von Natur“ ohne Gewalt nicht funktioniert –; geschweige denn zum Begriff dieser Notwendigkeiten, der im Übrigen ihre Kritik und der erste Schritt zu ihrer Abschaffung wäre. Wie auch: Wenn „es“, nämlich alle gesellschaftlichen Zwänge, an die der Mensch sich jeweils so gewöhnt hat, in der bekannten und gewohnten Weise „gehen soll“, dann gibt es tatsächlich nicht viel Alternative.

[3] Als Staatskritik noch eine Domäne linker Geister war, die der Politik ihre Dienste am Reichtum der Reichen und für die Armut der armen Leute als systematische Gemeinheit angerechnet und von einer Revolution das Ende der gesellschaftlichen Gewalt und das „Absterben“ ihres Monopolisten erwartet resp. verlangt haben, ist der Verweis auf menschliche Übel, denen eine „gesellschaftliche Ursache“ nur schwer nachzusagen oder leicht abzusprechen ist, insbesondere auf gewalttätige Individuen – in Wirklichkeit meist Leute, die ihre Lektion aus dem gesellschaftlichen „Lebenskampf“ irgendwie falsch verstanden haben –, geradezu in den Rang einer Staatsableitung erhoben worden: Generationen von Politologen haben die Kriminalität als unschlagbar guten Grund für polizeiliche Verbrechensbekämpfung angeführt, um die Staatsgewalt nicht etwa auf diese schöne Dienstleistung zu reduzieren, sondern um sie mit ihrem gesamten Aufgabenspektrum zu legitimieren. Mittlerweile haben die ideologischen Fronten sich verkehrt, ohne dass die Argumente besser geworden wären: Heutzutage halten liberale Politiker, die an die Macht drängen und genaue Vorstellungen von den harten freiheitlichen Arbeits- und Konkurrenzbedingungen haben, die sie den Leuten aufzwingen wollen, sowie beamtete Experten, die sich unentbehrlich und unterbezahlt finden, staatliche Sozialpolitik für reine Geldverschwendung und haben in den „öffentlichen Diskurs“ als äußerst ehrenwerte Erkenntnis den Standpunkt eingeführt, die Betreuung armer Leute durch die Obrigkeit gäbe es überhaupt nicht wegen deren – politökonomisch nützlicher – Armut, sondern die Armut wegen ihrer eigentlich völlig überflüssigen Betreuung; ohne Staat stünden dessen Sozialfälle also besser da. (Klar: Sie wären keine mehr; nur noch arm.) Angesichts der Tatsache, dass der moderne Staat einigen Aufwand betreibt, um gewisse verheerende Auswirkungen der modernen Produktionsweise auf die natürlichen Lebensbedingungen nur in beschränktem Umfang zuzulassen, sind besonders engagierte Interessenvertreter und Lobbyisten „der Wirtschaft“ überhaupt zu geschworenen Feinden „der Bürokratie“ geworden und propagieren „Entstaatlichung“ als Leitfaden für die Herrschaftstätigkeit eines Staates, wie er ihnen gefallen würde. Dagegen machen sozial und umweltschützerisch gesinnte Leute vom Fach den Einwand geltend, nur Reiche könnten sich „weniger Staat“ leisten, die Masse bleibe auf staatliche „Daseinsvorsorge“ angewiesen – nicht gerade eine Ableitung, aber eine schöne Ehrenrettung des Staates, die die Drangsale der Armut nicht kritisiert und die private Natur des gesellschaftlichen Reichtums nicht in Zweifel zieht, sondern bloß auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht haben will, inmitten dieser Verhältnisse Ordnung zu halten.

[4] Bei Pazifisten kommt ein enormes Verantwortungsbewusstsein hinzu: Sie fühlen sich für die Taten ihrer Regierung dermaßen verantwortlich, dass sie von ihrer Regierung den Verzicht auf Kriege verlangen, an denen sie gegebenenfalls – zumindest mit- – schuldig wären.

[5] Demokratische Volkserzieher fragen sich in so zugespitzter Lage dann besorgt, ob ihr Volk womöglich nur bei politischem ‚Schönwetter‘, also bloß so lange demokratisch funktioniert, wie ihm härtere Bewährungsproben erspart bleiben, in Krisenzeiten jedoch die harte Hand eines Diktators spüren möchte. Demokratische Politiker konkurrieren derweil um das Mandat für den praktischen Beweis, dass sie ein solches Volksbedürfnis gut verstehen können, vorauseilend zu bedienen vermögen und eine von ihnen gemanagte ‚wehrhafte‘ „Allwetter“-Demokratie locker hinkriegt, was ihre misstrauischen Kritiker nur einer über alle demokratischen Prozeduren erhabenen Führerfigur zutrauen.

[6] Das ist vor allem ausgerechnet dort der Fall, wo in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg kämpferische Volksbefreiungsbewegungen unter Berufung und gestützt auf die unterdrückten und ausgepowerten Eingeborenen ihrer Länder – und nie ohne berechnende Unterstützung von außen – Europas Kolonien in souveräne Staaten verwandelt oder auch Diktatoren beerbt haben, die von den USA erst unterhalten und dann fallengelassen worden sind. Als ‚revolutionäres‘ Qualitätsmerkmal hatten die neuen Herrschaften hauptsächlich eben dies zu bieten: volks-eigen zu sein. In vielen Fällen haben sie immerhin den Versuch unternommen, aus ihren befreiten Untertanen Reichtum und eine Macht herauszuwirtschaften, mit der sie sich neben ihren entmachteten Kolonialherren resp. ihren souveränen Nachbarn sehen lassen konnten. Dieses Unterfangen haben sie gerne mit dem Etikett ‚Sozialismus‘ und dem nationalen Eigennamen versehen; teils mit Blick auf die Sowjetunion und ihr ‚sozialistisches Lager‘, von denen man sich Hilfe erhoffte und öfters auch bekam; gemeint war damit aber auch der politische Wille, von allen internen Abgrenzungen, Differenzen, Unverträglichkeiten und Gegensätzen, insbesondere solchen aus vor-staatlichen Traditionen, zu abstrahieren und überhaupt ein Staatsvolk mit einem Staatswillen zu schaffen; ein Vorhaben, für das Staatsparteien nach ‚realsozialistischem‘ Vorbild gegründet wurden. Diese Versuche sind regelmäßig gescheitert, bisweilen in imperialistischen ‚Stellvertreterkriegen‘ kaputtgemacht worden; manche „Volksbefreier“ – insbesondere die aus den westlichen Demokratien gesponserten – haben einen solchen „Entwicklungsweg“ auch gar nicht erst probiert. Das Ergebnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind in den einen wie den anderen Fällen Exemplare der neuen Staatengattungen ‚failing‘ resp. ‚failed states‘ sowie verelendende Massen, bei denen von einem Volk in dem Sinn – nämlich einem, das in der Staatsmacht seine ‚gemeinsame Sache‘ hat und verfolgt – gar nicht die Rede sein kann.

[7] So etwas hält man auch in der BRD wieder für unbedingt erforderlich, nachdem einige Jahrzehnte lang überschwänglicher Nationalismus und „unreflektierte“ Begeisterung für Volk und Vaterland wegen des „Missbrauchs“, den die Nazis 12 Jahre lang, einen ganzen Krieg und einen recht kompletten internen Genozid hindurch, damit getrieben hätten, im Land des ‚Rechtsnachfolgers‘ dieser ‚Unrechtsherrschaft‘ offiziell nicht so gut gelitten waren. Zeiten, in denen ein gestandener Bundespräsident sich öffentlich dazu bekannte, Liebe hege er nur für seine Frau, sind mit der ‚Wiedervereinigung‘ und dem regierungsamtlich ausgerufenen ‚Ende der Nachkriegszeit‘ vorbei. Seither bemüht man sich in Deutschland um die Überwindung der distanzierten Stellung zum Vaterland, die zur moralischen Erblast der ‚68er-Generation‘ und ihrer volkszersetzenden Kulturrevolution gerechnet wird.

[8] Abweichenden Meinungen und kritischen Argumenten, die einen solchen Sorgestandpunkt nicht erkennen lassen, wird daher auch nicht ihre Verkehrtheit nachgewiesen, sondern ‚Nestbeschmutzung‘ vorgeworfen – ein sehr sachgerechtes Bild für das „Wir“-Bewusstsein, mit dem eine verantwortliche Öffentlichkeit ans Werk geht und das sie ihrem informierten Publikum vermittelt: Gerade wenn über die eigene Nation geurteilt wird, dann gehört von ihrem Interesse her geurteilt; Kritik darf nur im Sinne des Kritisierten erfolgen; sie muss erkennen lassen, dass der Kritiker sich mit der Sache identifiziert und für ihr besseres Gelingen eintritt.

[9] Wer zuwandern darf, muss dementsprechend vor seiner Einbürgerung eine Gesinnungsprüfung überstehen. Deren lächerlicher Charakter unterstreicht nur das Prinzip, das da zur Anwendung gelangt.

[10] Die selbstverständliche Erwartung, dass auch Ausländer als Fanclub ihres Vaterlands auftreten, ist die Grundlage des von Volkserziehern gepflegten Gerüchts, Verständnis für den Nationalstolz anderer wäre das Signum wahrer Vaterlandsliebe und die alles entscheidende Scheidelinie zwischen Patriotismus, welcher gut, und – tendenziell oder überhaupt – bösem Nationalismus; umgekehrt müsse man das eigene Vaterland lieben, um zu echtem Verständnis für fremde Völker und wahrer Völkerverständigung fähig zu sein. Tatsächlich wird mit dieser erbaulichen Reflexion nur ein besonders antikritisches Bekenntnis zu der Forderung abgelegt, in seiner bloßen Staatsangehörigkeit hätte der anständige Bürger schon den hinreichenden Grund für unbedingte Parteilichkeit zu finden: Etwas anderes mögen Patrioten sich überhaupt, also auch bei Ausländern nicht vorstellen können! Für allfällige Übergänge ins Polemische ist dieses Verständnis, das Patrioten für einander hegen, eine sichere Grundlage.

[11] Wenn ein Staat sein Volk auf einen Krieg vorbereitet, also kriegsbereit macht, sorgt er immer dafür, dass es sich für ein Herrenvolk hält, dem das Recht und der Auftrag auf seinen Lebensweg mitgegeben sind, Schurkenstaaten zu zerstören und die Welt an seinem Wesen genesen zu lassen, das also gar nicht anders kann, als rein zum Zweck der Weltverbesserung zuzuschlagen. Diese hohe Meinung einer kriegswilligen Führung von ihrem Volk ist übrigens, verbunden mit dem Glauben an die genetische Verankerung dieser hohen weltgeschichtlichen Berufung in der Volksnatur, der ideologische „Sumpf“, aus dem Deutschlands Nazis sich für ihren Rassenwahn bedient haben.

[12] Diese Berechnungen, weltgeschichtlich gesehen: die Überwindung des Staatsinteresses am Beute-Machen durch dasjenige an den ungleich ergiebigeren Erträgen eines grenzüberschreitenden kapitalistischen Geschäftsverkehrs, sind die sachliche Grundlage für die politologische Lehre von der prinzipiellen Friedfertigkeit der Marktwirtschaft. Betrübliche Tatsache ist freilich, dass die Konkurrenz der Nationen sich auf dem Feld des Kommerzes nicht austobt, sondern Streitigkeiten der höheren Art heraufbeschwört, nämlich um die Herrschaft über die Konditionen des Weltgeschäfts und damit um die Ordnungsmacht über die dafür zuständigen staatlichen Souveräne. Die Illusion, darüber könnten sie sich zum allseitigen Vorteil friedlich einigen, haben die auf diesem Niveau konkurrierenden Mächte nie gehegt. Als Schutzherren ihrer weltumspannenden nationalen Interessen, als Aspiranten eines universellen Kontrollregimes und als Experten in der Kunst der Erpressung kennen die zuständigen Politiker nur allzu gut Notwendigkeit und Nutzen eines gigantischen Militärapparats. Den halten sie sich deswegen auch im Zeitalter der vollendeten globalen Marktwirtschaft und wissen ihn vielfältig einzusetzen.

[13] Zum großen Missfallen der imperialistischen Weltöffentlichkeit gibt es nämlich auch in der minderwertigen, von 3 bis 5 durchnummerierten Staatenwelt immer wieder einmal Herrscher und oppositionelle Führerfiguren, die ihr Volk für eine ‚gemeinsame Sache‘ begeistern, die einen Aufstand gegen herrschende Machtverhältnisse zum Inhalt hat; im einen Fall gegen eine Regierung, die als Fremdherrschaft über gewisse Teile des Staatsvolks denunziert wird, in anderen Fällen gegen die Indienstnahme des Landes, sei es vermittels der amtierenden Obrigkeit oder entgegen deren Autonomie-Bestrebungen, für imperialistische Belange. Da machen sich unter Umständen unzufriedene Volksteile zur Manövriermasse von Anführern, die – unter Berufung auf ideelle Rechtstitel, wie auch alle fertigen Nationen sie als Herzstück ihrer ‚Identität‘ in höchsten Ehren halten – die etablierte Weltordnung gelegentlich in durchaus brauchbarer Weise in Fluss bringen – Beispiel: der ‚Freiheitsdrang‘ der Völker Jugoslawiens, die einige Jahrzehnte lang ihren Sonder-Nationalismus vergessen hatten –, meistens aber eher stören – wenn sie sich etwa, Beispiele liefert wieder der Balkan, ihren Emanzipationswahn auch unter imperialistischer Betreuung nicht wieder abschminken. In Fällen der letzteren Art können aufgeklärte Völker den parteiischen Fanatismus fremder ‚Ethnien‘ oder Glaubenskämpfer überhaupt nicht verstehen.

[14] Ausgerechnet der Standpunkt, die ganze Staatenwelt müsste sich, dankbar womöglich, nach den Weltordnungsbedürfnissen der imperialistischen Demokratien richten und sich entsprechende Zurechtweisungen widerstandslos gefallen lassen, bei Strafe sofortiger Liquidierung, und dabei dürfte das ganz normale bürgerliche Leben, das Geschäftemachen und Geldverdienen, keinerlei Einbußen erleiden, sichert den eisernen Fortbestand des Gerüchts, Demokratie und Marktwirtschaft, die Erfolgsschlager der modernen Weltherrschaft, wären von Haus aus kriegsfeindlich und forderten gebieterisch einen dauerhaft stabilen Weltfrieden. Richtig ist das in dem einen denkbar brutalen Sinn: Der demokratische Imperialismus hat ein elementares materielles Interesse daran, dem gesamten Rest der Welt seinen Frieden aufzuzwingen und das mit seinen eigenen Machtmitteln garantieren zu können.

[15] Vgl. dazu „‚Globalisierung‘ – Der Weltmarkt als Sachzwang“, in GegenStandpunkt 4-99, S.77.

[16] Die Kritik dieses Werks in GegenStandpunkt 2-98, S.159 sei zum Nachlesen empfohlen.