Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Sensation aus Paris:
Der Kommunismus – entlarvt!

Dem untergegangenen Realsozialismus wird seine moralische Vernichtung nachgereicht – als Statistik des Grauens. Ein paar kommunistische Einwände zur öffentlichen Emphase über sie.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Sensation aus Paris:
Der Kommunismus – entlarvt!

Endlich ist es raus: Der Kommunismus war und ist ein Verbrechen! Nicht bloß hie und da, sondern prinzipiell und systematisch:

„Über einzelne Verbrechen, punktuelle und situationsbedingte Massaker hinaus machten die kommunistischen Diktaturen zur Festigung ihrer Herrschaft das Massenverbrechen regelrecht zum Regierungssystem.“

Regelrecht! Und über die Massen macht man sich gar keine Vorstellung: 100 Millionen! 10 hoch 8! – schätzungsweise… Endlich liegt das alles einmal schwarz auf weiß vor: im Livre noir du Communisme; herausgegeben von Herrn Courtois, ehemaliger linksradikaler Maoist und deswegen besonders glaubwürdig. Leider kommt es erst Mitte des Jahres auf gut deutsch in den Buchhandel; in den Feuilletons der seriösen deutschen Weltpresse wirft es aber schon seine Schatten voraus. Die Zeit, Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche Zeitung – niemand fehlt, so daß wir ganz bequem alles Wichtige schon übersetzt zitieren können.

Nicht als ob die Autoren der verschiedenen Kapitel des „Schwarzbuchs“ – die Opferbilanzen sind übersichtlich nach Weltgegenden und Nationen geordnet – groß Neues entdeckt hätten. Sie haben bloß einmal konsequent 1 und 1 zusammengezählt, oder besser 1000 + 1000, der Herausgeber dann die Millionen – und haben so denkbar schlicht und schlagend mit einer alten Unsitte aufgeräumt. Nämlich mit dem fatalen Drang, bei den „Opfern des Kommunismus“ immer noch mehr wissen zu wollen als ihre Zahl – etwa, ob ihre Kennzeichnung als Verbrechensopfer die Sache überhaupt trifft: Als Verbrechen zusammengezählt, ergibt die Summe doch wohl den Beweis, oder?! Damit ist auch gleich die Frage vom Tisch, ob und in welchem Sinn es sich überall um denselben Täter handelt – inwiefern etwa die russischen Bolschewiken der ersten Stunde, Haudegen des Bürgerkriegs, und Stalin, der ihnen später den Schauprozeß gemacht hat, jeweils für haargenau dieselbe Sache, „Kommunismus“ eben, eingestanden sind, so daß ihre jeweiligen Opfer auf denselben systematischen Verursacher verweisen; oder wieviel Pol Pots Rote Khmer mit der vietnamesischen Regierung, die sie gewaltsam von der Macht über Kambodscha vertrieben hat, gemein haben, so daß die Opfer der einen wie der andern gerechterweise als Summanden zu behandeln sind… Solchen völlig unwesentlichen Fragen läßt das „Schwarzbuch“ die einzig passende Behandlung zuteil werden: Nichtbefassung! Schluß auch mit der Erkundigung nach den Gründen, unterschiedlichen womöglich, für die unterschiedlichen Aktionen. Was kann es denn schon ausmachen, daß den russischen Kommunisten, nachdem sie den Weltkrieg für ihr Land beendet hatten, ein Bürgerkrieg mit imperialistischer Rückendeckung aus Westeuropa geliefert wurde? Oder daß das vielleicht nicht ganz dasselbe ist wie die Hungersnot, die Maos Versuch nach sich gezogen hat, die Landbevölkerung Chinas für einen quasi handwerklichen „Großen Sprung“ mitten hinein in eine autonome Industrialisierung des Landes zu mobilisieren? Tot ist tot, und den Grund kennen wir schon längst. Hauptsache, die addierten Ereignisse steuern die großen Millionenziffern zur Gesamtsumme bei, die die Dimensionen der einen großen Untat enthüllt.

So verschwindet endlich auch mal hinter der gigantischen Opferzahl der ärgerliche Unterschied zwischen dem bisherigen Spitzenreiter im Vergleich der politischen Massenverbrecher, den Nazis, deren Herrschaft schon seit längerem durch gar nichts anderes als die Zahl der von ihnen hinterlassenen Leichen definiert wird – dabei waren es bloß, schätzt der Herausgeber, 25 Millionen! –, und „dem Kommunismus“, der sich ekelhafterweise immerzu im „Bonus des Antifaschismus“ sonnen konnte, bloß weil seine Anhänger zu den härtesten Gegnern und ersten Opfern des Faschismus zählten. Auf die Bereinigung dieser historischen Ungerechtigkeit möchte der Herausgeber mit verhaltenem, aber gerechtem Stolz denn doch eigens aufmerksam gemacht haben:

„Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das vom stalinistischen Regime vorsätzlich dem Hunger überlassen wurde, ‚gilt soviel wie‘ der Hungertod eines Kindes im Warschauer Getto. Damit wird die ‚Einzigartigkeit von Auschwitz‘ nicht geleugnet…“

– Gott bewahre, mit diesem denkbar größten antijüdischen Übergriff möchte der Statistiker des Unheils, das „die Kommunisten“ über die Menschheit gebracht haben, seine Erkenntnisse nicht belastet wissen. Er mag eben bloß auch keinen Unterschied gelten lassen zwischen jüdischen Kindern, die ihrer Vergasung im KZ durch den Hungertod im Warschauer Ghetto zuvorgekommen sind, und den Kulakenkindern, die die Sowjetmacht in den großen Hungersnöten der 20er Jahre mit als erste hat verhungern lassen. Denn was wäre das anderes als schon wieder eine völlig sachfremde Ablenkung von dem Urteil, das gerade noch rechtzeitig vor Ablauf dieses schlimmen Jahrhunderts unwidersprechlich gefällt werden konnte: Der Kommunismus war und ist 1 einziges Verbrechen – so wahr wie hundertmal 1 Million nicht weniger als 100.000.000 Opfer ergibt.

*

Gottseidank ist es mit diesem Spuk nun vorbei, und man kann die Lehren daraus ziehen.

„Das Schwarzbuch des Kommunismus kommt genau im richtigen Moment. All denjenigen, die schon wieder nichts als Unzulänglichkeiten an unserer liberalen Demokratie entdecken, zeigen die beiden Katastrophen des Jahrhunderts – der Faschismus wie der Kommunismus –, daß alle Auswege, die aus dem System herausführen, unweigerlich in finstere Sümpfe führen.“ (Le Point, 15.11.97)

Unsere liberale Demokratie, Sieger auf dem Schlachtfeld der Systeme, ist ohne Alternative, und sie ist alternativlos gut. In ihr sind wir auf moralisch festem Boden. Opfer? gab es nur bei den andern. Die Welt kann aufatmen: Keine vorsätzlich preisgegebenen Hungertoten mehr – wer jetzt verhungert, stirbt daran, daß er zuwenig ißt; und wer heute in Rußland zugrundegeht, wird von seiner Regierung bedauert. Nirgendwo mehr Bürgerkrieg und systematische Hinrichtungen – außer denen, die sein müssen. Und glücklicherweise müssen viele nicht mehr sein, nachdem sie ihr Werk getan und die kommunistischen Umtriebe auf dem Globus schließlich, nach mehreren Anläufen, am Ende doch ausgemerzt haben. Der 1. Weltkrieg? Die Kolonialkriege nach dem 2.? Das Elend, das unsere liberale Weltordnung unter den Rubriken „3. (4., 5. …) Welt“, „Systemanpassungskrise“, „Arbeitslosigkeit“ oder schlicht „Überbevölkerung“ führt? Unzulänglichkeiten, eventuell. Aber doch ganz eindeutig keine „Katastrophen des Jahrhunderts“! Krepiert überhaupt noch irgendwo wer aus politischen Gründen, jetzt, nachdem der rote Sumpf auch noch trockengelegt werden konnte?

Man sieht, mangelndes Unterscheidungsvermögen ist Courtois und seinen Gesinnungsgenossen durchaus nicht vorzuwerfen. Sie urteilen differenziert, gerade wenn sie sich in Sachen „Kommunismus“ apriori und notfalls noch einmal aposteriori alle Differenzierungen verbitten. Sie denken gar nicht daran, bloß wegen der paar Millionen Opfer, die immer wieder auf verschiedenen Seiten angefallen sind, auch derzeit vor sich hin verhungern und in Zukunft noch nötig werden dürften, gleich die ganze Weltgeschichte ideell wegzuschmeißen – mitsamt ihrem Gewinner womöglich. Wer etwa daran erinnert, daß die glorreiche französische Republik sich mit den vier bis fünf Millionen Todesopfern ihrer Kolonialherrschaft vor den arithmetischen Maßstäben des „Schwarzbuchs“ auch ganz schön blamieren würde, mischt eindeutig Unvergleichbares zusammen und holt sich von den Frankfurter „Schwarzbuch“-Freunden eine gerechte und entschiedene Abfuhr: So einer „steht ganz in der Tradition der Auschwitzlügner“! Meint die FAZ, die sich da auskennt.

Tot ist tot – das gilt eben nicht undifferenziert. Wo unsere liberale Demokratie im Katastropheneinsatz gegen den kommunistischen Sumpf Opfer schaffen mußte, gereichen feindliche Leichen ihr zur Ehre: Der „body count“ – US-Slang im Vietnamkrieg für die Tagesbilanz erlegter „Charlies“ – beziffert kein Verbrechen, sondern den Preis der Freiheit. Preis im Sinne von Unkosten, aber durchaus auch im Sinne eines Kompliments an die gute Sache. Die hat mit ihren opferreichen Kämpfen nämlich ihre Überlegenheit bewiesen – und außerdem, wieviel sie sich wert ist!

*

Weil sie so differenziert an die Sachen herangehen, können die Schwarzbüchler es überhaupt nicht leiden, wenn gewisse Leute so tun, als hätten sie in der liberalen Demokratie doch irgendwo Opfer entdeckt, die gegen die Güte dieses endgültigen Systems sprechen könnten. Wo doch mit der großen Opferzahl „des Kommunismus“ eigentlich alles erledigt sein müßte! Aber linke Menschen sind halt gar zu schlecht:

„Noch heute ist die Trauerarbeit um die Idee der Revolution selbst, wie sie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gedacht wurde, längst nicht abgeschlossen. Ihre Symbole – die rote Fahne, die Internationale, die erhobene Faust – erstehen bei jeder großen sozialen Bewegung neu.“

Diese „Bewegungen“ – die mit ihren sozialen Anliegen in unserer besten aller Welten dauernd wieder aufkreuzen, obwohl sie doch wirklich nicht dazugehören – wollen einfach nicht begreifen, daß die völlig überlebte „Idee der Revolution“ ein einziges Mordkomplott ist und ihren Anhängern nichts anderes zusteht als tiefe Betrübnis und Reue, ihr jemals angehangen zu haben. Sie sind infiziert, auch wenn man das nur an ihren „Symbolen“ merkt. In ihrer Unzufriedenheit kündigt sich mit der alten Sehnsucht nach einem Umsturz das schiere Verbrechen an. Lohnforderungen und Streiks tragen den Keim des Massenmords in sich – Courtois und die Seinen haben’s gemerkt, warnen und mahnen…

Und: wird es ihnen gedankt? Nein, natürlich wird es ihnen wieder einmal nicht gedankt.

Gewiß, es gibt eine rechte Szene in Europa, die schon lange darauf gewartet hat und dankbar dafür ist, daß endlich mal einer Schluß macht mit der Verschleierung der kriminellen Dimension des Kommunismus. Diese Szene ist sogar, das deutsche Feuilleton-Echo steht dafür, ziemlich groß und ziemlich glücklich: Mit einer einzigen großen Zahl alles linke Genörgel erschlagen – welcher gute Demokrat hätte davon nicht schon immer geträumt! Und wenn die Kriminalisierung der Kommunisten deren schärfste Feinde ein bißchen rehabilitiert – wer wollte etwas dagegen haben, solange nur die ‚Einzigartigkeit von Auschwitz‘ nicht geleugnet wird?!

Aber dann läßt sich der französische Ministerpräsident mitten in seinem Parlament zu einer Ehrenerklärung für seinen „kommunistischen“ Koalitionspartner herbei: Schon unter De Gaulle direkt nach dem Krieg hätten die Linken treu patriotisch beim nationalen Wiederaufbau mitgemacht… Dann kommen auch noch die Beckmesser und Fliegenbeinzähler daher, bezweifeln Zahlen, weisen Rechenfehler nach, finden die Technik des Aufrundens, die aus schlappen 65 Millionen erst die richtig griffigen 100 macht, irgendwie zweifelhaft. Als nächstes wird dann auch noch die „Aussagekraft“ der Zahlen angezweifelt, als wäre die Aussage mit der 8. Null hinter der 1 nicht längst fertig. Irgendwelche Historiker melden sich zu Wort, die aus purem Berufs- und Karriereinteresse immer noch etwas Zusätzliches über Lenin, Stalin oder Mao herausgefunden haben wollen; selbst die besten unter ihnen machen mit ihrer völlig überflüssigen Sorge um die Glaubwürdigkeit der bösen Botschaft deren Unwidersprechlichkeit kaputt.

Und außerdem bleibt eine nagende Frage zurück: Gut, der Kommunismus ist entlarvt, seine kriminelle Natur 10 hoch 8-fach bewiesen – doch was nützt der Triumph, wenn es den Feind gar nicht mehr gibt? Wenn längst mehr Renegaten als Nostalgiker des Kommunismus durch die Welt laufen und so richtige Anhänger der „Idee der Revolution“ kaum noch wahrnehmbar sind?

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Sei’s drum! Es ist einfach so, daß das alles endlich einmal aufgeschrieben werden mußte. Unzählige gute Menschen, treue Anhänger des demokratischen Imperialismus, mit Verstand und Gefühl im Reich des Guten zuhause, mußten schließlich jahrzehntelang mit ansehen, wie ihre geschätzte Obrigkeit, ihr eigener personifizierter politischer Wille, genötigt war und sich bereitfinden mußte, mit dem kommunistisch Bösen einen zivilen Umgang zu pflegen. Dessen Existenz war hinzunehmen, sogar ein gewisses Eigeninteresse zu respektieren, als würde es sich dort um so etwas Ähnliches wie das ehrenwerte Geschäft der Politik handeln. Und auch wenn das erklärtermaßen nur aus feindseliger Berechnung geschah: Der Umstand, daß Breschnew und Honecker auf Westbesuch nicht verhaftet, sondern wie respektable Machthaber empfangen wurden, ließ nicht bloß manch sensibles Gemüt sittlich leiden; er korrumpierte auf die Dauer auch die moralische Urteilskraft des Publikums. Nur wenige blieben ganz standhaft; andere nahmen „gut“ und „böse“ als letztgültige politische Unterscheidungsmerkmale nicht mehr ganz ernst; viel zuviele – Intellektuelle vor allem: man kennt sie ja! – meinten sogar, sie hätten das Recht und die Freiheit, am Kommunismus so etwas wie eine alternative Sittlichkeit, ein nicht völlig von der Hand zu weisendes Programm, womöglich sogar eine moralisch intakte Absicht zu entdecken – und wenn es bloß das Anti gegen den Faschismus war.

Mit derlei Undeutlichkeiten ist es nun gottlob vorbei, seit die Weltmacht des Sozialismus zusammengebrochen ist. Endlich entfällt mit der erzwungenen Hinnahme des feindlichen Systems der Stachel, sich mit der Existenz einer Alternative zum alternativlos guten System der liberalen Demokratie abfinden zu müssen. Es entfällt der einzige Grund, von dem Glauben an die alleinseligmachende Sittlichkeit dieses Systems pluralistische Abstriche zu machen. So bricht sich nun unter den Aufrechten ein jahrzehntelang aufgestautes und drum nur um so gerechteres Abrechnungsbedürfnis Bahn. In den verirrten Teilen der liberalen Öffentlichkeit kehren Scham und Reue ein über die eigene Verblendung, am Kommunismus jemals etwas anderes wahrgenommen zu haben als das schlechthin Verwerfliche. Und so zum Guten bekehrte Menschen können einfach nicht anders: Es drängt sie zu tätiger Reue; sie ruhen und rasten nicht, bis „der Kommunismus“, der sich mit seinem heimtückischen Antifaschismus so lange in die Moral der freien Welt einschleichen konnte, mit dem bisherigen faschistischen Erzschurken den Platz getauscht hat. Was das nützt – danach fragt nicht, wer einen moralischen Säuberungsauftrag in sich verspürt. Sich selbst und ihrem hohen Auftrag der demokratischen Meinungsbildung sind deren Macher es einfach schuldig, dem Untergang des realsozialistischen Weltsystems dessen moralische Vernichtung nachzureichen.

So zählt das Schwarzbuch bis 100.000.000 – und die ideologische Welt ist wieder ein Stückchen mehr in Ordnung.

*

Bleibt nur noch eine allerletzte Frage: Was sagen die allerletzten übriggebliebenen Kommunisten dazu? Eine Umfrage in der Redaktion unserer Zeitschrift hat hierzu folgendes differenziertes Meinungsbild ergeben:

  • Die Tatsache, daß die Autoren des „Schwarzbuchs“ sich mit der Frage der Zurechnung und den Gründen der vielen „Kommunismus-Opfer“ nicht befassen, ist kein Grund, sich mit ihren Zahlen zu befassen. Ein Argument gegen die Kritik des kapitalistischen Elends, des Reichtums, der es produziert, und der Gewalt, die es demokratisch beaufsichtigt, sind sie auch nicht. Weder verbessern sie das Lohnsystem, noch ändern sie etwas daran, daß auf einem liberal und kapitalistisch durchorganisierten Globus vernünftige Lebensbedingungen ohne gründlichen Umsturz nicht zu haben sind.
  • Kommunisten lehnen es ab, sich für Berija und Pol Pot zu schämen, weil sie auch weder auf Bucharin noch auf Che Guevara stolz sind. Die Sache mit dem 100millionenfachen Verbrechen beeindruckt sie wenig, weil sie weder vorhaben, bei nächster Gelegenheit Kulakenkinder oder chinesische Bauern verhungern zu lassen, noch damit angeben, daß sie das nicht im Programm haben. Sie wollen auch nicht „den Anfängen“ einer Wiederholung „wehren“, wo sowieso nichts anfängt und niemand etwas wiederholen will. Außerdem gefallen sie sich nicht einmal der eigenen Regierung gegenüber in der Pose des moralischen Richters, der „Verbrechen“ verurteilt, wo staatliche Gewalt ans Werk geht; sogar gegen Faschisten halten sie dieses Verdikt nicht für eine Kritik des Herrschaftssystems, das solche Leute praktiziert haben und wieder anstreben. Dem „realen Sozialismus“ nehmen sie im Rückblick eher eben dies übel, daß er diesen guten kommunistischen Antimoralismus in Theorie und Praxis revidiert, die Kritik der bürgerlichen Staatsgewalt durch die Unterscheidung zwischen guten und bösen Seiten derselben ersetzt – und sich der Durchsetzung eines gutgemeinten Staatsprogramms dann unerbittlich gewidmet hat, bis seinen Vorkämpfern dasjenige der kapitalistischen Demokratie doch als noch besser erschienen ist.
  • Den Unterschied zwischen gutem und bösem Gebrauch der Staatsgewalt überlassen Kommunisten denen, die für ihre politische Parteilichkeit kein besseres Argument wissen als die Heuchelei, sie wäre das Ergebnis eines unparteiischen Richterspruchs der reinen Moral. Die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Politik lassen sie staatsbürgerlich urteilende Menschen treffen, die dazu aufgrund ihrer Parteilichkeit für die Sache ihres Staates in der Lage sind. Stattdessen unterscheiden sie real praktizierte Staatszwecke und stoßen bei deren Beurteilung immer wieder darauf, daß das systematische Herrschen und Beherrscht-Werden, mal demo-, mal autokratisch, der entscheidende Grund dafür ist, daß sich das Weltgeschehen so opferträchtig gestaltet. Sogar in Sachen Sowjetkommunismus kommen sie mit einer ‚Kritik der Generallinie der KPdSU‘ daher, als wäre deren Herrschaft gar nicht von vornherein unter aller Kritik, und kritisieren dabei laufend nebenher die bürgerliche Staatsräson mit, als wäre die nicht von vornherein über jede Kritik erhaben.
  • Und schließlich machen Kommunisten sich noch nicht einmal viel aus einem weiteren gutgemeinten öffentlichen Rufmord. Sie haben ohnehin weder einen guten Ruf zu verlieren, noch hätten sie mit einem besseren Ruf etwas zu gewinnen. Die Einsicht, daß die lohnabhängige Menschheit sich selbst zu Armut und Abhängigkeit verurteilt, solange sie im Lohn ihr Lebensmittel sucht und ihre Unabhängigkeit in der Auswahl ihrer demokratischen Führer betätigt, kann sich gar nicht darüber einstellen, daß sie sich beliebt macht. Und den Fall, daß sich jemand dieser Erkenntnis eigentlich anschließen wollte, durch die Kenntnis von Stalins „Gulag“ aber davon abgeschreckt würde – den gibt es sowieso nicht. Es ist umgekehrt: Wer sich durch den Hinweis auf die Zahl der vom „Kommunismus“ begangenen moralischen Straftaten davon abschrecken läßt, seine eigenen Bedürfnisse in ein kritisches Verhältnis zu den herrschenden Interessen zu setzen und denen auf den Grund zu gehen, der hat das auch gar nicht vor. Wer stattdessen seine Überzeugung von dem sittlichen Image der Leute abhängig macht, die ihn zur Gefolgschaft auffordern, der ist mit seinen demokratischen und faschistischen Häuptlingen schon bestens bedient.