Der islamische Fundamentalismus

Die modernen Formen des religiösen Wahns: Die „Schafsnatur“ des Christenmenschen, seine kapitalistische Heimat und die fundamentalistischen Kritiker des Staates im Namen Allahs. Algerien und Iran als Fallbeispiele.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Der islamische Fundamentalismus

Der Islam kommt ins Gerede als der neue Feind von „uns“. Nach dem „Krieg der Ideologien“, so hört man, drohe nun ein „Krieg der Zivilisationen“. Gedacht ist vor allem an die morgenländische, die sich mit dem christlichen Abendland nicht vertragen soll. Tatsächlich bedrohen „Islamisten“, wie sie selbst sich nennen, die Stabilität der eingerichteten Staaten vom Maghreb bis zur Türkei – also eine Region, die die EU zu ihrem Hinterland rechnet und auf deren wunschgemäßes Funktionieren „wir“ ein Recht haben – und darüber hinaus viele Länder des näheren und weiteren Ostens. Der deutsche Entwicklungshilfeminister macht die islamistische Regierung im Iran verantwortlich für weltweiten Terror; radikale Moslems untergraben in Frankreich und womöglich auch schon in Deutschland die Duldsamkeit „unserer“ Ausländer. „Uns“ stört an den Umtrieben der radikalen Gruppen ihr Ungehorsam, der Aufstand, den sie gegen deutsche, europäische, westliche Verhältnisse versuchen. Die Schuld daran geben „wir“ der falschen Religion, auf die sich die Islamisten berufen. Da denken moderne Christen fundamentalistisch.

Besonnene Politiker warnen vor einem neuen Feindbild und vor Religionskriegen;[1] sie fühlen sich zu einer Ehrenrettung des islamischen Bekenntnisses herausgefordert, und beweisen mit ihren Ermahnungen nur, wie fertig das Bild vom falschen Glauben schon ist, der mit unserer Lebensweise und unseren Werten nicht zusammengeht, der uns bedroht, also bedroht gehört. Die ganz Gebildeten wissen anzuführen, daß Allah und seine Lehre nicht nur denselben Respekt verdienen wie andere religiöse Wahngebilde auch, sondern daß der Islam sogar Vorbild sein könnte mit der Toleranz, die er jahrhundertelang gegen Juden und Christen hat walten lassen – was die letzteren von sich nicht gerade sagen können. Die gleiche Anerkennung der Weltreligionen als verschiedene Ausdrücke des Höchsten macht andererseits gerade auf diese höfliche Tour das Feindbild fertig: Den Unterschied zwischen christlicher Religiosität und islamischem Fanatismus schreiben sie nicht den religiösen Gehalten des Koran, sondern dem Umstand zu, daß die islamische Welt die „schmerzhafte Erfahrung“ der europäischen Aufklärung nicht durchgemacht und die Trennung zwischen den höchsten Werten und der Realität noch nicht kapiert hat. Die Kenner der Religionen und Kulturen siedeln den Gegensatz nicht zwischen den Jüngern Jesu und denen Mohammeds an, sondern zwischen der aufgeklärten Privatreligion des Abendlands und der vor-aufgeklärten Religiosität von Moslems, die fanatisch werden, weil sie meinen, die guten Gebote Allahs müßten auch wirklich gelten. Ein feines Zeugnis stellen die Hüter der Aufklärung da ihrem Wertehimmel aus; das Schimpfwort, das sie für angebracht halten, heißt nicht Islam sondern Fundamentalismus. Diesen freilich führen auch sie völkerpsychologisch auf besondere Denkweise und Traditionen bzw. auf deren Fehlen zurück. Das rassistische: Die sind eben so – wir müssen uns dagegen wappnen!, kommt auch gebildet zustande.

Der Einheitsfront der abendländischen Zivilisations- und Glaubenskrieger seien hier einige Thesen über Herkunft, Zweck und Resultate des islamischen und sonstigen Fundamentalismus entgegengesetzt.

1.

Es ist verfehlt, den Fundamentalismus des Islam auf eine besondere Eigenschaft dieser Religion zurückführen zu wollen und sich dazu in das Studium des Koran und der arabischen Geistesgeschichte zu stürzen. Für sich genommen ist jede Religion fundamentalistisch: ein moralischer Wahn, der sehr apodiktisch von sich behauptet, theoretisch wahr und praktisch wirksam zu sein. Jede Religion aber läßt sich auch in so gut wie jede politische Herrschaft eingemeinden und sich zur moralischen, gut und böse sortierenden Instanz beliebiger gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse machen. In Sachen Verstandesverachtung, Größenwahn und Anpassungsfähigkeit bleiben sich die Weltreligionen nichts schuldig.

Noch jede Religion besteht darin, über der wirklichen Welt und ihren wirklichen Herren einen ausgedachten Allerhöchsten anzubeten. Nur ihm schuldet der Gläubige wirklich und unbedingten Gehorsam; nur seine Gebote stehen über aller Kritik. Dieser Gott ist in aller Regel[2] ein eifersüchtiger Gott – der Gläubige darf keine anderen Götter neben ihm haben: Allah u akbar – Allah ist groß, es gibt keinen Gott außer Allah! Der oberste Herr tritt allerdings nicht in Konkurrenz zu den Herren hienieden: Zum Aufstand ruft keine Religion auf – vielmehr verlangt Gott von seinen gläubigen Anhängern, daß sie nicht wegen der Macht der Mächtigen, sondern aus Respekt vor ihm und seinen Geboten, den weltlichen Machthabern, Königen und Staatschefs gehorchen: „Gib dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!“[3] Die weltlichen Herren sind auch nur Auftragnehmer des Höchsten und seiner Gebote; von ihm in die schwere Verantwortung des Herrschens eingesetzt. Der Kunstgriff theoretisch auch die Mächtigen der Welt zu Knechten des Höchsten zu machen und ihnen die wirklichen Untertanen gleichzustellen, die frei und letztlich auch nur Gott unterworfen sind, ist jenes Minimum von Demokratie, das nötig ist, um auch ganz ohne demokratische Regierungsformen, ohne geheime Wahl und Gewaltenteilung aus Herrschaft und Unterordnung eine sittliche Gemeinschaft zu formen und dem Knecht eine Würde zu geben. Religion als Glaubensgemeinde gelebt ist nicht nur die historische Urform des Patriotismus, sondern eine bleibende Grundlage dafür – unabhängig von jeder Produktionsweise, brauchbar und abrufbar für jede.

Das Verhältnis zu Gott macht alles zu Pflicht und Dienst – „Dein Wille geschehe“ nicht unser eitles Wollen! – und zum bewußten Ertragen eines Loses, das sich der Gläubige nicht herausgesucht hat. „Kismet“ sagt der Moslem. Die frei bejahte Selbstbeschränkung entgilt die Religion mit einem jenseitigen Lohn im ersten oder siebten Himmel und mit dem diesseitigen Recht, die entsprechende Bereitschaft auch von den anderen Gotteskindern zu verlangen. Ob die gottgefällig handeln, ob sie Gehorsam, wenn höherstehend, Solidarität und Mitleid, wenn in Not, verdienen, das sind so die Fragen, die Christ und Moslem umtreiben. Zu ihrer Beantwortung brauchen sie allerdings ihre Schriftgelehrten.

Denn die Gebote, die der jeweilige Höchste vor vielen Jahrhunderten erlassen hat, lassen sich so einfach und direkt auf das Hier und Jetzt gar nicht beziehen. Und das noch nicht einmal nur deswegen, weil der Belesene in den dickleibigen Heiligen Schriften zu jedem Gebot seine Ausnahme und auch das entgegengesetzte Gebot finden kann, sondern weil es ganz grundsätzlich nicht so klar ist, was aus den ganz klaren Geboten zur Keuschheit, zur Mäßigung, zur Achtung vor dem Alter und zum Teilen mit den Armen so genau folgt. Verlangt Gott, daß wir teilen wie der heilige Martin, der dann selbst keinen Mantel mehr hatte, oder zur Weihnacht der Hungerhilfe einen Fünfer spenden? Folgt aus dem Solidaritätsgebot „Charity“ oder die soziale Marktwirtschaft oder gar Sozialismus? (Letzteres wahrscheinlich am wenigsten, weil es der guten Tat das Objekt raubte; es trifft sich gut fürs Almosengeben, daß es im Einzugsbereich aller Religionen reichlich Arme gibt!) Die Anwendung der Gebote auf die Gegenwart will gelernt sein: Daß man mit der Bergpredigt und dem Gebot „Du sollst nicht töten!“ keine Sicherheitspolitik betreiben kann, leuchtet deutschen Christen ein, die so gerne die andere Backe hingehalten hätten; denn die unüberbietbare Gerechtigkeit des Prinzips Auge um Auge, Zahn um Zahn, ist auch nicht zu widerlegen. Der Moslem weiß, daß wer sich im Krieg opfert, als Märtyrer sofort in den Himmel eingelassen wird – freilich nur, wenn es ein gerechter Krieg war; sonst ist er ein Räuber und Mörder. Wenigstens müssen gottesfürchtige Herrscher den Krieg zur Ausbreitung und Verteidigung des wahren Glaubens führen, was dann natürlich prompt und so reichlich passiert, daß alle Seiten nur noch wahre Teufel gegen sich haben und zum Beispiel Iran und Irak den Dschihad gegeneinander führten.

Die Kunst der Auslegung ist nicht nur verlangt wegen der Abstraktheit der Gottesgebote, sondern auch umgekehrt wegen unpassender Konkretion höchster Verordnungen: Der Prophet des Islam, aber auch Dr. Martin Luther – beide konnten ja wirklich noch nicht wissen, wie eine moderne Wirtschaft funktioniert – haben sich zu einem recht eindeutigen Zinsverbot hinreißen lassen. Daß der Geldsack, der es übrig hat, eines hingibt und zwei zurücknimmt, erschien ihnen als Gipfel der Ungerechtigkeit. Hier müssen die Gelehrten Wege finden, das konkrete Gebot zur Metapher herabzusetzen – nur überhöhte Zinsen sind Wucher und eine Sünde! – oder seinem Wortlaut Genüge zu tun, ohne die wachstumsfördernde Fremdfinanzierung von Geschäften zu behindern.[4] Alle Macht der Anwendung der absolut gültigen göttlichen Gebote auf die Gegenwart – und damit alles Urteilen und Verurteilen im Namen des Höchsten fällt in die Macht und in die Kasuistik der „Hüter des Wortes“.

2.

Die Politisierung des Islam entspringt nicht einer besonderen, von der Privatreligion des Westens verschiedenen Rolle der Religion in arabischen und nahöstlichen Staaten. Hier wie dort ist die Religion mindestens eine, oft die gültige Interpretation von Rechten und Pflichten. Die bestallten Unter- und Oberhirten beurteilen die Gottgefälligkeit des Handelns von Herr und Knecht. Sie wissen sich als die Agenten der ideellen Gemeinschaft, die der wirklichen ihr Recht zuweist; sie dirigieren die Volksmoral und organisieren den jeweiligen lokalen Patriotismus. Die weltlichen Herren wissen in aller Regel die Macht der geistlichen Herren zu schätzen – und organisieren im Okzident wie im Orient eine wunderbare Symbiose von geistlicher und weltlicher Macht. Beide nützen sich, indem sie der anderen dienen.

Der König, die Republik, aber auch siegreiche antikolonialistische Nationalisten ernennen sich zum Schutzherrn der lokalen Religion und stellen ihre Macht in den Dienst an ihr und ihren Werten.[5] Sie bauen Kirchen und Moscheen, organisieren den pekuniären Unterbau des Überbaus, treiben Kirchensteuer ein oder bezahlen die Würdenträger aus dem Staatshaushalt und ordnen Religionsunterricht an, mit dem sie den Pfaffen und Mullahs Zugang zur Jugend verschaffen. Beim Ehe-, Familien- und Abtreibungsrecht macht sich die weltliche Macht gerne direkt zum ausführenden Arm religiöser Gebote. Ob direkt als Staatsreligion eingerichtet oder mit einer formellen Distanz beider Seiten – der Staat sorgt für die Bezahlung der Unkosten des religiösen Zirkus und verschafft den Gottesmännern jene Präsenz im Volk und jenen Zugriff auf es, die sie erst zu den Lenkern der Volksmoral qualifizieren.

Mehr als alles andere sind es diese Leistungen des Staates für sie, die die geistlichen Herren davon überzeugen, daß sie es mit einer gottesfürchtigen Staatsführung zu tun haben, die ihren Segen verdient. Mit diesem Segen dienen sie dann wieder dieser: Sie erteilen ihr den göttlichen Auftrag zu ihrem Wirken. Die Richter über das höhere Gut und Böse stellen sich ideell über die politische Macht und bewerten diese an ihren Maßstäben: Die Mächtigen müssen Gott dienen, dann sorgen die religiösen Führer dafür, daß das niedere Volk den Mächtigen dient. Alles Wirken der Staatsmacht, alle Konflikte in der Gesellschaft werden Gegenstand des religiösen Gerichtsverfahrens – in Predigt und Hirtenbrief wird das Urteil mitgeteilt: Ob Atomkraftwerke in Ordnung gehen und die Raketenrüstung; ob Frauen den Führerschein und das Abitur machen sollen, ob die Armut der schwierigen Lage der Nation angemessen ist oder langsam zu schlimm wird – alles das entscheiden die Gottesmänner mit ihren paar moralischen Grundsätzen. Das ist natürlich geheuchelt: Auch die religiösen Meinungsführer politisieren, sie sehen die Nöte und Ziele der Regierung ein oder nicht, und lassen dann trotz unschöner Erscheinungen die gute Absicht gelten oder eben nicht. Wenn aber sie – nicht anders als die Laien auch – politisieren, dann beanspruchen sie dafür die Autorität von Bibel, Koran etc.

3.

Die Religion ist für alles zuständig; sie kritisiert viel – eben weil sie legitimiert. Für ihre Ermahnungen fordert sie Gehör; um sich damit durchzusetzen, darf sie nicht konfliktscheu sein. Zum Gegner der Staatsmacht aber wird die Religion, wenn sie sich, d.h. ihre Rolle als Organisator der ideellen Volksgemeinschaft gefährdet sieht – und deshalb die sittliche Gemeinschaft selbst, auf die sie das nationale Zusammenleben gegründet wähnt. In diesem Fall beharren Gottesmänner darauf, selbst die wahren Repräsentanten des Volkes zu sein, und bezichtigen die Regierung nicht nur der Sünde wider den Allerhöchsten, sondern des Volks- und Landesverrats. Mit ihrer gottlosen Orientierung an volksfremden Werten schwächen die politischen Eliten die sittliche Gemeinschaft, untergraben die nationale Identität und liefern die Heimat einem feindlichen Ausland aus.

Wie andere kulturelle oder rassistische Überhöhungen staatlicher Gewalt stellt auch die Religion das Verhältnis von politischer Macht und Staatsbürgermoral auf den Kopf. Sie lebt die Einbildung, die von ihr organisierte Moralität des Volkes und das darauf gegründete Zusammengehörigkeitsgefühl seien die wahren Staatsgrundlagen; der äußere Machtapparat nur das ausführende Organ der geistigen Identität. Die Gläubigen und ihre Vorbeter fühlen sich wohl und daheim in ihrer Nation, solange sie selbst sich diese Einbildung abnehmen – damit verkraften sie alle Härten des Regiertwerdens –, und sie nehmen sich ihre Einbildung ab, solange der wirkliche Staat es ihnen erlaubt. Wenn die geistlichen Herren den Staat auf gutem Kurs wissen, glauben sie sich und ihm gerne, daß er aus ihrem Geiste handelt. Wenn das Staatspersonal gar zum Beten und beichten vorbeikommt, ist sowieso alles klar. Wenn sich aber im Land die Harmonie nicht einstellen will, die der Anstand und eine gottgewollte Lebensführung aller eigentlich herbeiführen müßten, und/oder wenn die Staatsmänner sich Versäumnisse beim Gottesdienst zuschulden kommen lassen, dann fragen sich die religiösen Führer, welchem Herren die Mächtigen eigentlich dienen. Angesichts der Enttäuschung ihrer Einbildung beharren sie auf ihr: Sie führen das Sündenregister der Machthaber und wenn sie sich erst einmal davon überzeugt haben, daß im Regierungspalast ein teuflischer Wille herrscht, sehen sich gerufen, sich als alternative Staatsführung aufzustellen. Dann predigen sie politische Alternativen im Namen des Glaubens und verstehen sich als fundamentale politische Opposition, dazu verpflichtet, in den Gang der weltlichen Gewalt im Sinne gottgewollter Herrschaft einzugreifen.[6]

Die Einsicht, daß die Staatsführung eine systematische Zerstörung der sittlichen Basis der Gemeinschaft betreibt und daß zur Rettung der Nation ein Umsturz nötig ist, kann sich den religiösen Führern ganz verschieden aufdrängen. Iran und Algerien, die beiden prominentesten Fälle fundamentalistischer Politisierung, sind Beispiele dafür.

„Der Islam ist Politik… Ich gehöre nicht zu den Mullahs, die nur herumsitzen und mit ihrem Rosenkranz spielen. Ich bin auch nicht der Papst, der nur sonntags religiöse Zeremonien veranstaltet. Selbstverständlich werde ich mich überall einmischen.“ [7]

Ajatollah Chomeini in Persien hat diese Erkenntnis auf die denkbar einfachste Weise gewonnen: Vater und Sohn Pahlewi wollten einen säkularen Staat nach dem Vorbild der erfolgreichen Mächte Europas errichten und gingen die Modernisierung mit einem Kulturkampf gegen die überkommenen Autoritäten und Würdenträger an: Sie verboten so ziemlich all die Sitten, die die Mullahs im Namen des Koran geboten hatten: Die Verschleierung der Frauen, die religiöse Tracht, die Abgaben, die die Koranschulen finanzierten usw.:

„Mit der Parole der Königsliebe werden unsere religiösen Heiligtümer beleidigt… Königsliebe bedeutet Plünderei, Schändung des Islam, Mißachtung der Rechte der Gläubigen, Verachtung unserer Gesetze, Schmähung des Koran, Ausrottung der Geistlichkeit und Vernichtung der heiligen Botschaft. Die Grundsätze des Islam befinden sich in Gefahr, unser Glauben befindet sich in Gefahr, die Wahrheit muß ausgesprochen werden. Wer jetzt schweigt, sündigt gegen Gott.“ [8]

Ein König, der in einem islamischen Land die geistliche Autorität und das innere Band, das die Nation eint, mit Füßen tritt, will sie schwächen, ausländischen Mächten ausliefern für den schändlichen Prunk, dem sie ihm dafür ermöglichen: Der König ist ein ausländischer Agent!

„Diese Regierung hat uns verkauft, sie hat unser Land verkauft und diesen Verrat auch noch gefeiert… Das Parlament hat beschlossen, amerikanischen Militärberatern, ihren Familien und zivilen Mitarbeitern Immunität zu gewähren. Sie sollen in Zukunft vor Verfolgung verschont bleiben, gleichgültig, welches Verbrechen sie begehen … Wenn also ein amerikanischer Dienstbote, mitten im Basar, einen Ayatollah niederschießt und ihn anschließend mit Tritten verstümmelt, darf die iranische Polizei ihn nicht daran hindern, auch iranische Gerichte dürfen ihn nicht verurteilen. Ein Iraner wird minder bewertet als ein amerikanischer Hund. Denn wenn einer von uns einen amerikanischen Hund überfährt, wird er dafür bestraft. Wenn aber der Koch eines amerikanischen Generals den Schah überfährt, kann ihn niemand bestrafen… Sollen wir, weil wir ein schwaches Land sind, unter den Stiefeln der Amerikaner zermalmt werden?“ [9]

Den zahlreichen Opfern der persischen Modernisierung, die aus ihren alten Verhältnissen herausgerissen, für den Ölreichtum des Landes aber nicht gebraucht wurden, machte die Bewegung der Ajatollahs das Angebot, sich ihr Unglück aus der Pflichtverletzung der Pahlewis gegenüber der islamischen Nation zurechtzulegen – und für die Wiederherstellung ihrer Würde einzutreten. Eine Sozialbewegung war der dafür unternommene Kreuzzug nicht.

In Algerien hat sich der Glaube über einen ganz anderen Weg zum alternativen Nationalismus entwickelt. Der Sozialismus der antikolonialen Revolution sah sich durchaus im Bunde mit dem Isalm; die Befreiung von den fremden christlichen Herren setzte auf den tätigen Nationalismus einer algerischen Identität. Houari Boumediène, Führer der „algerischen Revolution“ von 1965 bis 1978, wollte einen „starken, autoritativen, sozialistischen und islamischen Staat“.

„Er liebte es zu wiederholen, ‚daß die, die vom Islam sprechen, die Avantgarde der sozialistischen Revolution seien. Die wahre Revolution könne nicht laizistisch sein.‘“ [10]

Die neue Regierung ließ Moscheen bauen wie nie zuvor – aber sie errichtete auch Industrien. Dafür verwendete sie die Erdölerlöse und Kredite, die ihr wegen dieser Einkommensquelle zuflossen. Mit Stahl- und Chemiewerken wurden sogenannte „industrialisierende Industrien“ errichtet, die nach und nach das ganze Land zum Industriestaat machen sollten. Erst als anfangs der 80er Jahre die Ölpreise fielen, Algerien darüber auch seine Kreditwürdigkeit verlor, zum Aufsichtsobjekt des IWF wurde und, um dessen Auflagen zu erfüllen, Lebensmittelsubventionen und -importe zusammenstrich, begann die Hetze der Prediger gegen Materialismus und Sozialismus.

Auch vorher schon hatte die neue Nation nur mit einem Teil ihres Volkes etwas anfangen können, ihn ausgebildet und im industriellen Aufbau eingesetzt. Ein wachsender Teil der rasch zunehmenden Bevölkerung hat sich ziemlich unberührt von den neuen Errungenschaften auf dem Land durchgeschlagen oder ist in die Städte des Küstenstreifens abgewandert, um sich am besseren Leben der Stadt zu beteiligen. Dort wuchsen die Slums und die Zahlen unbeschäftigter Jugendlicher. Alles das ging im nationalen Aufbruch als Unkost einer besseren Zukunft durch, solange eben die Aufbauversprechen und die Fortschrittsperspektive aufrechterhalten werden konnten. Erst seitdem das Land, eingezwängt in untilgbare Schuldenberge gegenüber dem Ausland, den Fehlschlag der Industrialisierung eingesteht und nun eben ohne Aufbauperspektive weitermacht, verliert die Partei, die den Staat geschaffen hat, die „nationale Befreiungsfront“, den Bonus, authentischer Vertreter der Nation zu sein – Pfründe und Lebensstandard ihrer Funktionäre gelten nicht mehr als der Lohn für den Dienst am nationalen Fortschritt und erscheinen deshalb als skandalöser und korrupter Reichtum mitten in der Armut. Elend, Beschäftigungslosigkeit und Verbrechen in den Slums erscheinen ihrerseits als korrespondierende Korrumpierung der menschlichen Basis der Nation.[11]

Die Kritik der Kleriker, die viele Anhänger findet, klagt nicht die ausgebliebene Industrialisierung ein, die eine neue Mannschaft besser anpacken müßte – alternative nationale Fortschrittswege sind seit dem Ende des Sozialismus diskreditiert –; sie kritisiert die Spaltung der Gesellschaft vom Standpunkt der anständigen Armut und gläubigen Gemeinde aus, einem Standpunkt, der frevelhafterweise von Fortschrittsgläubigen mit ihren europäischen Ideen verlassen wurde:

„Ein politisches Programm bietet der FIS kaum, um so klarer benennt er Schuldige an der Misere: die westliche Dekadenz und, so Madani, ‚die Entfernung des Volkes von den göttlichen Gesetzen‘.“ „Nach der sozialistischen Diktatur leidet die junge Generation an ideeller Leere. Sie ist auf der Suche nach einem Ausweg und findet ihn im Koran, dem Islam.“ „‚Wir brauchen die islamische Alternative. Wir werden eine islamische Macht aufbauen, deren Gesetze allein dem Koran und dem islamischen Recht, der Scharia, folgen.‘ (Abbassi el-Madani)“[12]

Die politisierenden Prediger nehmen die Armut, die Slums und den Müßiggang nicht gebrauchter Menschen – gar nicht so anders als im industrialisierten Norden – einzig als ein moralisches Verlottern dieser Gotteskinder zur Kenntnis. Den Grund dafür wissen sie: Verwestlichung, in dieser Diagnose des nationalen Identitätsverlusts fassen sich alle moralischen Verfehlungen zusammen: Sozialismus, Materialismus, Hedonismus, Individualismus etc. Der Grund des nationalen Niedergangs und dieser Niedergang selbst sind für die Moralfanatiker, die das Land auf die sittliche Einordnung seiner Untertanen gegründet sehen, ein und dasselbe. Und das Heilmittel steht fest: moralische Aufrüstung, sonst nichts!

Für diese Wende in der algerischen Politik haben sich die islamischen Integristen aufgestellt, eine Partei gegründet und sich wählen lassen. Daß diese Wahl dann von der Militärregierung noch vor ihrer zweiten Runde kassiert wurde, weil die Falschen im Begriff standen zu gewinnen, war der wahrscheinlich überflüssige, aber endgültige Beweis dafür, daß der FLN und seine Funktionäre nicht irregeleitete Algerier sind, sondern Abgesandte des Teufels, die ihre Macht- und Geldgier am Niedergang des wahren Algerien befriedigen. Für die Integristen war das der Übergang dazu, den Kampf um die Macht aufzunehmen.

4.

Wenn sich die Gläubigen in aller Gottergebenheit entschieden haben, daß das Leben unter der frevelhaften Staatsführung nicht mehr auszuhalten ist und Schicksalsergebenheit jetzt Sünde wäre, werden sie zur politischen Partei und planen den Aufstand. Sie hetzen das gute Volk gegen die Staatsmacht auf und werben für das wahre islamische Leben. Bei ihren Bemühungen um das Volk, dessen Anstand sie die Heimat wiedergeben wollen, müssen sie allerdings feststellen, daß die ungläubigen Teufel, die sie aus dem Amt jagen wollen, die stärkste Stütze ihrer Macht im gottlosen Leben des Volkes haben. Die Islamisten sehen sich vor der Aufgabe, einen von oben nach unten verrottenden Volkskörper zu heilen. Der Machtkampf, den sie anzetteln, richtet sich daher nur zur Hälfte gegen die Staatsmacht – zur anderen richtet er sich mit gezieltem und ungezieltem Terror gegen den sündigen Alltag.

Der fanatische Wille zur nationalen Wiedergeburt aus dem Glauben ist kein politisches Interesse, das neben anderen stünde und zu Kompromissen fähig wäre: Die Vertreter der beleidigten Volksidentität sehen sich nicht politischen Kontrahenten mit einem anderen Regierungsprogramm gegenüber, sondern Verbrechern an der islamischen Volksgemeinschaft. Sie haben das Böse selbst vor sich, das keinen anderen Sinn haben kann, als ihren Gott zu beleidigen. Dieses Böse haben sie zu bestrafen und auszurotten.

Differenzierung erfährt die Bewegung über eine Frage, die unvermeidlich aufkommt, wenn die Religion, der Hort des reinen Guten, in die Niederungen des Machtkampfs hinabsteigt: Wie bekommt man das gute und zugleich moralisch verwahrloste Volk hinter sich? Die einen, die Prediger und Vorbeter, bleiben gleich in ihren Moscheen und hetzen gegen die gottlose Regierung. Von den dadurch motivierten politischen Aktivisten ist es in Algerien der FIS, der sich als – verhinderte – parlamentarische Partei sieht und mit dem Terror direkt nichts zu tun haben will, den er „versteht“. Er wirbt das normale Volk für den Umsturz und knüpft dazu an dessen Anstand und dessen Nöte an. Er propagiert den „Islam als Lösung“, indem er auf den niederen Ebenen der Staatsverwaltung, auf denen er sich festsetzen konnte, ein vorbildlich gottgefälliges Leben aufzieht mit Armenspeisung und Sittenstrenge.[13]

Die radikaleren Teile der Bewegung halten sich weniger an die werbende Güte als an die Gerechtigkeit ihres frommen Aufstands: Sie bekämpfen die Verwestlichung an all denen, die sie dafür haftbar machen. Zwischen Polizei und Militär, die den Machtkampf gegen die Islamisten am Gesetz vorbei als Ausrottungskrieg führen, und anderen Beispielen von Sittenlosigkeit unterscheiden sie nicht groß. Sie ermorden Schulmädchen, die erstens eine weltliche Ausbildung anstreben und zweitens keinen Schleier tragen; Ausländer, die die alte Vormacht Europas verkörpern und mit dem Vorbild ihres ruchlosen Lebensstils die islamischen Sitten des Volkes verderben. Auf ihrer Abschußliste stehen Lehrer an Schulen und Hochschulen, die mit ihrer westlichen Wissenschaft die Weisheit des Koran aus dem Staatsleben verdrängt haben; Journalisten, als Hort des Laizismus und westlicher Staatsauffassung, sowie alle Träger und Einrichtungen öffentlicher Volksbelustigung: Fernsehleute, Filmemacher, Schauspieler und Intendanten; Musiker, die die falschen Texte singen und die falschen Töne spielen. Darüberhinaus gerät der algerische Normalbürger ins Visier, der sich zur Geschäftszeit auf belebten Plätzen herumtreibt. Das ganze Leben, mit seinem Kaufen und Verkaufen, der Kaffee im Kaffeehaus und die Zeitung – alles Sünde. Autobomben auf belebten Plätzen teilen dies dem genußsüchtigen Volk mit. Die Angst vor dem islamischen Strafgericht soll das Volk bekehren und es zum Instrument gegen die Staatsmacht formen.

5.

Wenn die gläubigen Retter der Nation die Macht erobert haben, dann setzen sie im Besitz der Staatsmacht den moralischen Terror fort, mit dem sie um die Macht gerungen haben. Das ist die Reform, die sie meinen. Die ökonomischen Lebensmittel der Nation, die sie erben und irgendwie verwalten, sind nicht ihr Thema.

Das Beispiel des durchgesetzten islamischen Staats bietet der Iran. Ein Heer von Revolutionswächtern hat nach dem Sieg über den Schah erst einmal alle politischen Alternativen zu Chomeinis Kurs, insbesondere alle Kräfte, die den Aufstand im Namen Allahs als Schritt in Richtung irgendeines Sozialismus mißverstanden haben, ausgerottet und nach dieser Seite hin das Werk des Schah vollendet. Seitdem wacht das Heer über die Moral des Volkes, über das Alkoholverbot, über die Pflicht, den Tschador zu tragen, und setzt die barbarische Gerechtigkeit der Scharia durch. Es kümmert die moralischen Saubermänner wenig, daß ihr Terror gar nicht mehr die geglaubte Sittlichkeit stärkt, sondern nur Furcht und Schrecken verbreitet und damit den Kotau vor den Forderungen der weltlichen Macht erzwingt.[14] Aber dieser Unterschied kümmert ja auch westliche Fans von Law & Order nicht, denen das erfolgreiche Anstandsregime zweifellos Eindruck[15] machen würde, wenn sie nur einen Augenblick lang die Fremdartigkeit dieser Moral vergessen könnten.[16]

Fabriken und Ölquellen, die die islamische Macht geerbt habt, werden in „sozial verantwortlichem Privateigentum“ irgendwie weiterbetrieben,[17] ihre Entwicklung zählt nicht zu den Anliegen der gläubigen Revolution. Wieviel Rücksicht auf das niedere Volk die soziale Verantwortung verlangt, was hingegen auch die islamische Staatsmacht der Kosten-Ertragsrechnung nicht abverlangen kann, entscheidet die hohe Geistlichkeit. Ob dabei die Eigengesetzlichkeiten des Kapitals und die internationale Zuverlässigkeit als Geschäftspartner immer gewahrt bleiben, darf bezweifelt werden – und wird bezweifelt von den Sachwaltern des Weltmarkts. Dabei braucht sich die islamische Revolution gar nicht bewußt gegen die Prinzipien der Gewinnwirtschaft zu wenden; wo gerade der Eifer gegen die ererbten Sünden des nationalen Ausverkaufs und des Imports verbrecherischer Sitten tobt, wo also Rücksicht auf die sogenannten weltwirtschaftlichen Sachzwänge als Grund des Niedergangs ausgemacht wird, da leben Sachverständige und Pragmatiker gefährlich, die den Mullahs sagen wollen, was geht und was nicht. Wo es um die Gottgefälligkeit des Wirtschaftens geht, hat nicht der Sachzwang, sondern der Sachverständige Gottes das letzte Wort.

6.

Für die Mächte, die Welt und Weltmarkt beherrschen, ist der islamische Fundamentalismus als Oppositionsbewegung wie als islamischer Staat ein Feind. Daß man auch diesen Staaten ihr Öl abkaufen und manche Fabrik verkaufen kann, zählt da wenig.

Mag die geschäftliche Benutzbarkeit des islamischen Staates und seiner Wirtschaft in den westlichen Hauptstädten zweifelhaft gefunden werden, keinen Zweifel gibt es bezüglich der Feindschaft, die man diesem Staat entgegenbringt. Die Umkehrung des Verhältnisses von Staatsmaterialismus und Staatsmoral, die in diesem Staat stattgefunden hat, nehmen die westlichen Fachleute der Weltordnung so zur Kenntnis, daß sich dort ein neuer Geist aufgeschwungen hat – und zwar ein anti-westlicher. Mit ihrem frommen Antiimperialismus erklären sich die Islamisten selbst zum Feind. Sie weigern sich, „unsere Werte“ als vorbildlich anzuerkennen und ihnen zu folgen. Sie geben zu erkennen, daß sie sich, wenn überhaupt, nur widerstrebend auf die Spielregeln „unseres“ Weltsystems einlassen. Weil sie sich nicht einordnen wollen, weil sie nicht rechnen wie „wir“ und die von „uns“ kontrollierten Staaten, sind sie unberechenbar und ist ihnen alles zuzutrauen: Terror in unseren Städten, Missionierung unserer Ausländer und neue Glaubenskriege.

Der Iran hat, kaum war der Schah gestürzt und die Macht der Mullahs gegen andere Fraktionen der Revolution gefestigt, einen Krieg gegen den Irak geführt, bei dem das Ziel der territorialen Eroberung und das der Mission nicht klar geschieden waren. Nachdem die Kinder, die der Iran als Märtyrer in den Krieg geschickt hatte, an der überlegenen Rüstung des Irak gescheitert sind, bemühen sich die Mullahs nun um Technologie-Importe und Kontakte zu potenten Lieferanten – allen voran zu Deutschland. Damit ist aber immer noch nicht klar, ob sie „normal“ werden oder ihrem religiösen Fanatismus nur die Mittel beschaffen.

Auf diese Unberechenbarkeit der islamischen Staaten und Bewegungen stürzt sich der Ordnungsstandpunkt der Hauptmächte – freilich nicht einheitlich. Die USA verfolgen schon immer und heute wieder mehr denn je das Ziel, die Mullahs im Iran zu stürzen. Die alte Schmach, als Besatzungsmacht aus dem Land geworfen worden zu sein, wirkt da nach, vor allem aber trägt der Iran genauso wie der Irak zur Instabilität des US-kontrollierten Nahen Osten bei: das macht die USA zum unversöhnlichen Feind der Mullahs: Gegen Iran und Irak betreiben sie ein „dual containment“. Deutschland dagegen pflegt gar nicht so geringe Kontakte mit dem Land der Mullahs, hat mit ihm viel Geschäft laufen und auch schon eine Diskussion über Universalismus oder Kulturgebundenheit der Menschenrechte angefangen. Im anderen Fall stützen Frankreich und die EU das algerische Militärregime ziemlich unbedingt gegen die Fundamentalisten, die den dortigen Staat zu übernehmen drohen; die „Stabilität des Mittelmeerraumes“ ist der alles entscheidende Gesichtspunkt. Diesmal fordern die USA den Dialog mit den gemäßigten Kräften des FIS und wollen „den Islam nicht diskriminieren“. Als Bedrohung für das kapitalistische System der Weltmächte, das sie gegen die islamischen Glaubenskrieger zu einem neuen Kreuzzug einigen und ihre Konkurrenz untereinander unterbinden würde, ist der gläubige Antiimperialismus halt doch ungeeignet: er ist kein politisches Weltsystem; die Nationen und Bewegungen, die sich dazu bekennen, verfügen erstens nicht über die entscheidenden industriellen und militärischen Machtmittel, um den Westen herauszufordern, und sind zweitens untereinander zerstritten. Sie bleiben ein Gegenstand der Konkurrenz und ein national verschieden wahrgenommenes Ordnungsproblem im „Krisenbogen von Marrakesch bis Karatchi“, wie unser Generalinspekteur Naumann das ausdrückt.

Die innenpolitische Dimension des Ordnungsproblems wird von den Mittelmeeranrainern der EU, aber auch von Deutschland nicht weniger ernst genommen: Droht da eine feindselige Politisierung „unserer“ Ausländer? Neben den Verfassungsschutz, der Ausländerextremismus unter Kontrolle hält, und neben die Ausweisung fundamentalistischer Aktivisten tritt der Versuch, dem falschen Aufschwung der Religion auf dem geistigen Feld entgegenzutreten. Gegen die Koranschulen, die eine für den Staat nicht mehr funktionale Religion predigen, setzt das Land Nordrhein-Westfalen jetzt einen islamischen Religionsunterricht, in dem der Staat für die richtige Auslegung des Koran sorgt. Man nimmt den Kulturkampf im Erziehungswesen auf und sorgt für eine Gegenmanipulation, die der Religion ihren Platz als Diener der Macht zuweist.

[1] Es besteht die Gefahr, daß sich der Westen nach Fortfall des bolschewistischen Imperialismus aus Unkenntnis ein islamisches Feindbild schafft, das islamische Völker, Eliten und Führer zu einer Konfrontation provozieren kann. (Helmut Schmidt, Die Zeit 2.4.1993)

[2] Noch nicht einmal der Hinduismus und die Shinto-Religion der Japaner, die statt des einen Gottes gleich einen ganzen Kosmos von Geistern kennen, sind weniger geeignet für die Heiligung und Überhöhung des modernen Kapitalismus und die Schulung seiner Volksmoral.

[3] Selbstverständlich verlangt auch der Koran den Gehorsam gegenüber der weltlichen Macht. Chomeini, der im Namen der Religion zum Aufstand aufruft, muß gegen dieses Gebot ankämpfen: Der Schöpfer hat bestimmt, daß man ihm, dem Propheten und dem Herrscher gehorcht. Wer ist nun mit diesem Herrscher gemeint? Manche sind der Ansicht, daß damit die Könige gemeint sind. Gott habe die Menschen verpflichtet, Herrschern und Königen zu gehorchen, sagen sie. Wie kann aber der Schöpfer, der seinen Propheten, mit Tausenden von Bestimmungen ausgerüstet, auf die Erde sandte, um Gerechtigkeit walten zu lassen, den Gläubigen befehlen, beispielsweise einem Atatürk zu folgen, von dem alle wissen, welche Verbrechen er begangen hat, oder einem Pahlewi Gehorsam zu leisten, dessen Vergehen gegen Gott und den Koran ein ganzes Buch ausfüllen würden… (Amir Taheri, Chomeini und die islamische Revolution, Hamburg 1985, S. 30)

[4] „Frage: Was hat es mit dem Zinsverbot im erhabenen Koran auf sich? Antwort: Der an 7 Stellen im Koran vorkommende riba, der in der traditionellen Literatur als Zins übersetzt wird, bedeutet seinem Wortsinn nach einen Überschuß auf ein Kapital. Wenn wir die anderen Vorkommen im Koran, die sich mit ungerechtfertigtem Gewinn, mit Gewinn, der keinen Gegenwert in Arbeit besitzt, beurteilen, könnten wir riba als eine Art des Zuwachses bewerten, der keinen Arbeitsgegenwert in einer Ware, in Geld oder in einem Vermögen besitzt. Feststeht, daß nur eine Dimension von riba Zins ist. Jede Art von Zuwachs, dem keine Arbeit entspricht, ist riba. In diesem Falle ist Zins, wie es riba wäre, unstatthaft. Jeder Begriff von Zins, der anders gesagt auch im Sinne von „Rente“ gebraucht wird, entspricht allerdings nicht riba. So wie der Begriff Zins riba bedeuten kann, gibt es auch Vorgänge, an die mit dem Wort Zins gedacht wird, bei denen es sich nicht um riba handelt. In heutigen Wirtschaftssystemen insbesondere unter den Bankzinsen keinerlei Unterschied zu machen, nur auf die Wörterbuchentsprechung zu schauen und sie als riba zu kennzeichnen, wird dem Koran nicht gerecht. Angesichts von Inflation und Geldwertverlust können die Gewinnanteile, die Banken und ähnliche Organisationen unter dem Namen Zins ausgeben, nicht jederzeit unter den Begriff riba gefaßt werden. Denn es handelt sich hier nicht um einen ungerechten und unvernünftigen Zuwachs, sondern im wesentlichen darum, das Geld eines Sparers vor Wertverlust zu schützen. Dies als riba zu bezeichnen, im Namen der Verhinderung eines ungerechtfertigten Gewinns dem Koran eine ungerechte Wertverkürzung aufzurechnen, ist eine Sünde so groß wie riba selbst.“ (Öztürk, Yasar Nuri, Der Islam, wie er im Koran steht, Istanbul 1993, S. 450 f.) Islamische Banken machen ihre Geldanleger gerne juristisch zu Teilhabern, sie investieren dann in „Projekte“ und werden mit „Gewinnbeteilungen“ oder einem „Risikozuschlag“ – beides vom Koran nicht verboten – entgolten. Damit kein Zins fließt.

[5] Ende Mai 1994 hat das Land Niedersachsen parteiübergreifend und mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, den Herrgott in die Präambel der Verfassung zu schreiben. Eckard Spoo berichtet in der FR vom 1.6.1994 von der Debatte im Landtag: … Gottesbezug als Bindung des Verfassungsrechts an die ‚abendländischen Werte‘ oder an die ‚westliche Kultur‘… Der nichtchristlichen Minderheit werde ‚nichts aufgezwungen, zu dem sie sich nicht verstehen kann‘… Das Gewissen brauche einen ‚transzendentalen Bezug, der es unverletzlich macht‘… Der Bischof: ‚Es liegt im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger Niedersachsens, die Unverfügbarkeit der fundamentalen Rechte zu sichern. Diese Unverfügbarkeit scheint mir nicht besser zum Ausdruck zu kommen als durch den Verweis auf die Verantwortung vor Gott.‘

[6] Weil sie beim Islamismus den Fall der politisch rebellischen Religion vor sich haben, führen westliche Kenner dieses Phänomen gerne auf eine politische Tradition des Islam zurück, die ihn tatsächlich vom Christentum überhaupt nicht unterscheidet: Es handelt sich nicht nur um ausschließlich religiöse Gefühle und Handlungen, sondern um zahlreiche, sehr viel weitreichendere kulturelle Elemente, die vom Islam geheiligt werden; sie betreffen, wie es immer wieder gesagt wird, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und des Alltags, die oft auch dann fortbestehen, wenn der Glaube verschwindet. … Was sich ferner erhalten hat, ist die fest verankerte Vorstellung, daß der Islam nicht nur einen Weg zum Heil anbietet, sondern (für viele sogar vor allem) ein Ideal der gerechten Gesellschaft, die auf Erden zu verwirklichen ist. Vor einem skandalösen Akt der Gewalt, vor offensichtlicher Ungerechtigkeit rufen Moslems oft aus: Was? Es gibt keinen Islam mehr! (Maxime Rodinson, Islam: politique et croyance, Fayard, 1993, S. 35f) Daß sie nur Rezepte fürs Seelenheil bieten und über die wirkliche Welt nichts zu vermelden haben, lassen sich die christlichen Kirchen nicht nachsagen. Der Unterschied zu den islamischen Fundamentalisten besteht nicht in einem hie Jenseits, da Diesseits; der Unterschied besteht darin, daß die christlichen Gottesmänner mit ihrer kapitalistischen Heimat alles in allem zufrieden sind, daß Rechtsstaat und Privatwirtschaft ihnen als Tummelplatz für die Freiheit eines Christenmenschen angemessen erscheint. Wenn und wo dies nicht der Fall ist, beherrschen auch Christen den Übergang zum „Fundamentalismus“: Beim Respekt vor dem ungeborenen Leben beschränkt sich die katholische Kirche nicht auf private Bekenntnisse und jenseitige Heilsversprechen; sie fordert das staatliche Verbot von Praktiken, die das Geschlecht zum Gegenstand der Lust und daher das Leben „verfügbar“ machen. Pille, Abtreibung, Pornographie etc. nehmen dem Menschen seine Würde und zerstören die sittliche Basis der Gesellschaft. Nicht alle Würdenträger beschränken sich darauf, vom Staat entsprechende Verbote zu fordern. Bischof Dyba in Fulda weiß längst, daß der Instanzenweg in einer gottlos gewordenen Welt nichts bringt. In den USA produziert die ProLife-Bewegung bei Anschlägen auf Abtreibungskliniken ihre ersten Toten; in Polen hat die eigentliche, die katholische Nation einen antikommunistischen Arbeiteraufstand im Namen der Schwarzen Mutter von Tschenstochau zustandegebracht und jetzt einen tief gläubigen und durchgedrehten Präsidenten …

[7] Chomeini, zit. nach: Nirumand, Bahman; Daddjou, Keywan; Mit Gott für die Macht, Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini, Hamburg 1989, S. 115

[8] ebd. S. 104

[9] ebd. S. 117

[10] Le monde 5.2.1995

[11] Wirtschaftliche Gründe waren, man muß das sagen, … nicht direkt verantwortlich für die Demonstrationen – obwohl ein starker Niedergang des Lebensstandards eine wichtige Rolle beim Hochkochen der Aufstände spielte. Die Algerier haben sich in den letzten Jahren, vielleicht zu sehr, an die staatliche Wohlfahrtspolitik gewöhnt, aber es wurde allgemein doch wahrgenommen, daß die Zeiten härter geworden waren, und daß man mit den Konsequenzen des gefallenen Ölpreises leben mußte… Was die Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert, ist, daß die oberen Glieder der FLN-Hierarchie weiterhin in einem Luxus lebten, der für den Rest des Landes völlig ungewöhnlich ist. (The Middle East, 11/1988) So erklärt sich ein Journalist die ersten Aufstände des FIS: die Armut war nicht der Grund, sondern die Ungerechtigkeit. Wann aber erscheint der Reichtum der Reichen als ungerecht?

[12] Der Spiegel 24/1990. Abbassi el-Madani ist einer der zur Zeit inhaftierten Führer des FIS.

[13] Eine ähnliche Propaganda durchs Vorbild wird von den ägyptischen Moslembrüdern berichtet: In Oberägypten und in den Elendsvierteln Kairos, wo die staatlichen Institutionen auf sozialem Gebiet vor allem aufgrund von Korruption und Bürokratismus total versagt haben, bauten die Islamisten ein soziales Netz auf. Die Opfer von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialem Elend erhielten von den Islamisten nicht nur Versprechungen für die Zukunft, sondern Dienstleistungen, die ihre Ideologie attraktiver machten. Krankenstationen, Schulen, Bibliotheken und andere soziale Einrichtungen waren aktiv, wo der Staat fehlte. Diese Aktivitäten waren von scharfen Angriffen gegen den korrupten Staat und mit der Losung: ‚Der Islam ist die Lösung‘ begleitet. (Husseini, Abdul Mottaleb, FR 20.12.1994)

[14] Nirumand entdeckt den Unterschied und triumphiert billig: Doch Chomeinis anachronistische Vorstellungen ließen sich selbst unter Einsatz massiver Gewalt nicht wirklich durchsetzen. Hinter dem Rücken der Mullahs lief das andere Leben weiter … Frauen wissen inzwischen ihre islamische Zwangskleidung, den Tschador, so zu gestalten, daß sie darin anziehender wirken als Damen mit tiefen Dekolletes. (Nirumand, S. III)

[15] Im Norden der vom Bürgerkrieg zerstörten Hauptstadt Mogadischu herrscht bereits das islamische Recht, die Scharia. Seit eine Gruppe von Geistlichen unter Scheich Sharif Muhidin im August ein religiöses Tribunal gegründet hat, wurden auf dem staubigen Platz nahe dem alten Hafen mehr als 150 Prügelstrafen öffentlich vollstreckt, in etwa einem Dutzend Fällen wurde Räubern eine Hand oder ein Fuß abgetrennt. Ein wegen Mordes und Vergewaltigung zum Tode verurteilter junger Mann wurde öffentlich gesteinigt. Der Stadtteil, der dem selbsternannten somalischen Interimspräsidenten Ali Mahdi Mohammed untersteht, war früher eine der gesetzlosesten und gefährlichsten Gegenden der Welt; heute kann man hier sogar nach Einbruch der Dunkelheit noch spazieren gehen. ‚Nach 21 Jahren Diktatur und vier Jahren Anarchie hat das Tribunal für Ordnung gesorgt‘… In den Augen vieler Somalier sind die islamischen Fundamentalisten die einzigen, die der Anarchie ein Ende bereiten können. (Süddeutsche Zeitung 27.1.1995)

[16] Das ist überhaupt der wahre Gehalt der zivilisierten Empörung über den islamische Moralfanatismus: Nicht dem Fanatismus, sondern der fremden Moral gilt das Unverständnis. Es hieße freilich schon etwas zu viel verlangen, daß arabische Glaubenslehrer den Sittenverfall, den sie mit Feuer und Schwert aufzuhalten versuchen, am Maßstab „unserer“ Sitten feststellen sollten und nicht an dem der ihren. Gewiß ist die Stellung der Frau im Islam eine etwas andere als im Christentum, obwohl sie bis vor kurzem ja auch da dem „Manne untertan“ zu sein hatte und heute noch ihrer Rolle als Frau, Mutter, Trägerin ungeborenen Lebens gerecht werden muß. Aber der Terror gegen verwestlichte Frauen hat seinen Grund nicht in diesem Frauenbild – auch islamische Pfaffen passen es an die neue Zeit an, wenn sie dieser etwas abgewinnen können. Der Terror hat seinen Grund darin, daß die Gläubigen ihre kaputte Nation mit der rücksichtslosen Durchsetzung der überkommenen Sittlichkeit zu retten versuchen.

[17] In Algerien hat das revolutionäre Programm schier überhaupt keine wirtschaftspolitische Abteilung. Die Islamisten wollen das weitermachen, was die verwestlichten Teufel bisher getrieben haben: Das Programm des FIS ist wenig präzise und unterscheidet sich in seiner populistischen Heterogenität nicht vom Charakter der Programmatik der FLN. Zwar wird die ökonomische Rolle des Staates zugunsten eines sozial gebundenen Privateigentums und der Betonung der Rolle der Klein- und Mittelindustrie abgewertet, doch schenken sich beide Programme wenig im Hinblick auf den Beitrag der sogenannten Industrialisierungsindustrien ohne weitere Präzisierung, den Schutz der nationalen Wirtschaft vor internationaler Konkurrenz und die Betonung der Notwendigkeit moralischen Verhaltens der Wirtschaftssubjekte… Auch der FIS will staatliche Förderung, staatliche Überwachung und nur mäßigen Wettbewerb. (Elsenhans, Algerien, in: Handbuch der Dritten Welt 6, Bonn 1993, S.209)