Heinz Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (1)
Ein soziologisch-geschichtsphilosophischer Neuaufguss der Utopie einer gerechteren Welt

Heinz Dieterich gilt als Chefideologie der linken südamerikanischen Bewegungen. Mit seinem Programm eines ""Sozialismus des 21. Jahrhunderts"" nimmt er die Rolle eines Beraters lateinamerikanischer Linksregierungen wahr und findet als Theoretiker des dortigen ""Linksrucks"" Anklang unter hiesigen Linken.

Dabei erschöpft sich das, was Dieterich unter dem Schlagwort ""Sozialismus des 21. Jahrhunderts"" an Kritik und Argumenten ausbreitet, im Grunde in einem einzigen falschen, aber unter kritischen Menschen enorm verbreiteten Gedanken: Die kapitalistischen Zustände in der Welt sind ungerecht; das dürfte und müsste nicht so sein, wenn man sie nur gerechter einrichten würde. Und dieser Fortschritt ist – so versichert Dieterich unentwegt – auch machbar, im Kapitalismus angelegt und längst auf dem Vormarsch: Gerechtigkeit siegt. Aus diesem hoffnungsvollen Standpunkt verfertigt er eine falsche Kritik des Kapitalismus und des realen Sozialismus – sowie ein widersprüchliches Konstrukt einer neuen, besseren Welt.

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Heinz Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (1)
Ein soziologisch-geschichtsphilosophischer Neuaufguss der Utopie einer gerechteren Welt

Heinz Dieterich, emeritierter Professor an der Universität von Mexiko-Stadt,

„hat weder Familie noch Heimat, aber ein Ziel: die Revolution. Leuten wie Chavez und Castro liefert er die Theorie. Der deutsche Soziologe ist der Chefideologe der linken südamerikanischen Bewegungen. In Lateinamerika ist er ein Star, in seiner Heimat kennen ihn nur wenige. Mit Hugo Chavez hat er bis morgens um drei diskutiert. Er kennt den bolivianischen Präsidenten, Evo Morales und Rafael Correa, den Präsidenten Ecuadors so gut, dass sie ihn um Analysen bitten. Sie alle berufen sich auf seine Theorie des Sozialismus des 21. Jahrhunderts.“ (Die Zeit, 1.10.2008)

 Ein Soziologe also, der sich nicht mit empirischer Sozialforschung über ‚Armut‘, mit Theorien über die ‚Arbeitsgesellschaft‘, der ‚die Arbeit ausgeht‘, oder andere ‚Risiken der Moderne‘ nützlich machen will, sondern ganz anders: mit dem Modell einer besseren, sozialistischen Welt. Mit seinem Programm eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nimmt er die Rolle eines Beraters lateinamerikanischer Linksregierungen und -bewegungen wahr und findet als Theoretiker der dortigen Bemühungen um bessere Verhältnisse auch Anklang unter hiesigen Linken.

Dabei halten sich die theoretischen Auskünfte Dieterichs allerdings in Grenzen. Was er unter dem Schlagwort „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ an Kritik und Argumenten ausbreitet, erschöpft sich im Grunde in einem einzigen falschen, aber unter kritischen Menschen enorm verbreiteten Standpunkt: Die kapitalistischen Zustände in der Welt sind ungerecht; das dürfte und müsste nicht so sein, wenn man sie nur gerechter einrichten würde. Aus diesem Stoßseufzer aufgebrachter Gemüter verfertigt er eine Kritik des Kapitalismus und ein Modell einer besseren Welt.

Der Blick des Weltverbesserers auf den Lauf der Welt: „Die da oben – lauter Lumpen!“

Der Mann kennt das Elend, das die kapitalistische Weltordnung ihren Opfern beschert. Und er hat eine Erklärung dafür. Die erklärt allerdings, genau genommen, nicht die wüsten Sitten, die die Welt beherrschen: Dieterich räsoniert über deren nicht gelungene Beseitigung:

„Die menschliche Gattung hat die beiden großen Wege der Evolution durchschritten: den industriellen Kapitalismus und den historischen (realexistierenden) Sozialismus. Keinem von beiden ist es gelungen, die drängenden Probleme der Menschheit wie Armut, Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung ökonomischer, sexistischer und rassistischer Natur, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und das Fehlen einer real teilhabenden Demokratie zu lösen.“ (Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Berlin 2006, 1. Aufl., S. 15)[1]

Dieterich denkt Armut, Unterdrückung etc. als Probleme, die es einfach gibt, irgendwie, als Menschheitsschicksal; und die politökonomischen Systeme, die das 20. Jahrhundert beherrscht haben, betrachtet er nicht als Produktionsweisen, die solche Verhältnisse produzieren, sondern als fehlgeschlagene Versuche, ihnen beizukommen. Er redet von „Ausbeutung“ und „Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen“ und zieht von vornherein den „industriellen Kapitalismus“ – so wenig wie den „historischen Sozialismus“ – überhaupt nicht als Verursacher derartiger „Probleme“ in Betracht, sondern verbucht ihn als deren nicht gelungene Lösung. Sind denn die Verhältnisse, die da so vornehm als „drängende Probleme“ angesprochen werden, vom Himmel gefallen?

Nein, sind sie nicht, und natürlich sieht auch Dieterich das nicht so. Er kennt die Ursache der inkriminierten Verhältnisse:

„Die Menschheit ist in die Hände krimineller Eliten gefallen, die sich aus einigen Zehntausenden Bankiers, Industriellen, Berufspolitikern, Generälen und Berufspropagandisten zusammensetzt, welche die Ressourcen des Planeten und Früchte unserer Arbeit für sich nutzen. Sie monopolisieren die Vorteile aus Energie, Technologie, Wissenschaft, Nahrungsmitteln, Erziehung und Gesundheit und lassen die Mehrheit in Elend und Schutzlosigkeit vegetieren.“ (S. 127)

Dieterich kennt Schuldige, und damit sind die Elemente seiner kritischen Weltsicht beisammen. Der Mann sieht das Elend auf der Welt; er ist – wie jeder anständige Mensch, der die verheerenden Zustände nicht einfach gottergeben oder zynisch als gegeben hinnimmt – dagegen; er will wissen, wie Abhilfe zu schaffen ist und warum die auf sich warten lässt. Und an der Stelle fängt ein Denkfehler an, der deswegen so fatal ist, weil er von so vielen Leuten geteilt wird, die sich mit der gegebenen Weltlage nicht abfinden mögen. Schon die Kennzeichnung der herrschenden Zustände als Probleme der Menschheit führt in die Irre: Ganz offenkundig zerfällt diese Menschheit in sehr verschiedene Abteilungen, die mit dem Elend auf der Welt ganz unterschiedliche Probleme und zum Teil auch gar kein größeres Problem haben. Die „Menschheit“, die Dieterich als betroffenes Subjekt in Anschlag bringt, gibt es nicht – außer in einem ganz ideellen Sinn: Sie ist die Chiffre für die Allgemeingültigkeit, die Dieterich seinem Wunsch nach Abschaffung von Armut, Unterdrückung etc. beilegt. Natürlich wird er niemanden treffen, der sich begeistert für Hunger und Elend ausspricht; die „Eliten“ an erster Stelle werden ihm geschlossen bestätigen, dass das alles für sie auch furchtbar problematisch ist. Umso mehr wäre deswegen aber der Schluss fällig, dass dieser allseits bekundete gute Wille keine reale Größe ist, schon gar nicht die herrschende gesellschaftliche Zwecksetzung, nach der der Lauf der Welt sich richtet. Den Schluss zieht Dieterich auch – und er verweigert ihn zugleich, wenn er, als wäre das die Erklärung, auf den bösen Willen der oberen Zehntausend deutet. Damit hält er nämlich nur, jetzt dezidiert gegen die tatsächlich herrschenden Verhältnisse, seinen Standpunkt hoch, dass der Wille zur Weltverbesserung eigentlich doch der maßgebliche Zweck ist, dem alle Welt folgen sollte. Darauf besteht er so konsequent, dass er sogar die politökonomischen Systeme, nach deren Gesetzen die Welt des 20. Jahrhunderts eingerichtet worden ist, als große Wege der Evolution würdigt, auf denen die Menschheit versucht hätte, ihrer irgendwie doch naturwüchsigen Drangsale Herr zu werden: Er lässt den Gedanken einfach nicht an sich heran, dass die politökonomische Logik eines Systems wie des industriellen Kapitalismus, wenn auf diesem „Weg“ Verelendung und Unterdrückung um sich greifen, offenkundig ganz anderen, übrigens viel handfesteren Zwecken folgt als ausgerechnet dem Ziel, mit Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen fertig zu werden. Er will nichts davon wissen, dass der Grund solcher „Probleme“ in den da zu sachzwanghafter Herrschaft gebrachten Zwecksetzungen liegt und dort ermittelt werden muss, wenn man es mit deren Beseitigung ernst meint. Stattdessen trifft er eine äußerst unsachgemäße Unterscheidung zwischen den geheimnisvollen „Wegen der Evolution“ der Menschheit, die er als Großversuche zur Weltverbesserung im Prinzip auf seiner Seite weiß, und der tatsächlich herrschenden Elite, die er mit dem Vorwurf des kriminellen Missbrauchs aller Errungenschaften des menschlichen Fortschritts ins Abseits stellt. Dabei hält er nicht einmal für erklärenswert, wie die Menschheit es auf ihrem vielversprechenden Entwicklungsweg geschafft hat, diesen Kriminellen in die Hände zu fallen. Mit der ideellen Roten Karte, die Dieterich den wirklich Mächtigen dieser Welt zeigt, ist der Lauf der Welt fertig erklärt: Lauter Lumpen „da oben“ vergreifen sich am Bemühen der Weltgeschichte um Beseitigung all der grauenhaften Verhältnisse, die es nun mal gibt.

Um es noch mal ganz kurz zu sagen: Wenn man sich an den verheerenden Wirkungen der weltweiten Marktwirtschaft stört, dann muss man sich entscheiden. Entweder man nimmt den eigenen Abscheu ernst und geht den abscheulichen Verhältnissen auf den Grund, um da den einzig wirksamen Hebel zur Abschaffung dieser Verhältnisse anzusetzen. Oder man macht den Wunsch nach einer besseren Welt zum Vater aller kritischen Gedanken, malt sich eine Alternative aus und macht den wirklichen Machthabern den Vorwurf der Amtspflichtverletzung, weil sie sich der Verwirklichung dieser Alternative widersetzen statt so alle Probleme der Menschheit zu lösen.

Dieterich hat sich entschieden. Von den Gründen der beklagten Verhältnisse, also – was dasselbe ist – von den Leistungen der herrschenden Geschäftsordnung dieser Welt will er nichts wissen. Bei der Begutachtung der großen Wege der Evolution befasst er sich weder mit der zur gesellschaftlichen Realität geronnenen Zielsetzung der politischen Ökonomie des industriellen Kapitalismus oder des historischen Sozialismus noch mit der Notwendigkeit der schädlichen Konsequenzen für die große Mehrheit. In seinem Drang, die Welt zu verbessern, geht er davon aus, dass deren herrschende Ordnung im Prinzip dasselbe Anliegen haben müsste wie er und alle guten Menschen: die Welt besser zu machen. An diese wohlmeinende Unterstellung schließt er die verkehrte Frage an, warum die herrschende Ordnung das nicht schafft, was er von ihr erwartet. Die Antwort, die er findet, fällt entsprechend aus.

Der Kapitalismus: ein denaturiertes System ungerechter Bereicherung

Dieterichs Standpunkt, wonach die Verfassung der Welt eine Frage des guten Willens zu ihrer Verbesserung ist, gibt schon vor, wo er bei der Suche nach dem Grund unterbliebener Weltverbesserung fündig wird: Die Herrschenden sind bösen Willens; sie haben sich alle Errungenschaften der menschlichen „Evolution“ angeeignet, die eigentlich für die Lösung der Menschheitsprobleme gut und dafür da wären, und missbrauchen sie für ihren Egoismus. Dieterich erläutert diesen Gedanken an der politischen Ökonomie des Kapitalismus:

„Preise sind, im Gegensatz zum Wert, subjektive Größen, die heutzutage wenig mit Werten zu tun haben. Der Preis in der Marktwirtschaft ist das, was der Revolver beim Banküberfall ist. Wer in der Bank den Revolver hat, bekommt den (monetären) Reichtum; wer in der Marktwirtschaft die Preise bestimmen kann, bemächtigt sich des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Preise sind nichts anderes als legalisierte Expropriationsmechanismen des gesellschaftlichen Reichtums in der Chrematistik. Sie sind in der Tat der entscheidende Bereicherungsmechanismus der ökonomischen Elite, und als solche haben sie soviel mit Gerechtigkeit und Konsens zu tun, wie Adolf Hitler mit der Demokratie.“ (S. 158f)

So viel ist also auch für den Theoretiker der Weltverbesserung klar, dass die Macht der Bösen über die Welt auf gesellschaftlichen Mechanismen beruht, auf festen Einrichtungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Gewalt. Für die interessiert er sich aber ausschließlich unter dem vorgefassten Gesichtspunkt, dass die Herrschenden sie als Waffe für sich zweckentfremden. Seine gesamte Unterscheidung zwischen ‚Wert‘ und ‚Preis‘ hat allein diesen Inhalt: Die Kategorie ‚Wert‘ fällt unter die Rubrik der evolutionären Errungenschaften und geht voll in Ordnung; die Machthaber bösen Willens verfälschen das gute Ding zu ‚Preisen‘ und beuten damit die Menschheit aus. Ausschließlich in dem einen Sinn geht Dieterich dem in der Marktwirtschaft herrschenden Preissystem auf den Grund: Es ist nicht gerecht – damit ist alles gesagt.

Oder fast alles. Dieterich will nämlich als Wissenschaftler ernst genommen werden und verleiht seinem kritischen Moralismus die höheren Weihen einer Theorie, indem er sich auf Marx bezieht, gelehrte Ausdrücke wie „Chrematistik“ benutzt, seine Idee der Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse weitschweifig ausarbeitet und von da her zu so interessanten Einsichten gelangt wie der:

„Das Problem der ungerechten Ökonomie kommt nicht vom Geld.“ (Interview mit Dieterich, rebelión, 2.1.07)

Wäre das Ganze ein ernst gemeinter Erklärungsversuch, dann könnte man ihm entgegenhalten, wie in der Marktwirtschaft Wert und Preis tatsächlich zusammenhängen; dass im Geld der Wert als verselbständigtes Maß der privaten Verfügung über Reichtum und dass er überhaupt nicht anders existiert; dass die Aneignung und Vermehrung von Geld in Privathand daher der herrschende Zweck einer ‚Geldwirtschaft‘ ist; dass Verfügung über Geld in ausreichender Menge die ökonomische Macht verleiht, über fremde Arbeit als Mittel der eigenen Geldvermehrung zu gebieten; dass Ausbeutung also nicht über ungerechten Warentausch passiert, sondern in der Produktion; dass der Lohn den Wert der Arbeit für einen Arbeitgeber bemisst; und dergleichen mehr. Solche Erinnerungen treffen aber auf eine Theorie, die von Anfang bis Ende nur den einen Gedanken der Ungerechtigkeit transportiert. Und so gesehen hat der Mann irgendwie Recht: Man kann dem Geld, um dessen Vermehrung es im Kapitalismus geht, weil es private Verfügung über Reichtum verkörpert, viel nachsagen – für seine Vermehrung ist Unternehmern kein Lohn zu niedrig, keine gewinnbringende Schinderei lang genug, umgekehrt jede Einsparung an bezahlten Arbeitskräften im Dienste der Lohnkostensenkung recht. Dass aber das System kapitalistischer Geldvermehrung Dieterich als ungerechtes Verteilungssystem vorkommt, das „kommt“ wirklich nicht vom Geld. Das kommt von seiner Vorstellung, die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten der Profitproduktion, die ökonomische Macht des Privateigentums, kurz: der Kapitalismus wäre ein einziger Verstoß gegen die Gerechtigkeit einer ordentlichen Geldproduktion, eine chrematistische Denaturierung eben.

Beim Blick auf den Weltmarkt verschwindet der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital gleich ganz; da erschließt sich Dieterich ganz zwanglos eine ungerechtfertigte Aneignung etwas anderer Art. Da sind es nicht mehr die kapitalistischen Agenten, da sind es nationale Kollektive, Kapital und Lohnarbeiter der Metropolen gleichermaßen, die sich zu Lasten anderer Nationen aneignen, was ihnen eigentlich nicht zusteht:

„Die europäischen Industriestaaten sind nur Treuhänder der von allen Völkern der Erde unter unendlichen Opfern erkauften Industrialisierung, und sie betrügen durch den nicht-äquivalenten Austausch die außereuropäischen Völker täglich um den ihnen geschichtlich zustehenden Anteil an dem hieraus erwachsenden Reichtum.“ (S. 102)

Kurz – der ganze Kapitalismus ist die Entartung einer eigentlich gebotenen und im ‚Wert‘ objektivierten Verteilungsgerechtigkeit.

Der bürgerliche Staat: eine Perversion von Volksherrschaft

Für diese Entartung einer vorgestellten guten Geldwirtschaft zur Räuberei kennt Dieterich auch einen Schuldigen: Die falschen Nutznießer werden politisch nicht an ihrem Wirken gehindert, sondern mit ihrem Unrecht ins Recht gesetzt:

„Die formal-repräsentative Demokratie legalisiert die Expropriationsmechanismen des gesellschaftlichen Reichtums in der Chrematistik.“ (S. 46)

Denn auch bei der Herrschaft geht es nicht mit rechten Dingen zu: Die Demokratie ist nicht das, was sie eigentlich ihrem Wesen nach sein sollte, eine gerechte Herrschaft nämlich, sondern ebenfalls eine Entartung:

„Die Abgeordneten der bürgerlichen Demokratie repräsentieren nicht diejenigen, von denen sie ihr Mandat bekommen, sondern substituieren sie. Gewählt, dem Volk zu dienen, dienen sie nur zwei Herren: den Eliten und ihren eigenen Interessen. Häufig pervertieren die bürgerlichen Wahlsysteme sogar die formalen Aspekte der Repräsentationsidee.“ (S. 46)

Schon wieder konfrontiert Dieterich nur seine Idee einer guten Herrschaft, die dazu da wäre, Verteilungsgerechtigkeit zu organisieren, mit der Realität demokratischen Regierens – und ist abgrundtief enttäuscht. Seine Achtung vor der Demokratie ist so hoch, dass er gar nicht merkt, dass die ‚Substitution‘ des politischen Willens derer, die als Wähler der Herrschaft in Gestalt ihrer Repräsentanten zustimmen, gerade der Witz an ihrer Repräsentation ist. Dass das Gemeinwohl in der Förderung des privaten Geldreichtums besteht, von dessen Mehrung auch die Staatsgewalt lebt, das hält er schon wieder für einen einzigen Verstoß gegen eine ‚wirkliche‘ Herrschaft des Volkes – das ist die, die ihm im Kopf rumgeistert. Die Herrschaft, der die wählenden Bürger laufend ihr Plazet geben, kann das Volk gar nicht wollen. Wenn die politischen Schutzpatrone der Herren über die unmoralischen Preise dann doch immer gewählt werden, dann äußert sich da also kein Volkswille, sondern

„es regieren innerhalb des Parlaments die verlängerten Arme der ökonomischen Elite sowie die ideologische wie materielle Korruption; außerhalb dominiert das ‚Wahrnehmungsmanagement‘, die ‚Fabrikation des Konsenses‘ und die systematische Idiotisierung über die transnationalen Oligopole der Massenindoktrinierung (Medien) und das Opium des Konsumismus.“ (S. 48)

Von einer Demokratie, wie Dieterich sie sich vorstellt, kann das Volk, wie er es sich zurechtdenkt, nur durch Manipulation und materielle Bestechung, Konsumismus, ferngehalten werden, was sicher bei denen, die unter Hunger, Armut und Ausbeutung leiden, besonders gut funktioniert.

Der „historische Sozialismus“: auch nicht gerecht

Im System des realen Sozialismus hat Dieterich ein politökonomisches Unternehmen vor sich, das sich tatsächlich programmatisch genau die Aufgabe gestellt hat, an der, Dieterich zufolge, die beiden Wege der Evolution gescheitert sind, nämlich: die Ausbeutung und mit der auch alle anderen Übel zu beseitigen, an denen die moderne Menschheit laboriert. Dabei haben sich die Experten dieses verflossenen Systems bei ihrem Unterfangen einer gründlichen Weltverbesserung mit eben den politökonomischen Größen herumgeschlagen, an denen Dieterich seine ganze Kapitalismuskritik festmacht: Dem Elend, das auch sie schon als Versagen des Kapitalismus eingeordnet haben, wollten die regierenden Realsozialisten durch eine bewusste Anwendung des Wertgesetzes beikommen und haben mit ihrem Programm, mit Geldgrößen und betrieblichen Kosten- und Ertragsrechnungen auf Basis staatlicher Preisfestsetzungen eine planmäßige Ökonomie aufzuziehen, lauter gegensätzliche Rechnungen in die Welt und ins Recht gesetzt. Dass dabei nicht viel Gutes herausgekommen ist, will Dieterich gemerkt haben; Gründe interessieren ihn aber auch da nicht weiter. Seiner Diagnose zufolge hat der „Sozialismus des 20. Jahrhunderts“ genauso versagt wie der Kapitalismus, insofern auch er es nicht zur richtigen Gleichung von ‚Wert‘ und ‚Preis‘ gebracht hat:

„Die Volkswirtschaften der sozialistischen Staaten basierten auf Kosten-Preis-Berechnungen in monetären Einheiten, die im allgemeinen an den Weltmarktpreisen orientiert waren oder an sozialistischen Direktiven der Regierung.“ (S. 78) „Die Löhne entsprachen nicht den von den Arbeitern den Gütern hinzugefügten Werten.“ (S. 81)

Eine Ursache für diese Fehlleistung deutet Dieterich immerhin an:

„Für die Parteiführung dieser Systeme wurde die Realisierung des alten Traums sozialer Sicherheit der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zur ideologischen Zwangsjacke. Soziale Sicherheit im Austausch gegen reale Demokratie.“ (S. 68)

Auch die damaligen Sozialisten wollten also – Dieterich hätte sich im Ansatz darin wiedererkennen können – die Welt verbessern, nämlich den Traum von sozialer Sicherheit in die Tat umsetzen; dafür haben sie das Staatsanliegen einer volksdienlichen Reichtumsproduktion mit der Festlegung von gerechten Preisen und Löhnen und geldmäßigen Betriebsvorgaben verfolgt. Aber die Absurdität, das Privateigentum abzuschaffen, um dann staatlich den Wert, das per Arbeitsaufwand erworbene Anrecht auf Reichtum, zum Zweck und Maß aller materiellen Bemühungen und Bedürfnisse zu erheben, das ist es gerade nicht, was Dieterich zu kritisieren hat. Er sieht das umgekehrt: Die Wertbestimmung haben sie nicht radikal genug zum Zuge kommen lassen. Und als Grund dafür fällt ihm – wie noch jedem Antikommunisten – sogleich das Stichwort Zwangsjacke ein, die sich die vormaligen Sozialisten ausgerechnet mit ihren sozialen Absichten angelegt hätten; das Stichwort verbürgt ihm die ideologische Borniertheit der damaligen Weltverbesserer. Das Anliegen, das die in ihrer Verbohrtheit haben durchsetzen wollen, erledigt er mit der albernen liberalen Uralt-Ideologie, soziale Sicherheit wäre letztlich nur um den Preis bürgerlicher Mündigkeit zu haben.

Die neue politische Ökonomie: Gerechtigkeit als Produktionsweise

All das soll der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf alle Fälle besser machen: vermittels einer demokratisch gelenkten Äquivalenzökonomie. In diesem Modell verschwinden alle Ungerechtigkeiten, wenn jeder mit seinem Lohn exakt das kriegt, was er zum Reichtum der Gesellschaft beisteuert:

„Dann entspricht der Lohn der aufgewendeten Arbeitszeit ... Die Preise entsprechen den Werten und sie enthalten nichts anderes als den vollen Gegenwert der in den Gütern verkörperten Arbeit. Damit schließt sich der Kreislauf der Wirtschaft in Werten statt in Preisen.“ (S. 99)

Mit dem ausbeuterischen Lohnsystem des industriellen Kapitalismus hätte ein solcher geschlossener Kreislauf in der Tat nichts mehr zu tun. Voll gewahrt bliebe allerdings die eine fundamentale Verrücktheit des alten Systems: Die gesellschaftliche Arbeitsteilung kommt nicht über die Sachzusammenhänge zwischen Produktionsprozessen zustande, die für eine optimale arbeitsparende Bedürfnisbefriedigung zweckmäßig eingerichtet werden, sondern über einen Tausch, in den die geleistete Arbeit unter vollständiger Abstraktion von jedem konkreten Inhalt als bestimmende Größe eingeht. Eine Versorgung mit Gebrauchsgütern findet nur statt in strikter Abhängigkeit von Ansprüchen auf ein Quantum fremder Arbeit, die man sich durch ein genau gleich großes Quantum eigener Arbeit zu erwerben hat; Arbeit wird nicht nach Maßgabe des gesellschaftlichen Bedarfs an nützlichen Gütern verrichtet, sondern um damit ein Stück ökonomischer Zugriffsmacht, einen Rechtsanspruch gegen alle anderen zu erwerben. Von dem einen absurden Grundprinzip der Marktwirtschaft kommt der Konstrukteur eines neuen Evolutionswegs der Menschheit also nicht los: Ökonomie funktioniert auch in seiner Vorstellung nur auf der Basis individueller Verfügungsgewalt über fremde Dienste, erworben durch puren Arbeitsaufwand, und einer Arbeit, deren Nutzen durch nichts als den geleisteten Aufwand definiert ist. Dabei überlässt Dieterich freilich, er ist ja Sozialist, die Abstraktion, die die produktive Tätigkeit der Leute auf ein pures Quantum reduziert, nicht der Messlatte des Geldes; schon gar nicht des Geldes, das kapitalistische Eigentümer mit der Benutzung fremder Arbeit als Quelle vermehrten Eigentums am Markt verdienen. In freier Anknüpfung an Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert, wonach die Übel der Lohnarbeit mit der Zuteilung von Arbeitsstundenzetteln als Kaufmittel zu heilen wären, will Dieterich die Äquivalenz der verschiedenen Arbeiten allein an der aufgewandten Arbeitszeit messen; und das so strikt, wie die dümmsten Marx-Kritiker dessen Aussagen über Wert und Arbeit missverstanden haben, nämlich so, als ob Ungeschick und Langsamkeit beim Arbeiten ganz gute Bereicherungsmittel sein könnten:

„Dann entspricht der Lohn der aufgewendeten Arbeitszeit, unabhängig vom Lebensalter, vom Geschlecht, vom Familienstand, von der Hautfarbe, von der Staatsangehörigkeit, vom Wesen der Arbeit, von der körperlichen Anstrengung, von der Vorbildung, von der Beanspruchung, von der Fertigkeit, von der Berufserfahrung, von der persönlichen Hingabe an die Arbeit, unabhängig auch von der Schwere der Arbeit und deren gesundheitlichen Gefahren – kurz: Der Lohn entspricht der Arbeitszeit direkt und absolut.“ (S. 99)[2]

Nicht nur vom konkreten nützlichen Inhalt der Arbeit, auch vom Aufwand des einzelnen will Dieterich bei seinem äquivalenzökonomischen Regime über die gesellschaftliche Produktion definitiv nichts wissen. Immerhin geht er davon aus, dass der Sozialismus, wie er ihn sich vorstellt, die Produktivkräfte erbt, die das Kapital entwickelt und zu seinem Bereicherungsmittel gemacht hat:

„Bei dem heutigen Stand der Produktivkräfte steht außer Zweifel, dass die notwendige körperliche und intellektuelle Arbeit nur einen Bruchteil der Arbeitsfähigkeit und Arbeitszeit der erwerbstätigen Bevölkerung der Zukunft in Anspruch nehmen wird. Nur unter der Bedingung der Freisetzung von notwendiger Arbeit ist die postkapitalistische Wirtschaftsordnung überhaupt denkbar.“ (S. 94)

Eigenartigerweise denkt Dieterich seine postkapitalistische Wirtschaftsordnung aber doch wieder so, dass von einer Freisetzung der Arbeiter von notwendiger Arbeit überhaupt nicht die Rede sein kann; vielmehr muss auch dann der individuell erbrachte Arbeitsaufwand, in Stunden gemessen, das Lebensnotwendige verfügbar machen; und das Quantum unbefriedigter Bedürfnisse, der Mangel also, ist allemal groß genug, um den Leuten in einer fürs System höchst produktiven Weise Lust auf Arbeit zu machen:

„Auch die äquivalente Ökonomie gibt von der Einkommensseite her echten Tätigkeits-Anreiz; denn jeder erhöht sein Anrecht auf Güter und Dienstleistungen durch seine eigene Tätigkeit. Und da er es nur auf diese Weise erhöhen kann, ist der materielle Arbeitsanreiz größer als in der nicht-äquivalenten Ökonomie .“ (S. 105)

So kommen Gerechtigkeit und Produktivkraft aufs Schönste überein, besser noch als in den alten Entlohnungssystemen des Kapitalismus und erst recht des ‚sozialistischen Wettbewerbs‘ in der Hebelwirtschaft des einstigen Ostblocks: Wenn der Reichtum der armen Leute in nichts anderem besteht als in Zeitgutschriften, die ein Quantum Zugriffsmacht auf produzierte Güter begründen; wenn ihr ganzes ökonomisches Interesse völlig darin aufgeht, solche Gutschriften zu ergattern: dann verschleißen sie sich ganz von selbst. Was im real existierenden Kapitalismus das Kapital erzwingt, indem es die abstrakte Arbeit als Reichtumsquelle ausbeutet, das bewirkt in Dieterichs brutaler Utopie das Äquivalenzprinzip: Unter dem Regime der reinen Tauschgerechtigkeit beuten die Leute gerne und freiwillig sich selber aus. Dafür haben sie, was ihnen laut Dieterich am meisten fehlt: Lohngerechtigkeit.

Freilich bewirkt eine bedingungslos gerechte Lohnzumessung noch nicht den sachlichen, gebrauchswertmäßigen Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktion, den im realen Kapitalismus die Ausbeutung der Arbeit für den Gelderlös am Markt, die Konkurrenz um Profit und die Anarchie der Märkte zustande bringen. Damit sich der Kreislauf der Wirtschaft in Werten statt in Preisen tatsächlich schließt, muss zum Regime der gerechten Entlohnung schon noch alles das hinzutreten, wovon Dieterich im Interesse der reinen Äquivalenz der geleisteten Arbeitszeiten gründlichst abstrahiert: der Inhalt der Teilarbeiten, ihr arbeitsteiliger Zusammenhang, ihre Verknüpfung zu einem System der Bedürfnisbefriedigung... Zwischen der abstrakten quantitativen Definition des Reichtums durch die aufgewandte Arbeitszeit und dem materiellen Reichtum, der konkreten Arbeit, all dem, was Dieterich sorgfältig weggedacht hat, um der Gerechtigkeit der Wertbestimmung zur Geltung zu verhalfen, besteht nicht nur theoretisch eine gewisse Inkommensurabilität: Am Kapitalismus wäre zu lernen, wie brutal es zugeht – von wegen drängende Probleme der Menschheit! –, wenn konkrete Arbeit und Bedürfnisbefriedigung komplett unter die Mehrung des abstrakten Reichtums subsumiert sind. An dem anderen großen Weg der Evolution, dem Sozialismus des 20. Jahrhunderts, hätte man lernen können, wie viel gut gemeinter Irrsinn bei dem Versuch herauskommt, beides planmäßig und in einem arbeiterfreundlichen Sinn zusammenzubringen. Dieterich dagegen sieht da gar kein Problem. Er denkt sich die Sache einfach so, dass die Arbeitszeiten, die jedem einzelnen seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zumessen, schon so ungefähr dasselbe sind wie die Arbeitsquanta, die auf die verschiedenen Teilbereiche der gesellschaftlichen Produktion verteilt werden müssen, damit die Gesellschaft davon leben kann – und die Steigerung der Produktivität stellt sich dann irgendwie auch ein.

Gewiss, ein wenig muss da schon herumgeschoben werden. Ein wenig muss dann doch vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Arbeitszeiten abgewichen und eine unterschiedliche Bewertung nach ihrem materiellen Nutzen eingeführt werden.[3] Es müssen auch öffentliche Güter zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme durch das per Arbeit erworbene Recht auf ein Äquivalent fremder Arbeit nicht zu regeln ist: Krankenversorgung, Bildung, sogar den Unterhalt von Kasernen samt Soldaten will Dieterich in seiner Äquivalenzökonomie unterbringen. Aus dem verrückten Ideal, den materiellen Lebensprozess einer ganzen Gesellschaft mit einem planmäßigen Regime über abstrakte Arbeit zu organisieren und zu regeln, einem Regime, das die allein an der Arbeitszeit bemessene Gleichheit von geleistetem Beitrag und empfangenem Ertrag zur Planungsgrundlage macht, folgt ein unendlicher Wust von Abstimmungsproblemen und von Interessengegensätzen – notwendigerweise. Denn Gerechtigkeit bei der Zumessung von Zugriffsrechten ist ein für allemal kein Leitfaden für eine Produktion, die den konkreten Reichtum schafft, auf den jeder einzelne mit seinen Zugriffsrechten angewiesen ist; die Abstraktion von allen materiellen Unterschieden verschiedener Teilarbeiten gibt definitiv keine materiell vernünftige Arbeitsteilung her. Stattdessen ist Gerechtigkeit ein überpersönliches Gewaltverhältnis zur Regelung von Interessengegensätzen; und als solches erweist sie sich auch in Dieterichs Utopie: Wo Reichtum in individuell zugemessenen Zugriffsrechten besteht, da herrschen wechselseitiger Ausschluss von Bedarfsartikeln, wechselseitige Benutzungsverhältnisse, also alle Schönheiten der Konkurrenz, auch wenn der Erfinder der Äquivalenz-Idylle davon partout nichts wissen will. Und so viel ist sicher, dass sein goldener Grundsatz der gerechten Zuteilung sich nur in einer Hinsicht wirklich bewährt, nämlich in der Beschränkung individueller Bedürfnisse – im Kalkül mit dem wahren und gerecht zugemessenen Wert als Arbeitsanreiz rechnet Dieterich ja bereits mit dem Effekt.

Es ist also eine rechte Verrücktheit und ein ziemlich hartes Regime, was Dieterich in seiner Äquivalenzökonomie projektiert. Aber er meint es nur gut. Und in der Tat: Das große Menschheitsproblem, jenes einzige Problem aller Probleme, das der Menschheit das Leben schwer macht: die herrschende Ungerechtigkeit, damit hätte es ein Ende. Und zwar, da ist Dieterich nicht kleinlich, im Kleinen wie im ganz Großen:

„Wenn weltweit alle Waren auf Grund der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit ausgetauscht werden (womit dann für eine Lokomotive vielleicht nur noch 7.300 Sack Kaffee zu zahlen wären, nämlich so viele, wie die Arbeiter in Brasilien in der gleichen Zeit ernten, die zum Bau ihrer Lokomotive gebraucht wird), würde diese neue Preisrelation Naturprodukt/Industrieprodukt die notwendige wirtschaftliche Gleichberechtigung der Völker herbeiführen.“ (S. 101f)

Und damit wäre schlagartig auch allen Konflikten zwischen den Nationen der Boden entzogen...

Was im Großen wie im Kleinen an Problemen bleibt, das sind aus Sicht des Erfinders der neuen globalen Ökonomie auf Gerechtigkeitsbasis allerlei Planungs-, Bewertungs- und Abstimmungsfragen. Und die sind allesamt lösbar: Dem Nachweis widmet er seinen ganzen wissenschaftlichen Ehrgeiz und den größeren Teil seines epochemachenden Buches. Sein Konstrukt einer besseren Welt ist realistisch, sein sozialistisches Gerechtigkeitsmodell kein Fantasiegebilde! Wie jede Utopie, so kommt auch die seine lächerlich ‚konkret‘ daher, als bis ins letzte durchdachte, ausrechenbare und durchorganisierbare, eben fix und fertige Gegen-Welt zum Kapitalismus. So soll die Menschheit überzeugt werden, dass es geht, und zwar ganz leicht.

Und nicht nur das. Sozialismus geht nicht nur – heute, endlich, im 21. Jahrhundert –; er ist auch fällig. Erstens, weil alles andere letztlich gar nicht funktioniert – das bescheinigt der Mann in vielen Bildern und Gleichnissen dem Imperialismus des 21. Jahrhunderts. Zweitens, weil der Weg der Evolution der Menschheit genau darauf als sein Telos zuläuft: Viele Seiten seines Buches verschwendet Dieterich auf den Beweis, dass das, was er sich als bessere Welt ausgedacht hat, in Wahrheit genau das ist, was diese Welt selber im Programm hat – auch wenn es damit noch etwas dauern kann ...

Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf dem Vormarsch: Weltverbesserungsidealismus – eine realistische Perspektive für alle fortschrittlichen Menschen

– garantiert machbar!

Dieterich hat nicht zufällig ‚Gerechtigkeit‘ im systemischen Gegensatz von ‚subjektiven‘ Preisen und ‚objektiven‘ Werten verortet. Sozialismus besteht demnach darin, der Gleichung von Gerechtigkeit und Objektivität Genüge zu tun – d.h. den lebendigen und vergegenständlichten Arbeitszeitaufwand exakt zu bestimmen. Wenn man Sozialismus als Sammelsurium von Aufwands- und Geldgrößen versteht, Bedarfsplanung und individuelle Zuteilung in ein reines Rechenproblem verwandelt, dann erschließt sich zwanglos: Das eigentlich brennende Problem für den Übergang zum Sozialismus ist nicht die Abschaffung der ökonomischen Macht des Privateigentums, die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Staatsgewalt und den imperialistischen Agenturen des globalen Kapitalismus. Es ist buchhalterischer Art:

„Der Sozialismus ist heutzutage ein essenzielles Problem der komplexen Informatik. Deswegen besteht der transzendierende Schritt in der Stabilisierung einer sozialistischen Buchhaltung (Wert) gegenüber der kapitalistischen Buchhaltung (Preis).“ (Interview mit Dieterich, rebelión, 2.1.07)

Der Versicherung, dass eine andere Buchhaltung glatt geht, widmet Dieterich einige Umstände und ein schlagendes Argument: Das geht wirklich, Arbeitszeit ist messbar; und das eigentlich erst heute so richtig; der Fortschritt hat dafür endlich das passende Instrument zur Verfügung gestellt: den Computer samt einer fortgeschrittenen Mathematik.[4] Das technische Instrument preist er unentwegt als Generalschlüssel für die Lösung der Aufgaben, die überhaupt nur seinem Wahn einer gerechten Zuteilung entspringen:

„Der Übergang in die äquivalente Ökonomie wird erleichtert, gefördert durch die schnelle Computerisierung von Wirtschaft, Verwaltung und privater Lebensentfaltung. Die weltweite Ermittlung des Bedarfs, die Lenkung der Produktion und die Verteilung von Gütern wäre vom Computer bereits heute zu bewältigen. ‚Computer-Sozialismus‘ nannte der Erfinder des Computers, Professor Konrad Zuse, diese Wirtschaftsordnung, wenn sie das Äquivalenz-Prinzip mit der Arbeitswertlehre verbindet.“ (S. 101)

Die Erfindung, die dem digitalen Zeitalter seinen Namen gegeben hat, ist nicht bloß ein unschlagbares Hilfsmittel, sie ist überhaupt der entscheidende Schritt auf dem Weg in eine globale lichtere sozialistische Zukunft.[5]

Und was der Computer nicht gleich regelt, das regelt sich alternativ herrschaftlich. Dass in seinem verrückten Modell einer Welt-Gesellschaft zugleich konkurrierender und kooperierender Produzenten laufend zwischen gegensätzlichen individuellen und kollektiven Ansprüchen im Sinne einer vorgestellten Gerechtigkeit entschieden, also nicht gemessen, sondern bewertet werden muss – ein möglicher Gefahrenpunkt von Korruption und Ungerechtigkeiten –, das sind Probleme in Dieterichs Sozialismusmodell der Zukunft, die er nicht nur mit aller Selbstverständlichkeit vor seinen Lesern ausbreitet. Für die hat er auch eine überzeugend realistische Lösungen parat: Alles kein Problem bei entsprechender demokratischer Kontrolle (S. 152)!

„Mögliche Konflikte werden durch aus Bürgerinnen und Bürgern zusammengesetzte ‚Wert(Arbeits-)Tribunale‘ entschieden.“ (Dieterich u.a., Übergangsprogramm zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika, veröffentlicht 8.10.08)

Damit Gerechtigkeit nicht einfach über die Köpfe der konkurrierenden Interessen hinweg beschlossen wird, dürfen also einfach alle Bürger an der jeweiligen Entscheidung über die widerstreitenden Ansprüche aktiv teilnehmen, um sich dann dem vom Tribunal mehrheitlich Beschlossenen zu beugen, das durch ihre Mitbestimmung ja ausreichend legitimiert ist. Dafür gibt es eine Herrschaft, die eigentlich kein solche mehr ist, weil sie irgendwie von allen gemeinsam ausgeübt wird, das positive Spiegelbild seiner Kritik an der entarteten bürgerlichen Demokratie und der Kommandowirtschaft des realen Sozialismus nämlich: die echte, partizipative Demokratie.

„In der partizipativen Demokratie wird das Teilhaberrecht an der Entscheidungsnahme weder konjunkturell-zeitlich beschränkt noch ausschließlich für die politische Sphäre gelten, sondern permanent und ausgedehnt auf alle Sphären sozialen Lebens, von den Fabriken und den Kasernen bis zu den Universitäten und Massenkommunikationsmitteln. Es handelt sich um das Ende der repräsentativen – in Wahrheit substitutiven – Demokratie und ihre Überwindung durch die direkte oder plebiszitäre Demokratie.“ (S. 118)

Im Näheren hat diese gute Herrschaft – so wie sie sich ein radikaler Anwalt einer Konsensbildung zwischen gegensätzlichen Interessen eben vorstellt – dann erst einmal alles, was eine Herrschaft so braucht, eine Verfassung und Steuern für allgemeine Aufgaben z. B., die dann von dem abgehen, was ein jeder für sich beanspruchen darf – von wegen also voller individueller Arbeitsertrag! –:

„Den Arbeitern und Arbeiterinnen wird das verfassungsmäßige Recht eingeräumt, den durch ihre Arbeit geschaffenen vollen Wert zu erhalten, abzüglich der gesellschaftlich notwendigen Sozialfonds (Gesundheitswesen, Erziehung, Neuinvestitionen etc.). Diese Abzüge können in Form von Steuern erhoben werden.“ (Dieterich u.a., Übergangsprogramm... )

Und überhaupt läuft im Sozialismus alles so ähnlich wie in der wirklichen Staatenwelt, bloß einfach umgekehrt:

Unten „wird es kleinste regionale Plan-Institutionen geben (vergleichbar Kommunen), darüber größere Regionen (vergleichbar Bezirken), noch größere Regionen (vergleichbar Staaten) und größte Regionen (Staatenbünden oder kontinentalen Zusammenschlüssen vergleichbar).“ (S. 104)

So einfach geht das also – von unten nach oben! Und außerdem hilft diesem schönen Instanzenweg eines weltumspannenden Beratungswesens dann wieder der Computer auf die Sprünge:

„Die operative Technologie für die Ausübung partizipativer Demokratie stellt kein Problem mehr dar. Es wurde durch das Internet gelöst.“ (S. 139)

Alles klar: Beratschlagen geht! Die Bürger können miteinander kommunizieren, also sind alle Konflikte kein Problem mehr.

– garantiert kein Umsturz!

Auch die Durchsetzung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts bereitet im Grunde keine großen praktischen Schwierigkeiten. Mit PC und Partizipation wird der Sozialismus nämlich nicht nur garantiert machbar; er erfordert nicht einmal einen wirklichen Bruch mit dem räuberischen Kapitalismus. Da kann Dieterich – im Verein mit gleichgesinnten sozialistischen Modellbauern – vorgestellte Zweifel ausräumen. Das Problem erledigt sich mit der Äquivalenzökonomie fast von selbst:

„Für die Verwirklichung des Äquivalenzprinzips hat die Eigentumsform der Produktionsmittel keine große Bedeutung. Mit dem Fortfall des Profits verliert das Privateigentum an Produktionsmitteln seine Grundlage, es hebt sich selbst auf.“ (S. 107)

So schlicht löst sich die ökonomische Macht des Eigentums in Luft auf, und die Herrschaft, die diese Macht sichert, gleich mit, wenn man sich vom kapitalistisch genutzten Eigentum die falschen Profiteure und von der Herrschaft die verselbstständigten Herrschaftsagenten wegdenkt. Bis es so weit ist, koexistieren chrematistische Marktwirtschaft und sozialistische Gemeinwirtschaft friedlich miteinander, und irgendwer rechnet mit Kommensurabilitätskalkülen ‚subjektive‘ Preise in ‚objektive‘ Werte um und umgekehrt:

„Dies ist im Grunde problemlos, da alle Ökonomie auf dem Produktivitätsfaktor ‚Zeit‘ beruht.“ (S. 159)

Selbst die Gegensätze zwischen reichen und armen Ländern verschwinden friedlich aus der Welt, wenn die Bürger in den Metropolen nur für den Sozialismus verzichten lernen und die Vorzüge des gesellschaftlichen Fortschritts und seiner freiwilligen Einführung erkennen:

„In den reichen Ländern würde die plötzliche Einführung des Äquivalenzprinzips voraussichtlich zu einer vorübergehenden Verschlechterung des heutigen materiellen Lebensstandards führen. Aber eine wachsende Anzahl von Menschen ist auch in diesen unseren Ländern überzeugt, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Mit der Verbreitung dieses Bewusstseins ist bei vielen Menschen die Bereitschaft verbunden, einer allmählichen Annäherung des Lebensstandards zuzustimmen. Erhöht wird diese Bereitschaft durch die Gewissheit, dass die einzige Alternative zu dieser freiwilligen Annäherung in der gewaltsamen Einführung des Äquivalenzprinzips durch die jetzt notleidenden Dreiviertel der Menschheit besteht.“ (Gespräch zwischen H. Dieterich und A. Peters, junge welt, 9.1.98)

Zu guter Letzt löst sich mit diesem Ideal einer friedlichen Transformation der falschen Preise in die richtigen Werte dann auch die leidige Gewaltfrage in Wohlgefallen auf, und auch die in unserem Jahrhundert mit zunehmender Heftigkeit sich Bahn brechenden Revolutionen könnten gegenstandslos werden. (S. 103)

Da wird das angestrengte Bemühen, den neuen Sozialismus nicht bloß als bessere, sondern vor allem als realistische Alternative zur kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft und der dazugehörigen demokratischen Herrschaft vorstellig zu machen, einmal richtig reaktionär: Bloß am Kapitalismus nichts umschmeißen wollen, das ist unnötig, unmachbar und nur schädlich. Denn die gute Sache ist

– garantiert schon unaufhaltsam auf dem Vormarsch!

Als Beweis für sein Gerechtigkeitsanliegen kennt Dieterich, wie jeder Weltverbesserer, nämlich lauter höhere Instanzen und objektive Gesetzmäßigkeiten, die für dessen unausweichlichen Erfolg und damit für seine unbezweifelbare Güte bürgen.

Dafür spricht als erstes das allerallgemeinste Grundgesetz der Soziologie. Wenn man den Kapitalismus ganz abstrakt als eine Gesellschaft und diese, wie überhaupt alles in der Welt, als einen irgendwie funktionierenden Zusammenhang deutet, ein „System“, das – wodurch auch sonst! – durch seine ‚Teile‘ zusammengehalten wird, dann erschließt sich, so man will, zwanglos, dass es mit dem Kapitalismus längst nicht mehr so weitergehen kann:

„Das wirtschaftliche Subsystem einer Gesellschaft, zum Beispiel, ist dann an die maximale Grenze seines Existenzzyklus geraten, wenn es die grundlegenden Bedürfnisse der Staatsbürger nicht mehr befriedigen kann und somit dysfunktional für den Fortbestand des Systems in seiner Gesamtheit wird.“ (S. 33)

Mit der dümmsten soziologischen Tautologie – was nicht funktioniert, geht kaputt! – erschließt sich Dieterich Ausbeutung als untaugliches Element eines gesellschaftlichen Systemzusammenhalts: Ausbeutung geht langfristig nicht, daran geht der Kapitalismus zugrunde – eine aparte Kritik an Armut, Hunger und Unterdrückung. Und zugleich im soziologischen Gewand ein äußerst affirmatives Angebot: Der Sozialismus ist das einzige wirklich funktionierende System!

Wenn man sich einmal in der funktionalistischen Abstraktion vom Fortbestand eines Systems herumtreibt, dann braucht es kein Argument mehr, dann liefert eine alberne Analogie den zweiten schlagenden Beweis dafür, dass hier ein ehernes Gesetz waltet: Im Übergang zum Sozialismus verwirklicht sich ein Gesetz der Natur!

„Biologische Subsysteme, wie etwa der Verdauungstrakt eines Menschen geraten dann an das Ende ihres Existenzzyklus, wenn sie die Kapazität verlieren, zum Fortbestand des ihnen übergeordneten Systems noch etwas beizutragen.“ (S. 33)

Weil alles werden und vergehen muss, wird auch der Kapitalismus das Zeitliche segnen:

„So wie wir es im Atom, in einer Zelle, im Organismus beobachten können, ist alles, was in Natur und Gesellschaft existiert, vergänglich und vorübergehend (transitorisch).“ (S. 27)

Da, wie schon die alten Griechen wussten, ‚alles fließt‘, ist auch die Heraufkunft des Sozialismus unausweichlich:

„Die Zustandsänderung ist eine Gesetzmäßigkeit der Bewegung des Universums.“ (S. 29)

Konkreter gesprochen, geht es drittens auch weltgeschichtlich letztlich immer vorwärts. Wenn man die globale Herrschaft des Kapitalismus, die elende Lage der Massen in den Armenhäusern des Kapitalismus teleologisch sieht, dann erscheint das alles in einem anderen, rosigeren Licht. Man muss die Geschichte nur so abstrakt wie möglich anschauen, als „Menschheitsevolution“, die in allen Gesellschaften am Werk ist, dann erweisen sich ohne größeren argumentativen Aufwand Kapitalismus und realer Sozialismus als vergängliche Etappen einer welthistorischen Entwicklung, die es einfach noch nicht zur höchsten Stufe ihrer Entfaltung gebracht hat. Zugleich eröffnet sich damit die hoffnungsvolle Perspektive auf eine Besserung, die die Evolution der menschlichen Gattung längst auf die Tagesordnung gesetzt hat. Dieterich denkt da in Äonen:

„Wenn wir heute, an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend auf diese Epoche der hinter uns liegenden 5000 Jahre zurückblicken ...“ (S. 38)

Was sehen wir da? Es geht unaufhaltsam voran, auch wenn das mit dem Telos noch dauern kann:

„Der Übergang zur neuen Ökonomie wird voraussichtlich Jahrhunderte dauern.“ (Gespräch zwischen H. Dieterich und A. Peters, junge Welt, 9.1.1998)

Von den Opfern wird es zwar keiner mehr erleben, aber unausweichlich ist er, der Übergang in eine bessere „postbürgerliche Weltgesellschaft“.

Das ist materialistische Wissenschaft. Mit der sieht sich Dieterich schließlich, vierter Beweis für die Gültigkeit seiner Prophezeiung, im Einklang mit allen großen Wissenschaftlern: mit Newton, Darwin, Marx... Sie alle waren, egal auf welche Weise, der Evolution verpflichtet und haben so für Fortschritt im Reich der Wissenschaft gesorgt. Mit der Ahnenreihe ist Dieterichs sozialistische Geschichtsteleologie auch wissenschaftsgeschichtlich zur Genüge ausgewiesen.

Mit seiner vierfach bebilderten Fiktion einer gesetzmäßigen „Evolution“ hat der Mann die höchsten Höhen der Abstraktion erreicht, in denen er sich mindestens so wohl fühlt wie in den Niederungen volks- und betriebswirtschaftlicher Rechenfantasien. Da waltet nur noch ein hoffnungsstiftendes Gesetz, das beweist, dass seine Weltverbesserungsidee die eigentliche Wirklichkeit ist: der unaufhaltsame Fortschritt. Und der Beweis ist für Dieterich enorm wichtig. Denn ohne Gewissheit, dass diejenigen, die den Kampf gegen den Weltkapitalismus aufnehmen, sicher sein können, auf der richtigen Seite der weltgeschichtlichen Entwicklungsdynamik zu stehen (S. 24), hält er sein Anliegen für nicht vertretbar, sähe er seine Kritik ins Unrecht gesetzt – dass die Geschädigten der herrschenden Verhältnisse in ihrem kapitalistischen Alltag Grund genug haben, sich gegen das System aufzulehnen, das ist für ihn undenkbar. Der Anwalt einer guten Sache, die partout kein partikulares Anliegen sein soll, tut nichts ohne höheren Auftrag, ohne einen allumfassenden Auftraggeber und ohne vorgestellte Erfolgsgarantie.

– als guter Weltgeist unterwegs!

So durch die allerhöchsten anerkannten Instanzen – Geschichte, Natur, Vernunft – beglaubigt, befindet sich Dieterich mit seinem Fortschrittsprogramm also endlich ganz da, wo er unbedingt sein möchte: Er steht auf der richtigen Seite, verfolgt kein partikulares Interesse und keine kleinliche Kritik, sondern die Sache der Menschheit: das NHP (das Neue Historische Projekt) des Sozialismus, den Fortschritt als solchen. Da agieren keine Staaten, Kapitalisten, Lohnarbeiter oder sonst wer mehr, da kämpft in persona die gute gegen die schlechte Welt, das weltumspannende gattungsgeschichtliche Befreiungssubjekt stellt sich dem globalen elitär-reaktionären Herrschaftssubjekt entgegen. (S. 137)

Und wofür kämpft es dann, das Befreiungssubjekt? Oberflächlich betrachtet, für eine bessere Politökonomie:

„Die Ausbeutung von Menschen durch ihre Mitmenschen (=Aneignung fremder Arbeitsergebnisse, die den Wert der eigenen Arbeit übersteigen) ist vorüber, jeder Mensch erhält den vollen, von ihm den Gütern eingefügten oder in Leistungen erbrachten Wert.“ (S. 99)

Doch falsch liegt, wer hier bei „Wert“ an schnöden Reichtum denkt. Der volle Wert, um den es weltgeschichtlich geht, ist das rational-ethisch-ästhetische Subjekt (S. 120 und des öfteren) in uns allen.

Von der Utopie zur Wissenschaft – das war gestern. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts geht den umgekehrten Weg.

[1] Alle folgenden Zitate, soweit nicht anders angegeben, aus diesem Buch. Dieterich zitiert in seinem Buch immer wieder zustimmend über mehrere Seiten Arno Peters als Kronzeugen für seine Kritik am Kapitalismus und das Modell einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Auf eine gesonderte Kennzeichnung wird deshalb bei der Kritik verzichtet.

[2] Für dieses Programm eines gerechten Lohns beruft sich Dieterich nicht zuletzt auf Marx. Wieder einmal wird Marx damit eine „Arbeitswerttheorie“ abgelauscht, die angebliche Erkenntnis, dass ‚die Arbeit‘ Wert schafft, statt zur Kenntnis zu nehmen, dass Marx mit seinen Auskünften über wertschaffende Arbeit von der spezifisch gesellschaftlichen Qualität der Arbeit im Kapitalismus handelt und kritisiert, dass unter der Regie des Kapitals Arbeit auf abstrakte Arbeit, „Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv“ reduziert wird; dass der pure Arbeitsaufwand als Reichtumsquelle wirkt, und zwar in der Hand des Kapitalisten, der Arbeitskräfte anwendet. Und wieder einmal wird –als Fortentwicklung von Marx – mit der falschen Vorstellung von der Arbeit als Quelle allen Reichtums die Forderung nach dem gerechten Ertrag, dem ‚vollen Arbeitswert‘ zum Programm erhoben; ein Programm, das Marx und Engels immer wieder – von Proudhon bis zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie – als theoretisch grundverkehrte Kritik am Kapitalismus und praktisch verhängnisvolles Gegenprogramm gegen den Kampf zur Abschaffung der Lohnarbeit kritisiert haben. Offensichtlich ist die moralische Unart, dem Kapitalismus das Ideal einer (lohn-)gerechteren Welt zu entnehmen und als sozialistisches Gesellschaftsmodell entgegenzustellen, einfach nicht auszurotten.

[3] Die radikal gleiche Wertigkeit aller aufgewendeten Arbeitsmühe ist denn auch beileibe nicht das letzte Wort in Dieterichs Konstruktion gerechter Lohnverhältnisse. Im Gegenteil: Die Bewertung von Leistungsunterschieden im Hinblick auf Lohnanrechte, das ist überhaupt eine der vorgestellten großen Herausforderungen seiner ‚Äquivalenzökonomie‘. Dieterich denkt an alles, was sich im Kapitalismus an ‚Lohngerechtigkeit‘ über den Bedarf und die ökonomische Macht des Kapitals regelt. Z.B. stellen sich da so heiße Fragen wie die, wann eine höhere individuelle Produktivität des Beschäftigten ‚A‘ gegenüber dem Beschäftigten ‚B‘, bei gleicher Anzahl geleisteter Arbeitsstunden, eine höhere Gratifikation für ‚A‘ erlaubt ... welcher arbeitenden Gruppe würde man diesen Extrabonus abziehen, soll ein Ingenieur 1,8 oder 2,2 mal mehr verdienen als ein Mechaniker ... (S. 151f) Solche Probleme seiner Zukunftsgesellschaft beschäftigen Dieterich offenkundig viel mehr als die Frage, wie eigentlich der Produktivitätsfortschritt erreicht werden soll, der den Arbeitenden doch nur, in Dieterichs gerechter Welt, im wörtlichen Sinne ‚wertlose‘ Zeit beschert.

[4] In derselben Manier, mit der gewisse kritische Ökonomen früher umfangreiche Rechenmodelle entworfen haben, um die Profitrate bis hinters Komma genau auszurechnen, und gemeint haben, nur so wäre die kapitalistische Ausbeutung exakt und erst dadurch richtig glaubwürdig zu kritisieren, verwandelt Dieterich den Sozialismus in eine einzige riesengroße Rechenaufgabe zur Feststellung exakter Wertgrößen – und meint ausgerechnet damit der Ausbeutung verlässlich den Garaus zu machen. Und da hat er Erfreuliches zu melden. Der exemplarische Beweis, dass solche Berechnungen gehen, ist erbracht: Britische Autoren haben die Durchschnitts-Wertbestimmung für eine Stunde Arbeitszeit in Großbritannien im Jahre 1987 ausgerechnet, indem sie einfach das Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen minus Ersatzinvestitionen durch Beschäftigte und Jahresarbeitsstunden dividiert haben. Herausgekommen sind pro Stunde übrigens 7,33 Einheiten ‚Wertgeld‘ (Pfund Sterling). (S. 109) Das ist hochmathematischer Realismus! Auch was sonst noch für einen funktionierenden Sozialismus nötig ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Art Rechenaufgabe – leicht lösbar für einen Mann, der sich anheischig macht, den Klassencharakter oder Grad an demokratischem Humanismus von Gesellschaften zu messen (S. 66), und der auf alle Fälle das Niveau an erreichter Demokratie in einem komplexen sozialen System (DKMS) durch drei Größen oder Magnituden quantitativ erfassen und in einer Tabelle auflisten kann (S. 116, 125).

[5] Dass ohne Computer Sozialismus nicht geht, meint Dieterich so ernst, dass er dem realen Sozialismus, glatt zugutehält, er habe wegen der Unterentwicklung der kybernetischen Produktivkräfte letztlich gar nicht anders gekonnt, als vor der Aufgabe, sich zur ‚Äquivalenzökonomie‘ fortzuentwickeln, zu versagen: Es gab weder Computer noch Datenübertragungsnetze noch die fortgeschrittene Mathematik, welche für die Wertkalkulation eines Produktes in der Praxis notwendig sind. Das machte den Quantensprung des Systems aus dem realen Sozialismus in den wirklichen Sozialismus unmöglich. (S. 78) Deswegen kann auch in China, Kuba und Venezuela solange keine Äquivalenzökonomie aufgebaut werden, als die entsprechende Informatik-Logistik nicht existiert. (S. 143)